Mein Bruder. Er war zwar zumeist der Brave und ich der Schlimme, doch er war natürlich auch ein Bub der Wildnis und er turnte wie wir anderen Buben auf manchem Baum herum, auch er jagte den Fischen nach wie wir alle, wenn auch vielleicht nicht so oft wie der Adolf und ich, auch er ritt auf einer von meinem Vater selbst angefertigten Rodel im Winter über manche steile Wiese, auch ihn überschlug es dabei öfters wie uns alle, und natürlich saß auch er manchmal in einer der zwei abgestellten Kutschen, weil einer unserer Nachbarn früher ein herrschaftlicher Kutscher war. Herrliche Kutschen, verstaubt und von Spinnweben überzogen standen sie am Dachboden eines an unser Wohnhaus grenzenden Wirtschaftsgebäudes. Ebenso herrlich dieser Dachboden für uns Kinder und mit Vorliebe spielten wir hier Verstecken, tobten herum und setzten uns danach wieder müde in die Kutschen.
Eine große Liebe hatte mein Bruder auch. Keine der Nachbarmädels, nein, sein Herz schlug für unseren schwarzen Kater, mit einem weißen Fleck am Hals und weißen Pfoten. Eine große wunderschöne Katze, und wenn mein Bruder oder ich den Kater streichelten, dann schnurrte er besonders laut und drehte sich dazu wohlig auf den Rücken. Drei Geschichten von diesem Kater will ich hier erzählen, obwohl es sicherlich mehr zu erzählen gäbe. Und obwohl auch ich den Kater gerne mochte, war doch mein Bruder das eigentliche "Herrl" von ihm.
Es war Weihnachten, überall duftete es nach Weihrauch und Lebkuchen und im Herd prasselte das Feuer. Die Herdplatten glühten ebenso wie unsere Wangen und unsere Kinderaugen strahlten wie jedes Jahr, wenn wir, ein Ohr bereits an die Tür zum Schlafzimmer unserer Eltern gelegt, das Glöckchen läuten hörten, das uns signalisierte, dass das Christkind jetzt gekommen war. Der Weihnachtsmann war wohl unser Vater, denn die Mutter stand ja bei uns in der Küche. Mit leuchtenden Augen betraten wir diesen etwas kühleren Raum, in dem der Christbaum stand. Die Lichter der Kerzen am Christbaum spiegelten sich in unseren Kinderaugen, als wir wenig später mit unseren Eltern "Oh Tannenbaum", "Ihr Kinderlein, kommet" und zum Abschluss, bevor wir uns an die unter dem Baum liegenden Sachen heranmachen durften, "Stille Nacht, heilige Nacht" sangen.
Wir waren durchaus als arm zu bezeichnen, was irdische Güter betreffen mag. Geld verdiente mein Vater gerade soviel bei seiner tagtäglichen Schufterei, dass meine Mutter das Notwendigste an Nahrungsmitteln und die wichtigsten Gebrauchsgegenstände damit einkaufen konnte. Aber wir Kinder waren dennoch reich. Reich an Erlebnissen, reich an einer uns umgebenden wunderschönen Naturlandschaft, wir waren reich an Liebe eines uns umsorgenden Elternhauses und wir waren reich an Ehrfurcht vor einem möglichen Schöpfer und einer damit verbundenen christlichen Erziehung. Speziell zu Weihnachten oder zum Osterfest umwehte uns immer ein Hauch von Freude und Andacht, wie man das heute leider kaum noch irgendwo erleben kann. Es gab keine kostspieligen Geschenke und doch freuten wir uns über jedes Paar Fäustlinge, über jede Haube, über manchen Schipullover - alles selbstgestrickt von der Mutter, von Tanten oder der Großmutter und unsere Kinderaugen leuchteten, wenn wir ein Spielzeug unter dem Christbaum erspähten. Ein Holzzug mit Rädern, bunt bemalt, oder ein Schlitten, für dessen Herstellung mein Vater viele Stunden in seiner Werkstatt gestanden hatte. Er konnte drechseln, tischlern, schnitzen, basteln wie das früher die meisten Männer auf dem Lande konnten.
Der Heilige Abend war längst vorbei, doch unser Christbaum stand noch immer im Schlafzimmer meiner Eltern. Dort hatte er es kühl, da fielen die Nadeln nicht so schnell ab und dort störte er niemanden. An ihm hingen noch ein paar Kekse ebenso wie einige bunte Kugeln und auch etwas Engelhaar war um die Zweige geschwungen. Dazu das Glöckchen zum Läuten und ziemlich weit oben ein silbern glänzender Vogel, mit einem langen Schwanz.
"Da! Siehst du ihn?"
"Wen?"
"Den Mohrli. Schau!"
Wir trauten unseren Augen kaum, denn neben dem Vogel saß unser Kater im Geäst und blinzelte zu uns herab, kurz bevor der Baum kippte und wir Mühe hatten, den Christbaum wieder aufzustellen und all die Dinge wieder dort anzubringen, wo sie vormals waren. Unser Kater hatte es wohl auf den Vogel abgesehen und war dazu auf den Christbaum geklettert. Ganz offensichtlich hatte er eine Vorliebe für diese gefiederten Freunde und die vielen Blaumeisen, die Kohlmeisen, der Kleiber, manchmal die Gimpel und Grünlinge und wohl auch die zierliche Hopfmeise an unserem riesigen Vogelhaus mussten verdammt Acht geben, dass sie unser Kater nicht in seine Krallen bekam. Sosehr wir ihn auch stets schimpften, wenn er ihnen nachstellte. Doch er war eine Katze mit natürlichem Jagdinstinkt, da half all unser gutes Zureden nichts! Nicht nur einmal ließ mein Bruder die Federn eines dem Kater in die Fänge geratenen Vogels schnell irgendwohin verschwinden, damit sie meine Eltern nicht sehen konnten. Richtige Schandtaten durften wir Buben uns nicht erlauben, und auch der Kater genoss in dieser Hinsicht durchaus keine Narrenfreiheit, wie wir gleich sehen werden.
***
Unsere Bruthenne hatte fünf Eier ausgebrütet und laut gackernd bewachte sie diese gelben Knäuel, die auf Schritt und Tritt der Henne hinterherliefen. Doch eines Tages lag die Henne tot im Stall. Vielleicht hatte sie Rattengift aufgepickt, das der Nachbar manchmal an gesicherter Stelle streute, wie er stets behauptete. Scheinbar doch nicht allzu gut gesichert. Aber es kann ja durchaus auch etwas anderes schuld am Tod der Bruthenne gewesen sein.
Es war Frühjahr und der Winter war mit einigen Schneeschauern zurückgekehrt. Die Küken konnten jetzt nicht mehr unter das wärmende Federkleid der Bruthenne schlüpfen und so nahm sie meine Mutter mit in die Wohnung, setzte sie in einen Korb mit duftendem Heu und stellte die fünf Winzlinge ins Herdloch. Dorthin, wo für gewöhnlich Holz zum Trocknen unter den gemauerten Herd gelegt wurde. Fein säuberlich mit einem Tuch zugedeckt und mit einem Stück Karton einer zerlegten Schachtel von außen etwas abgeschirmt stand der Korb mit den gelben Piepsern im Herdloch. Mein Bruder war soeben von der Schule nach Hause gekommen, ich war ihm ein Stück entgegen gegangen und nachdem wir unsere schmutzigen Schuhe ausgezogen hatten, gingen wir in die Küche. Unsere Mutter war nirgends zu sehen, nur der Kater saß vor dem Herdloch und leckte sich das Maul.
Die Angelegenheit war schlimm. Für meinen Bruder und wohl zuvor bereits für die Küken und in weiterer Folge auch für unseren Kater. In den nächsten Tagen sah man meinen Bruder vergeblich nach ihm Ausschau halten, sosehr er auch nach ihm rief und ihn überall suchte. Natürlich half auch ich suchen, aber der Mohrli blieb wie vom Erdboden verschwunden.
***
Es gibt noch eine Geschichte von diesem Kater, die ich erzählen will. Auf der anderen Seite des Waaggrabens führte ein Weg hinauf zum Försterhaus, in dem der Oberförster mit seiner Gattin und seinen drei Kindern wohnte. In einem sehr schönen Haus, an dessen Vorderfront ein riesiges Hirschgeweih hing. Mich haben vor allem immer die vielen Gewehre im Inneren des Hauses fasziniert, gut verwahrt in einem Schrank, doch manchmal, wenn der Oberförster ein Gewehr daraus hervorholte oder eines wieder in den Schrank sperrte, da konnten wir Kinder einen Blick darauf machen.
Diesmal spielten der mit mir gleichaltrige Sohn Walter und ich im Wohnzimmer, seine etwas ältere Schwester Gerlinde saß auf einer Couch und las in einem Buch, nur mein Bruder Herbert und sein Freund Klaus spielten irgendwo im Freien vor dem Försterhaus. Plötzlich kam der Oberförster zur Tür herein, ging zum Schrank, sperrte diesen auf, nahm ein Gewehr heraus und dazu einige Patronen und murmelte: "Diese verdammten Katzenluder, immer hinter unseren Tauben her ...", und er eilte zur Tür hinaus. Walter und ich ließen alles liegen und stehen und gingen ebenfalls vors Haus. Einige Schritte vor der Haustür stand der Oberförster, die Flinte angelegt. Er zielte auf eine schwarze Katze, die in einiger Entfernung in der Wiese saß. Da tauchte mein Bruder hinter der Holzhütte auf, sah den Oberförster mit dem angelegten Gewehr, sah die Katze, auf die der Mann zielte und stürzte sich auf den Oberförster. Genau in dem Moment, als dieser abdrückte. Der Schuss ging daneben, die Katze machte einen gewaltigen Satz in die Luft und hetzte davon. Mein Bruder hatte seinem Kater wohl im letzten Augenblick das Leben gerettet.
Rund um dieses Försterhaus hatten wir Kinder wohl die allerschönsten Erlebnisse. Ob wir im Sommer hoch oben auf der Heufuhre saßen, wenn die Rösser mit einem Wagen die Heuernte zur Scheune zogen oder wir an anderen Tagen im nahen Wald in unseren selbsterrichteten Baumhäusern saßen, ein anderes Mal wieder in der Wildfütterung versteckt vergeblich auf Hirsche oder Rehe lauerten oder in der Tenne bereits zum x-ten Mal vom Dachfirst ins duftende Heu sprangen. Sehr gern spielten wir im Stall bei den Kühen, Schafen, Schweinen, Ziegen und Hühnern oder wir jagten die Enten durch den Teich oder stauten am nahen Bach das Wasser mit Steinen, Zweigen, Lehm und Moos zu einem Tümpel und vergnügten und bespritzten uns gegenseitig. Natürlich stellten wir dabei auch den Fischen nach und nicht selten landete der eine oder andere am Spieß. Bei einem zünftigen Lagerfeuer.