An den Tagen zuvor waren Unmengen von Schnee vom Himmel gesegelt und vor allem wir Kinder erfreuten uns an dieser weißen Pracht. Die anderen Kinder saßen alle in der Schule, ich war erst fünf Jahre alt und durfte deshalb zu Hause bleiben. Es war vielleicht elf Uhr und ich baute vor dem Haus einen Schneemann, als meine Mutter auftauchte und sagte, dass sie zum Einkaufen in den Ort gehen müsse und bis zum Mittagessen wieder hier sein würde. Ich sollte eigentlich mitkommen, doch ich weigerte mich und sagte, dass ich weiter an meinem Schneemann bauen wolle. Mir war ganz und gar nicht nach Mitgehen zumute, zumal wir etwa eine halbe Stunde vom Ort weg wohnten. Und wenn ich etwas nicht tun wollte, dann war es nicht ganz einfach, mich dafür zu begeistern. Das schaffte am ehesten mein Vater, aber nicht mit gutem Zureden, sondern schon eher mit handfesten Argumenten. Sonst kaum jemals wer! So war ich eben und es scheint, als hätte ich mir diese Eigenschaft bis heute erhalten.
Meine Mutter ging daher allein in den Ort, ich bastelte noch ein wenig am Schneemann herum, doch dann hatte ich genug davon und ich stapfte in den nahen Wald. Herrlich, so durch den Schnee zu waten. Dann sah ich ihn, da musste ich hinauf. Da war ich schließlich schon oft oben. Im Sommer, im Herbst und natürlich auch im Frühjahr. Doch jetzt im tiefverschneiten Winter schaffte ich es am Anfang nicht, auf diesen riesigen Steinhügel hinaufzukraxeln, der mitten im Wald stand. Immer wieder rutschte ich am Felsen ab, der viele Schnee musste zuerst weg. Doch irgendwann hatte ich es geschafft und ich schaute die vier, fünf Meter von oben hinunter. Triumphierend riss ich meine Hände in die Höhe, beinahe so, wie später immer, wenn ich irgendwo bei einem Schirennen Bestzeit gefahren war. Gejubelt hab ich immer gern und auch diesmal spürte ich dieses Gefühl des Siegens in mir. Ich hatte diesen Felsen besiegt, trotz aller Probleme. Und jetzt stand ich oben auf diesem schneebedeckten Steinhügel.
Normalerweise sind wir Buben immer wieder auf der gleichen Seite heruntergekraxelt und das wäre wohl auch diesmal wesentlich besser für mich gewesen. Aber gewissen Verlockungen hab ich eben niemals widerstehen können und wenn etwas mein besonderes Interesse erregte, dann musste ich ganz einfach ran an die Sache. Später waren es zumeist diese Wesen mit kirschroten Lippen und einem verführerischen Lächeln. Diesmal lockte mich der Sprung hinab und der damit verbundene Angstschauer, der mir beim Gedanken daran über den Rücken jagte. Sollte ich wirklich? Ich ging an den Rand des Steines, schaute die paar Meter hinunter, überlegte kurz, dachte daran, wie oft ich ja schon von irgendwo in den Schnee gehüpft war und sprang.
"Hilfe! So helft mir doch! Hilfe!"
Laut hallten meine Rufe durch den Winterwald. Seit etlichen Minuten steckte ich bis zum Hals im Schnee und konnte mich auch mit noch so viel Anstrengung nicht befreien. Wie einbetoniert war mein Körper, denn der Schnee unter dem Felsen war nass und schwer und ich konnte mich tatsächlich keinen Millimeter bewegen. Durch den Pulverschnee am oberen Rand war ich durchgesprungen und nur noch meine Haube ragte aus dem Schneeloch. Mein Körper steckte tief in diesem Feuchtschnee, ich geriet immer mehr in Panik und hatte Angst, zu ersticken. Doch noch bekam ich Luft und irgendwie gelang es mir, den Kopf vom Schnee freizubekommen, weil ich ihn immer wieder schüttelte. Tränen rannen bereits über meine Wangen und die Zähne klapperten in meinem Mund wegen der Kälte und ich fühlte mich elendiglich.
Da kam er dahergestapft. Mein Bruder hatte mich auf dem Nachhauseweg von der Schule rufen gehört und kopfschüttelnd stand er wenig später vor mir.
"Du spinnst wohl, von da oben in den Schnee zu hüpfen!"
Er schüttelte den Kopf und sagte kaum hörbar: "So ein Spinner!" Dann etwas mürrisch: "Ich hol eine Schaufel, so bring ich dich da nie heraus!"
Öfter als uns beiden wahrscheinlich lieb war stritten sich mein Bruder und ich wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, aber diesmal hätte ich ihn am liebsten abgebusselt, und als er mich mit der Schaufel endlich aus den Schneemassen befreit hatte, klopfte ich ihm auf die Schulter und sagte: "Danke!" Hoffentlich. Ganz sicher bin ich mir aber nicht.
***
Und so wie eben alles einmal zu Ende geht, auch die schönste Zeit im Leben zu Ende geht wie ein wunderschöner Sommertag, wenn sich die Sonne nach und nach hinabneigt und das Tageslicht dem aufkommenden Dunkel der Nacht weichen muss, genau so ging auch für mich diese unbeschwerte Kleinkindzeit zuende, und ich war noch nicht einmal sechs Jahre alt, als ich bereits für vier, fünf Stunden in der Schule hocken musste. Ruhig, brav, diszipliniert. Allzu brav saß ich jedoch höchst selten in der Schulbank und alle Lehrerinnen oder Lehrer haben sich wohl ihr Geld immer redlich verdient, sofern sie mich in ihrem Klassenzimmer sitzen hatten. Dennoch bin ich nicht ungern dorthin gegangen, wohin eben alle Kinder bei uns im schulpflichtigen Alter gehen müssen, ob sie nun wollen oder nicht. Denn es gab auch in der Schule immer wieder einige nette Erlebnisse und vor allem interessierten mich die Wesen mit den etwas längeren Haaren, die so ganz anders waren als wir Buben.
Eine davon hatte einen wunderschön geflochtenen Zopf. Die lächelte mich von der ersten Stunde meines Schüler-Daseins immer ganz besonders lieb an. Irgendwie passte da wohl die Chemie zwischen uns total. Oder war sie womöglich ein Sonntagskind wie mein Freund Adolf? Könnte durchaus so gewesen sein. Leider war mir nur ein Jahr in ihrer Nähe vergönnt, denn schon sehr bald trennten sich unsere Wege und ich hab sie niemals wieder im Leben gesehen ...