Berge - darunter stellt man sich gewaltige Felsriesen vor mit steilen Wänden und blankem Fels. Die gab es natürlich auch in unserem Gebirgs-Tal. Den Lugauer zum Beispiel, einen Bergriesen mit zwei Gipfeln und von einer Seite sieht er tatsächlich aus wie das Matterhorn. Darum sein Zweitname "Steirisches Matterhorn". Dahinter gleich die wuchtigen Gesäuseberge, das Hochtor, die Planspitze, den Admonter Reichenstein. Um nur einige zu nennen, auf denen schon mancher Kletterer sein Leben ausgehaucht hat und die Felswand mit einem Aufschrei hinuntergestürzt ist.
Auch in Radmer liegen etliche abgestürzte Bergsteiger auf dem Friedhof begraben. Wesentlich mehr Verunglückte liegen allerdings auf dem Bergsteigerfriedhof in Johnsbach, einem Parallel-Tal von Radmer. Zumeist junge Menschen, die in der Blüte ihres Lebens durch einen Wetterumsturz, durch Steinschlag, schlechte Ausrüstung, zu viel Wagemut oder durch zu wenig Bergerfahrung in Bergnot gekommen und bei der Besteigung der Gesäuse-Berge in die Tiefe gestürzt sind. Jetzt ruhen sie in der kühlen Erde und nur noch selten brennt eine Kerze auf diesen Gräbern.
Auf der anderen Seite des Radmer-Tals gibt es den Hochkogel mit dem Kaiserschild dahinter. Kahle Bergriesen, alle aus Kalkgestein. Doch in der Hinterradmer, wo das Tal zuende ist und die Straße aufhört, da gibt es diese sanften Berghügel mit allerlei Berggras und den herrlichsten Bergblumen. An die 2000 Meter hoch und auch mit Gipfelkreuzen an den höchsten Stellen. In den steilen Berghängen weiden Gamsrudel, es gibt eine Vielzahl von Murmeltieren, die laut pfeifen, wenn Gefahr naht, und mancher Steinadler gleitet lautlos und nach Beute spähend über dieses mit Gras bewachsene Urgestein.
Wer Mut hat und sich in die steilen Wände wagt, dem leuchtet das Edelweiß entgegen, wenn es seine Köpfe im Aufwind eines Sommertages zart bewegt. Dann wieder riecht es nach Speik, und ich kann mich noch gut erinnern, dass meine Eltern diese Kräuter immer in die Kästen gelegt haben, zum Gewand, um die Motten abzuhalten. Am schönsten leuchten die Kohlröserl aus dem Grün, von dunkelrot bis hellrot blühen sie versteckt in den steilen Hängen. Wo diese Hänge in Kare übergehen überziehen grüne Latschenkiefer die Landschaft, und in den Sommermonaten leuchtet rot der Almrausch, die sogenannte Alpenrose, über die Hänge. In diesen Karen sind die Wiesen flacher, da gibt es zahlreiche Mulden, in denen sich das Wasser im Sonnenlicht spiegelt, und in diesen Teichen und Pfützen suhlen sich die Hirsche, daraus trinken auch die Gemsen, und manchmal konnten wir Molche darin sehen oder Kaulquappen, aus denen schon sehr bald Frösche wurden, die munter durchs Gras hüpften und für manchen Kolkraben eine köstliche Mahlzeit abgaben.
In diesen Karen stehen die Almen, dort weidet das Jungvieh und die Ochsen liegen träge im Schatten der Latschen, während die Ziegen und Schafe etwas weiter weg oft in beängstigend steilen Hängen herumklettern. Munter plätschert manches Bächlein auf seinem Weg ins Tal und Schmetterlinge flattern von Bergblume zu Bergblume. Auch summen dicke Hummeln von Blüte zu Blüte und es gibt Stellen mit einer Unzahl von Schwarzbeeren, wie wir die Heidelbeeren nennen. Wenn wir Kinder allzu eifrig daran naschten, dann sahen wir aus wie Indianer, die sich ihre Gesichter auf dem Kriegspfad beschmiert hatten. Diese schwarz-blauen Beeren schmeckten herrlich und den Durst stillten wir uns mit dem Wasser, das aus mancher Quelle hervorsprudelte. Eiskalt und kristallklar.
Wer irgendwann einmal in solchen Paradiesen seine Wanderschuhe ausgelüftet hat, der weiß, wovon ich spreche, wer diese Naturschönheiten nicht kennt, dem kann ich sie mit noch so vielen Worten nicht einmal halb so schön schildern, wie sie tatsächlich sind.
In dieser Gegend waren wir unterwegs, und ich hatte seit meiner Kindheit ein echtes Problem: Ich fürchtete mich vor Ziegenböcken und auch vor Stieren, denn ich hatte mit beiden schon eher ungute Erlebnisse hinter mir. Unser Bock in Hieflau hatte mich einmal mit seinen gewaltigen Hörnern wuchtig zu Boden gestoßen, weil ich Dreikäsehoch die Gefahr nicht kannte und ihm mit einem abgerissenen Haselnuss-Stock vielleicht doch um die Spur zu lange vor dem Schädel herumgefuchtelt hab. Damit war er womöglich nicht ganz einverstanden gewesen, denn plötzlich erhob er sich auf seine Hinterbeine und dann wurde mir bereits schwarz vor den Augen. Er hatte getroffen. Zum Glück hab ich meine Arme schützend vor mein Gesicht gehalten und zum Glück war der Adolf in meiner Nähe, der hat mich aus dem Gefahrenbereich weggezerrt. Seit dieser Zeit hatte ich das Problem mit größeren Böcken, und wenn es irgendwie möglich war, ging ich diesen stinkenden Burschen aus dem Weg.
Heute waren wir auf dem Weg übers Antoniusmarterl hinunter in die Seekar-Alm. Meine Eltern, mein Bruder, unsere Cousinen und ich. Und auf dieser Alm wimmelte es nur so vor Ziegen und Schafen und natürlich waren auch Böcke darunter. Na ja, wir werden sehen, dachte ich mir beim Abstieg in die Alm und ich verspürte plötzlich ein mulmiges Gefühl in der Bauchgegend.
Wir näherten uns einem Latschenfeld und etwa hundert Meter vor uns sah ich sie stehen. Etliche Geißen und auch einen riesigen Ziegenbock, den konnte man übrigens auch schon einigermaßen gut riechen. Mein Vater ging voran, die anderen hinten drein, ich wurde langsamer und langsamer, meine Schritte kleiner und kleiner. Dann überlegte ich es mir. An diesem Riesenbock brachte mich keiner vorbei. Schon gar nicht, wenn es nicht unbedingt sein musste. Lieber nahm ich das Klettern durch die Latschen in Kauf und schon war ich im dichten Latschengewächs verschwunden. Manchmal kletterte ich über diese etwa mannshohen Äste, dann wieder zwängte ich meinen Bubenkörper zwischendurch, indem ich die harzenden Zweige auseinander drückte, hin und wieder musste ich sogar auf allen Vieren unten durchschlüpfen. Mühsam, sehr mühsam! Doch das war mir die Sache wert. Zwischendurch hörte ich die anderen bereits nach mir rufen, weil sie mich nicht mehr sahen. Nur die Äste bewegten sich leicht, und nach etlichen Minuten des wie durch den dichtesten Urwald vorwärts Kämpfens hatte ich es geschafft und bog den letzten Ast zur Seite ...
Oft wieherten die Zuhörer wie eine Herde von Pferden, wenn mein Vater von diesem Erlebnis erzählte und die Anwesenden hielten sich den Bauch und die Tränen kollerten über ihre Wangen. Denn mein Vater konnte den Vorfall beinahe wie zum Angreifen schildern. Wie ich aus den Latschen kletterte und der Bock mit den gewaltigen Hörnern Auge um Auge vor mir gestanden ist.
Auch mir kollerten damals die Tränen über die Wangen. Aber nicht aus Freude, sondern vor Zorn, denn ich sehe sie alle noch heute wie damals vor mir wie sie mich ausgelacht haben, als ich mit schlotternden Knien dastand und erschrocken ausrief: "Murli, Murli!", und sofort wieder in den Latschen verschwinden wollte, ehe mein Bruder den Bock mit einem Stockhieb verjagte. Wie unser Bock in Hieflau geheißen hat, das brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen. Na ja, das Leben ging weiter, doch ich schämte mich vor allem vor den Mädels. Ich, der sonst so Verwegene, der nicht selten große Sprüche klopfte. Diese Blamage!
Meine Angst war längst verflogen, und wenn sich unsere Besucher auf meine Kosten köstlich zu amüsieren schienen, dann ging ich zum Gegenangriff über und erklärte mein durch die Latschen-Klettern so: Ich sagte, dass ich mich absichtlich an den Bock herangeschlichen hätte, um ihn zu erschrecken und dass ich mich dann vor dem Bock aufgebaut hätte und energisch ausrief: "Murli, hau sofort ab, bevor ich dir einen ordentlichen Tritt versetze! Du Mistvieh, du stinkendes!"
Wenn mir die Zuhörer meine Version nicht glauben wollten und sich noch immer ihre Bäuche vor Lachen hielten, dann murmelte ich halblaut vor mich hin: "Brauchts es mir eh nicht zu glauben, ihr Affen ...!"
Mein Bruder Herbert war eben in vielen Bereichen seines Lebens mutiger als ich. Ich fürchtete mich vor Hunden, ich zitterte am ganzen Leib, als ich einmal beim Petergstamm-Pflücken in der Felswand hing und weder vor noch zurück konnte, weil es mich bereits einmal ordentlich eine Wand hinunter gelassen hatte. Aber dazu vielleicht später.
Bleiben wir vorerst auf der Alm. Da gab es noch dieses Erlebnis mit einem Stier. Seit dieser Zeit hatte ich gehörigen Respekt vor Stieren, weil mir auf der Haselkar-Alm einmal ein solches Vieh nachgerannt war. Ich hatte einen langen Marsch hinter mir, labte mich am Brunnen vor der Almhütte, hatte dazu meinen roten Rucksack weggestellt und meine Schuhe und die Stutzen ausgezogen. Barfuss stand ich im Brunntrog, um meine vom Wandern schmerzenden Füße abzukühlen. Weit und breit war keine Sennerin zu sehen und ich war momentan wohl der einzige Besucher auf dieser eher abgelegenen Alm. Plötzlich hörte ich Trampeln hinter meinem Rücken, ich drehte mich um und sah das Vieh herangaloppieren. Mit hoch erhobenem Schwanz, wild schnaubend, den Kopf mit den Hörnern gesenkt.
Ich war schon immer einer der Schnellsten, wenn es darauf ankam, mich blitzartig aus dem Staub zu machen, doch diesmal schlug ich alle Rekorde, diesmal war ich mit einem Riesensatz aus dem Wasser, ließ Schuhe, Schuhe sein und Stutzten, Stutzen, dachte nicht an meinen Rucksack und sah nur noch den rettenden Zaun vor mir - den Stier dicht auf meinen Fersen.
Junge, das war knapp!
Aber ich war drüber und stand in sicherer Entfernung hinter dem Zaun. Ich atmete tief und mein Herz klopfte wild in meiner Brust. Am Zaun der Stier mit seinem schwarzen Nacken und den rollenden Augen und er grub mit einem seiner Vorderläufe in der Erde, bevor er seine Hörner in den Zaun jagte, dass das Holz laut krachte.
Zwei Stunden musste ich auf meine Sachen warten, so lang stand das Mistvieh in der Nähe des Brunnens. Auch meine Steine konnten ihn nicht vertreiben, die ich ihm aus sicherer Entfernung an die Wampe klatschen ließ. Das machte ihn nur noch wilder, er rannte wieder gegen den Jägerzaun und ich zitterte und hoffte, dass der Zaun den Hörnern standhalten würde. Seitdem scheute ich diese Biester.
Ich war zwar in vielen Bereichen meines kindlichen Lebens alles andere als feige und viele meiner einstigen Kameraden oder deren Eltern meinten wohl, dass ich echt ein wilder Hund war. Vor allem, was manchen Lausbubenstreich betraf, bei dem ich federführend an der Arbeit war und über den wir bei gelegentlichen Treffs auch heute noch lachen und uns mit Freude zurückerinnern, sofern wir irgendwo zusammensitzen und von alten Zeiten erzählen.
Aber die Geschichte mit dem Stier steckte doch einigermaßen tief in mir und Torero wäre ich vermutlich keiner geworden ...