Viel zu schnell waren die Ferien vorüber gegangen und die Schule hatte uns wieder gefasst, wie eine Katze die Maus fasst und sie nicht mehr loslässt. Nur vorübergehend loslässt, um sie sich gleich darauf wieder zu schnappen. Zeitlich am Morgen ab zum Schulbus, dann bis über Mittag in der Schule hocken, zum Zug und wieder nach Hause. Knapp vor 16 Uhr die Schultasche ins Eck gestellt, um nicht zu sagen, geworfen, einige Bissen in den Schlund gewürgt, die notwendigsten Hausaufgaben irgendwie erledigt und ab ins Freizeitvergnügen. Wenigstens ein, zwei Stunden Freiraum ohne Zwang. Herzlich wenig. Genauso wenig wie eben die Maus Zeit hat, sich kurz von der Katze wegzubewegen, wenn diese sie bewusst loslässt, bevor sie wieder zupackt und ihr die Krallen ins Fell hackt. Die Maus hat keine Chance der Katze zu entkommen und auch wir hatten keine Chance der Schule zu entkommen. Zumindest nicht bis zum Wochenende und da nur am Sonntag, weil es bei uns auch am Samstag Unterricht gab.
Als überaus unangenehm empfand ich die Hausaufgaben, raubten sie mir doch den Großteil meiner Freizeit, und wann immer ich konnte, schrieb ich diese erst im Zug von irgendjemandem ab oder vergaß manchmal bewusst, sie zur Schule mitzubringen, indem ich sie ganz einfach nicht machte. Hausübungen gab es in erster Linie in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik. Unser Klassenvorstand und Mathe-Lehrer Fritz war nicht nur ein exzellenter Fachmann und Kenner was Briefmarken anlangte, er war auch ein herzensguter Mensch und in seiner Lehrerbrust schlug ein tolerantes Herz für uns Schüler. Bei ihm konnte ich es mir erlauben, ab und zu auf meine Hausübung zu vergessen. Dafür brachte ich ihm ja wieder Briefmarken von zu Hause mit, weil meine Mutter zahlreichen Briefverkehr mit Freunden, Bekannten und Verwandten im In- und Ausland führte, was Briefmarken aller Art mit sich brachte. Natürlich durfte ich bei meinen Aktionen nicht übertreiben und wenn ich merkte, dass der Fritz bereits einigermaßen ungehalten wurde, weil ich wieder einmal meine Hausübung "vergessen" hatte, dann hieß es, wieder Freizeit zu opfern und vor dem Mathe-Hausübungsheft zu hocken. Und außerdem konnte ich nicht jede Marke von den Briefen an meine Mutter mittels warmem Wasser ablösen, sammelte doch auch mein Bruder Herbert eifrig Marken, und freiwillig gab er mir nur diejenigen, die er zumindest schon doppelt oder dreifach selbst im Album stecken hatte. An guten Tagen erwischte ich Briefkuverts aber noch vor ihm und das brachte mir dann eben die Pluspunkte beim "Fritz".
Unsere EnglischlehrerinFriederike war mit Attributen wie tolerant, nachsichtig und gutmütig weniger gesegnet. Vor allem, was mich betraf, war ich doch bei weitem nicht der Typ Schüler, den sie sich in ihrer Unterrichtsstunde zum guten und harmonischen Vorankommen mit ihrem Unterrichtsstoff wünschte. Deshalb kannte sie auch keinen Pardon, wenn ich wieder einmal sagen musste, dass ich keine Hausübung vorweisen könne, weil ich meinem Vater bei der Holzarbeit helfen musste oder von der Mutter zum Einkaufen geschickt wurde oder einem Freund beim Reparieren seines Fahrrades zur Seite stand und deshalb total auf die Hausübung vergessen hätte. Oder weil ich vom Pfarrer zum Ministrantenunterricht eingeteilt war oder, oder, oder.
Ausreden halfen bei ihr wenig und zur saftigen Rüge und zum Nachbringen der Hausübung kam ganz sicher noch eine Strafaufgabe hinzu. Es lohnte sich also kaum, die Englisch-Hausübung nicht zu machen, deshalb sah man mich nicht selten im Zug sitzen und diese von irgendeinem meiner pflichtbewussten Mitschüler abschreiben. Doch ab und zu gab es eben tatsächlich Wichtigeres nach dem nachhause Kommen, als die Zeit mit Hausübungen abzusitzen da nahm ich Rüge und Strafaufgabe in Kauf. Es gab eben Prioritäten. Und ein Fußballmatch hatte bei mir eben Vorrang vor Hausaufgaben!
Am besten hatte ich es im Fach Deutsch. Beim "Charly", wie wir unseren Deutsch-, Geographie- und Geschichte-Lehrer nannten, der kannte meine Mutter und kam ab und zu mit seiner Frau nach Radmer, um seinem Schwager, dem Bergverwalter, einen Besuch abzustatten. Seine Gattin und meine Mutter hatten überdies gemeinsame Bekannte aus ihrer Gymnasialzeit und so kamen sie auch ab und zu bei uns vorbei, um ein wenig von vergangenen Zeiten zu plaudern. Vielleicht mochte der "Charly" überdies meine erfrischende Art oder vielleicht war ich ihm ganz einfach sympathisch, weil auch er mir sehr sympathisch war. Vor allem, weil er so herrliche Geschichten zu erzählen wusste von allerlei abenteuerlichen Fahrten, die er mit seinem Faltboot entlang irgendwelcher Flüsse gemacht hatte. Dem Charly zuzuhören war für mich vielleicht ebenso schön wie wenn ein Opernliebhaber sich daheim im Sessel zurücklehnt und eine Arie aus einer Stereo-Anlage an sein Ohr dringen lässt. Doch auch in Deutsch waren Hausübungen zu machen und dazu oftmals auch noch recht umfangreiche. Überdies hieß es nicht selten, ein Gedicht auswendig zu lernen, was auch einiges an Zeitaufwand mit sich brachte. Beim Charly wusste ich mir zu helfen, Gedichte trug ich relativ gekonnt vor. Ich meldete mich bei der Abfrage des Gedichtes durch intensives Aufzeigen und war einigermaßen sicher, den Vortrag als erster beginnen zu können.
"Geht ja ausgezeichnet, wunderbar vorgetragen! Sehr schön! Setzen! Der Nächste bitte!"
Hätte der gute Charly auch nur geahnt, dass ich tatsächlich nur die erste Strophe in mein Gedächtnis eingehämmert hatte, so wäre die Sache ganz bestimmt nicht so gut für mich ausgefallen. Obwohl mich Gedichte immer irgendwie fasziniert hatten und ich ganz bestimmt auch jedes zur Gänze durchlas und dennoch den "Erlkönig" oder die "Glocke", den "Zauberlehrling" usw. total auswendig zu lernen, das war mir ganz einfach zu zeitaufwendig.
Charly war nicht nur ein ausgezeichneter Faltbootfahrer und Geschichtenerzähler, er hatte sicherlich auch ein gerüttelt Maß an Organisationstalent in seinem Köcher. Und weil er ganz bestimmt sehr vielen Aktivitäten auch außerhalb seiner Unterrichtstätigkeit nachging und überdies etliche Klassen in Deutsch unterrichtete, deshalb sammelte er nie alle Hausübungshefte zum Korrigieren ab, sondern nahm immer nur die Hefte von zwei Reihen mit nach Hause. Bei uns gab es sechs Reihen und in jeder Reihe saßen fein säuberlich aufgefädelt fünf Schüler hintereinander. Was die Sache spannend machte: keiner wusste, welche zwei Reihen er absammeln würde. Um jedoch sicher zu gehen, dass alle Schüler ihre Hausübungen gemacht hatten, setzte er für jede Reihe einen Aufgabenkontrolleur ein. Dieser musste berichten, ob alle Aufgaben in seiner Reihe gemacht wurden bzw. jene Schüler melden, welche ihre Hausübung womöglich nicht gemacht hatten. Wie es mir gelungen ist, weiß ich bis heute nicht, und doch ich hab es als einziger geschafft, mein eigener Kontrolleur zu sein. Und wenn tatsächlich unsere Reihe abgesammelt wurde und ich womöglich keine Hausübung vorweisen hätte können, da musste ich mir blitzschnell das Heft von einem Sitznachbarn ausborgen! Der Charly schaute nämlich nicht auf die Namen, sondern zählte nur die Anzahl der Hefte. Mit dieser Methode, die Hausaufgaben zu kontrollieren, hat er mir, ohne das allerdings zu wissen, im Winter zu manch zusätzlichem Sprung über unsere selbsterrichteten Sprungschanzen verholfen, und in der Zeit ohne Schnee konnte ich den Ball um etliche Male öfter ins gegnerische Tor jagen. Danke Charly!