Sehr bewundert hab ich in der ersten Zeit meines zur Schule-Fahrens vor allem die "Großen", die schon einige Jahre Erfahrung in ihrem Schulranzen mit sich führten. Zu gerne wäre ich auch bereits einer von ihnen gewesen. Nicht nur, weil sie wesentlich größer und damit in der Regel natürlich auch stärker waren als ich noch nicht einmal 11-jähriger Dreikäsehoch, auch deshalb, weil die meisten von ihnen bei den Mädels schon relativ gut ankamen, was ich von mir leider nicht behaupten konnte. Die feschen 13- oder 14-jährigen Mädels interessierten sich so gut wie gar nicht für mich. Leider. Wo doch die eine oder andere mir schon mehr als nur gut gefiel und ich begierig den Duft ihrer zumeist langen Haare in mich saugte, sofern ich im Bus oder im Zug nicht nur ganz zufällig hinter so einem Geschöpf zu sitzen kam. Und doch, irgendwie spürte ich bereits damals, dass meine Zeit wohl noch kommen würde, um auch in dieser Hinsicht erfolgreicher zu sein.
Von den Großen konnte man tatsächlich einiges lernen. Wie die sich zum Beispiel beim Anstellen zum Zug nach vor drängten, das beeindruckte mich sehr oder wie sie junge Frechdachse mit handgreiflichen Argumenten verjagten, sofern diese sich anmaßten, eventuell in den hinteren Busreihen Platz nehmen zu wollen oder uns Kleine mit Fußtritten versahen, wenn wir uns beim Lösen der Wochenkarten für den Bus nicht gehörig hinter ihnen anstellten. Sie gaben eben den Ton an und alle anderen hatten zu kuschen! Doch eines Tages geschah etwas, worüber ich mir heimlich ins Fäustchen lachte. Hatten sie doch endlich auch einmal einen Grund, gehörig an ihren Fingernägeln zu kauen.
Auf dem Weg von der Hauptschule zum Bahnhof Eisenerz gab es so gut wie keine Besonderheiten. Ein Haus stand neben dem anderen, dazu kam die Straße und doch wohl auch schon so etwas wie ein Gehsteig. Ab und zu kläffte ein Köter hinter einem Gartenzaun, den man ein wenig sekkieren konnte, indem man zurückbellte oder mit dem Fuß zum Zaun trat. Aber sonst? Eher Langeweile und freudloses Dahinhatschen, um eben zur Schule oder danach wieder zum Bahnhof zu gelangen. Doch nach dem Unterricht, wenn wir mehr Zeit hatten und nicht im Klassenzimmer blieben, um uns dort vor allem mit "Schuberln", das heißt mit einem leichten Zweigroschenstück als Ball und pro Spieler mit einem etwas schwereren Fünfgroschenstück, einem Dreieck zum Schießen und auf den Holztischen eingezeichneten Toren die Zeit zu vertreiben, wenn wir also nicht allzu schnell zum Zug mussten, dann wählten wir eine andere Route hin zum Bahnhof, und zwar hinten am Erzbach entlang. Da konnten wir Steine in den Bach werfen, um auf Fische zu zielen oder wir warfen Holzstücke in den Bach, damit diese dann im Wasser dahintrieben und wir gute Zielscheiben für unsere Steine vorfanden. Auf diesem Fußweg ging es vorbei an idyllischen Häusern mit Gartenhäuschen und Gärten, in denen mancher Apfel und manche Birne goldig-rot von den Bäumen leuchtete. Wenn auch hin und wieder eine dieser Köstlichkeiten zuerst in unseren Hosentaschen und später in unseren Mäulern verschwand, so achteten die Besitzer doch streng darauf, dass wir Buben nicht allzu leicht zu solch erquickenden Genüssen kamen. Entweder war ein Hund in so einem Garten zu sehen oder die Großmutter fuchtelte mit einem Stock herum und schimpfte fürchterlich, sofern wieder einmal einer von uns über den Zaun geklettert war, um sich schnell einen Apfel oder eine Birne vom Baum zu reißen und manch schallende Ohrfeige klatschte in eines unserer Bubengesichter, sofern einer von uns beim Äpfel- oder Birnen-Stehlen erwischt wurde.
Am Ende dieses Weges hin zum Bahnhof stand das Bahnmeisterhaus, in dem der Bahnhofvorsteher mit seiner Familie wohnte. An diesem Haus befanden sich an der Hinterfront etliche Bäume mit herrlichen Kaiserbirnen daran. Gelb-rot leuchteten sie zu uns Buben her, doch wir Kleinen hätten es niemals gewagt, uns über den ehernen mit Schwertspitzen versehenen Gartenzaun zu schwingen, danach noch etliche Meter über den Rasen bis hin zum Haus zu laufen, um uns eine derartige Köstlichkeit vom Baum zu reißen. Anders mein Bruder Herbert und seine Freunde: der Horst, der Siegfried, der Fred und der Eckhard. Die fühlten sich gemeinsam stark genug, um einen "Coup" in Richtung Kaiserbirnen zu landen.
Kleinlaut standen sie mit gebeugtem Kopf der Reihe nach vor dem Mann mit der riesigen mit goldenen Streifen versehenen Kappe.
"Werd schauen, dass er schon morgen entlassen wird!"
"Und du und deiner?"
"Fred. Mesner beim Pfarrer."
"Ebenfalls entlassen!"
Der Bahnhofvorsteher befragte einen nach dem anderen der Sünder mit erhobener Stimme, wie sie denn hießen und wo ihre Väter beschäftigt wären und "entließ" sozusagen aus weiter Ferne die Väter sofort aus ihrer Arbeitsstelle. Die Ertappten standen mit zitternden Knien da und ahnten Schlimmes. Nicht auszudenken, was sie wohl zu Hause erwarten würde. Die von den Bäumen gerissenen Birnen hatte ihnen die Frau des Bahnhofvorstehers längst abgenommen. Einzig der Siegfried vom Bäckermeister und der Eckhard waren entwischt, nachdem die Hausfrau Alarm geschlagen hatte. Sie waren mit je zwei, drei Birnen über den Zaun gehechtet und schauten nun von weit weg der Prozedur vor dem Haus des Vorstandes zu. Sollten sie sich womöglich stellen und gemeinsam mit ihren Freunden die Suppe auslöffeln oder sollten sie das doch besser bleiben lassen und froh sein, nicht auch erwischt worden zu sein? Sie entschlossen sich für Letzteres. Lieber wollten sie sich als "feige Hunde" beschimpfen lassen, denn der Zorn der Ertappten war ihnen sicher. Das wussten sie. Aber die erbeuteten Birnen würden sie zumindest mit ihnen teilen. Das war klar.
Ganz so tragisch ist die Geschichte dann doch nicht ausgegangen. Der Bahnhofvorsteher beruhigte sich schließlich wieder und nach einer gehörigen Standpauke entließ er die Sünder aus seinem Garten. Nicht ohne Androhung, dass beim nächsten Mal, sollten sie sich wieder eine derartige Dreistigkeit einfallen lassen, er ganz sicher nicht nur die Schule verständigen, sondern auch die Gendarmerie einschalten würde. Und auch die Väter würden nicht ungestraft davonkommen. Das saß! Vom Birnen-Stehlen hatten die Großen von da an die Nase voll. Die erbeuteten Birnen schmissen sie während der Fahrt Richtung Bahnhof Radmer aus dem Fenster. Keiner der fünf hatte anscheinend Appetit darauf. Die schönen Kaiserbirnen. Anstatt sie wenigstens uns zu geben. Und doch hatten auch wir Kleinen etwas dabei abbekommen, was uns irgendwie gut tat: Endlich hatten auch die Großen einmal Haare lassen müssen ...