Weiter zu meiner neuen Heimat: Der Rudi, seine Schwester Gerti und die Erna waren mir schon sehr bald gut vertraut und sie hatten vielleicht an mir eine ebensolche Freude wie ich an ihnen. Doch es gab ja auch noch andere Kinder in unserem Tal und einige saßen mit mir zusammen in einem Klassenzimmer. Nicht wie in Hieflau, wo jeder Jahrgang einen eigenen Klassenraum hatte, in Radmer gab es dafür zu wenig Kinder. Deshalb wurden wir zusammengezogen, die erste und die zweite Klasse mit einer Lehrerin, die dritte und vierte Klasse ebenso. Die übrigen vier Klassen sogar zusammen in einem eigenen Unterrichtsraum, in dem der Schulleiter alle Buben und Mädchen unterrichtete, die nach der Volksschule nicht in die Hauptschule nach Eisenerz fuhren.
Aus den verschiedensten Gründen. Entweder waren sie nicht hauptschulreif, was damals noch öfters vorkam und in etwa so ist, wie wenn in unserer heutigen Zeit ein Kind nicht die Begabung mitbringt, um in ein Gymnasium zu gehen. Aber es gab auch noch andere Gründe: Wenn sich die Eltern die tägliche Fahrt für ihr Kind mit Bus und Zug in die etwa 20 Kilometer entfernte Hauptschule ganz einfach nicht leisten konnten, weil der Vater zu wenig verdiente oder die Mutter in ärmlichen Verhältnissen mit dem Kind allein lebte. Damals gab es noch keine Freifahrten für die Schüler und wenn auch nicht allzu viel Fahrtgeld zu bezahlen war, so war das doch für manche Eltern zuviel. Diese Kinder besuchten dann eben die achtjährige Volksschule, und von dieser Volksschule handelt die nächste Geschichte.
Der Oberlehrer war ein großgewachsener, stattlicher und gestrenger Mann und speziell in einem kleinen Ort wie unserem war damals ein Lehrer eben noch eine angesehene Persönlichkeit. Gleich wie der Pfarrer, der Doktor, der Bürgermeister, der Forstdirektor und natürlich die Fürstin. Vor denen musste der Hut gezogen werden. Ich zog meinen nicht, weil ich zwar einen hatte, doch nicht zum Schulgehen. Ich durfte, oder besser gesagt, musste meinen zum sonntäglichen Kirchgang aufsetzen, weil Sonntagskleidung für diese ein, zwei Stunden angesagt war. Da zog auch ich an meinem Hut. Vielleicht, so genau weiß ich das nicht mehr.
Der Schulleiter war, wie gesagt, ein gestrenger Mann und er liebte es ganz und gar nicht, wenn die Kinder in den Pausen über den Gang flitzten, wir Buben die Mädels ein bisschen sekkierten, sie an den Zöpfen zogen oder ihnen die Kittel blitzartig hochhoben, um sie ein wenig zu ärgern oder vielleicht sogar um zu sehen, was sich wohl darunter verbergen würde. Wenn das der Oberlehrer sah, dann gab es keine erklärenden Worte, dann krachte sein Stab, den er gerne mit sich trug, über den Rücken des Sünders, dann gab es Hiebe. Auch sah er es nicht gern, wenn wir Buben rauften, uns am Boden balgten und dazu auch noch lärmten. Da war Feuer am Dach bei ihm und so manche Backe eines dabei ertappten Schülers zierte ein roter Fleck, mit den Fingerabdrücken seiner Hand versehen.
Ich war auf Grund meiner Veranlagung der ideale Typ, um mit seinem Stab öfter als mir lieb war, Bekanntschaft zu machen. Ich rannte gern über den Gang, schupste diesen oder jenen meiner Mitschüler in ein Eck und auch bei den Mädels musste ich ab und zu hinlangen. "Du bist ein rechtes Luder!", sagte die Mutter meines Freundes Rudi einmal zu mir. Damit traf sie den Nagel wahrscheinlich mitten auf den Kopf. Erst nach vielen Ehejahren und vom Leben zurechtgestutzt trottete ich eher als Schaf, denn als Wolf durch mein Leben.
Zurück zum Schulleiter und zu dieser Pause, in der wir Kinder wieder einmal lärmten und johlten, uns schupsten und rauften, in der Annahme, dass der gestrenge Mann heute nicht in der Schule weilen würde, hieß es doch, er wäre außer Haus. Die beiden Lehrerinnen hatten ja schon sehr bald eingesehen, dass sie so gut wie keine Macht über diese lärmende Menge hatten, die resignierten und verließen deshalb oftmals das Klassenzimmer, um sich den Ärger zu ersparen, und wir beruhigten uns ja wieder, wenn es zum Unterricht läutete. Da tollte keiner mehr herum. Aber die Pause, die ließen wir uns nicht durch allzu viel Disziplin versauen!
Wir tollten also herum, lärmten und rauften - da stand er plötzlich in der Eingangstür. Sein Gesicht überzog eine tiefe Unmutsfalte, und
als wir Kinder den Oberlehrer bemerkt hatten, spätestens seit dieser Zeit war es auf dem Gang mucksmäuschenstill geworden. "Was bildet ihr euch ein, so herumzutoben! Ich werde euch jetzt einmal etwas erzählen ...", schrie er und die Adern traten dem Guten im vor Wut rot gefärbten Gesicht an den Schläfen hervor. Ich weiß zwar nicht warum, ich wollte es ganz sicher nicht und doch, es rutschte mir ganz einfach aus dem Mund:
"Ja, bitte, die Geschichte von Hänsel und ..."
Zur "Gretel" kam ich nicht mehr, da klatschte es bereits in meinem Gesicht. Nicht ein wenig wie sonst auch öfters, diesmal doch recht kräftig, und nachdem es mich in hohem Bogen auf den Gang hingeworfen hatte, zerrte er mich am Kragen hoch und brüllte: "Dir werde ich auch noch Disziplin beibringen! Verlass dich darauf!" All mein Tatendrang war wie weggeblasen, meine Knie schlotterten, die Wange brannte, ich schluckte und duckte mich soweit es ging zusammen, denn ich hatte Angst, dass er seine Hand nochmals in mein Gesicht klatschen lassen würde.
Als ich später wieder im Klassenzimmer saß und mein Freund Rudi betreten zu mir hersah, weil er ja auch im selben Klassenzimmer saß, und in der anderen Abteilung seinen schulischen Anforderungen nachzukommen versuchte, als er so zu mir herblickte, da zwinkerte ich ihm zu. Sollte heißen: "Alles bestens, bin schon wieder o.k.!" Geredet hab ich auch in der nächsten Pause noch nichts, bin in meiner Bank sitzen geblieben, während die anderen bereits wieder auf dem Gang herumspazierten. Sehr ruhig, versteht sich.
Damals hatte ich erfahren, dass es Stärkere gibt als mich, und dass ich eben ab und zu leiser treten müsste. Den Schulleiter fürchtete ich seit dieser Zeit ein bisschen und in der Schule herumgetollt bin ich wirklich nur, wenn ich sicher war, dass dieser Mann nicht irgendwo auftauchen konnte. Ich war vorsichtiger geworden und hielt meinen Mund fest verschlossen, wenn der gute Mann etwas von sich gab. Damit mir nur ja nicht wieder etwas "Märchenhaftes" herausrutschen konnte ...