Bereits in Hieflau machte ich Dreikäsehoch eines sehr gerne: Ich ging zur Hüttentür, schnappte mir das Waffenrad meines Vaters, streckte meine Hände nach oben zum Lenker, stellte mich auf eine Pedale und fuhr auf diese Weise mit dem Rad des Weges. Etliche Meter im Hof hin und zurück, nachdem ich, das riesige Rad schiebend, wieder vorsichtig umgedreht hatte. Mit einem Fuß stand ich auf der Pedale, mit dem anderen tauchte ich an. Das waren meine allerersten Radfahrversuche und manchmal musste ich das Rad loslassen und regelrecht von mir wegschmeißen, um nicht damit umzukippen. Das war mir aber schon sehr bald zu eintönig, ich wollte fahren wie die Großen. Über die Stange schaffte ich das jedoch nicht, dazu war ich noch zu klein, deshalb musste ich zu einer anderen Technik greifen. Ich hing seitlich am Rad, hielt die Lenkstange umklammert und trat quer durch den Rahmen. Echt reif für den Zirkus. Heutzutage fahren die Kleinen mit Stützfahrrädern durch die Gegend, eine derartige Nummer würde wohl kaum einer der Knirpse schaffen. Ich sicherlich auch nicht mehr. Doch ich wollte unbedingt fahren, und so fuhr ich eben irgendwann auf diese Art und Weise durch die Gegend. Und wie das Rad duftete. Nach Gummi und Eisen. Irgendwie herrlich, und ich kann es heute noch riechen, wenn ich die Augen schließe und mich im Sessel zurücklehne.
Mittlerweile war ich in der dritten Klasse der Volksschule gelandet, Rudi und Toni in der zweiten Klasse. Es war ein herrlicher Maientag, ich schnappte meinen Schulrucksack, rief meiner Mutter noch einen Gruß zu, steckte das letzte Stück Marmeladebrot zwischen meine Zähne, lief die Stiegen hinab, hörte Rudi auf der anderen Seite ebenfalls die Stiegen herunterlaufen und war schon zur Haustür hinaus.
"Ich fahr heut mit dem Radl", sagte ich zu Rudi, ging die paar Schritte zur Hüttentür, hinter der die Räder meiner Eltern und das meines Bruders standen, schnappte mir des Bruders Rad, der ja bereits im Bus Richtung Hauptschule saß, und schon sah man Rudi und mich die Steigung zur Kirche entlang schreiten. Mein Bruder hatte sich sein Rad aus mehreren anderen Radwracks zusammengebastelt und neben unserem riesigen Kater war dieses Rad sein ganzer Stolz. In den nächsten Tagen wollte mir mein Vater ein ähnliches zusammenbauen, die Teile dafür lagen schon in der Hütte, und einen passenden Schlauch sollte mein Bruder bei der nächsten Auszahlung in Eisenerz besorgen. Momentan war kein Geld dafür in der Familienkasse vorhanden.
Ein paar Mal hatte ich das Rad schon ohne die Erlaubnis meines Bruders aus der Hütte genommen und war damit durch die Gegend gefahren, das letzte Mal hatte er mich dabei erwischt. Da hat es ordentlich Krach gegeben, weil ich hinter dem Haus in der Wiese herumkurvte und mein Bruder gerade zurechtkam, wie ich mich nach einem Sturz wieder hochgerappelt hab. Diesmal würde er mich nicht erwischen. Mein Vater war bereits auf der Säge, meine Mutter mit der Wäsche beschäftigt und ich würde mit dem Rad schon längst wieder zu Hause sein, bevor mein Bruder mit dem Bus von der Schule zurückkam.
Rudi blickte bewundernd zu mir her, als ich das Rad neben ihm die Steigung zur Kirche hinaufschob. Gesprochen haben wir nicht viel, ich hab mich nur ein paar Mal umgedreht, ob meine Mutter nicht vielleicht zu sehen wäre. Nichts. Alles wunderbar. Schon bald darauf waren wir beim Gotteshaus angelangt, um unserem Ministrantendienst nachzukommen.
Nach der Frühmesse zogen wir uns wieder um und verließen die Kirche. Es war ein wunderschöner Maientag und die Obstbäume blühten im Pfarrgarten. Mein Rad lehnte am Zaun und meine beiden Freunde schauten irgendwie neidisch, weil ich zur Schule fahren konnte und sie ja nur Fußgänger waren. Da hatte ich plötzlich die Idee mit der Wette.
"Ich fahr mit dem Radl hintenherum und ihr beide rennt beim Kriegerdenkmal hinunter. Gewonnen hat, wer zuerst in der Schule ist."
"Da g'winnst nie gegen uns!"
"Werden wir ja sehen ..."
Der Rudi und der Toni standen vor der Kirche an diesem kleinen Steig, der am Kriegerdenkmal vorbei hinunter in den Ort mündete, ich hatte mich aufs Rad gesetzt und war gewillt, mein Bestes zu geben. Bei los hetzten die zwei weg, als wenn der Leibhaftige hinter ihnen her wäre, und auch ich trat in die Pedale. Mein Schulsack pendelte am Rücken und ich preschte über den Kirchplatz. Jetzt würden sie wohl bereits beim Kriegerdenkmal sein, schoss es mir durch den Kopf, als ich zu jener Stelle kam, von wo die Straße in den Ort hinunterführte. Eine Schotterstraße mit Schlaglöchern, die vor allem nach Regentagen wie kleine Krater aussahen. Ich trat noch immer, anstatt zu bremsen, war mitten im Gefälle, näherte mich der Kurve, blickte kurz den steilen Wiesenhang hinunter, übersah ein Schlagloch - und schon flog ich im hohen Bogen durch die Luft.
Holzlatten sicherten den Weg ab, damit in der Dunkelheit niemand in den unten vorbeifließenden Bach stürzen sollte. Daran hingen wir jetzt beide, das Rad meines Bruders und auch ich. Nur mein Schulranzen war über die Abzäunung geflogen und schwamm wohl bereits im Bach. Das Blut sickerte von meinen Knien, von den Händen, vom Ellenbogen. Hemd und Hose waren lädiert, eine Schramme zierte mein Gesicht, dazu blutete ich aus der Nase, die Kotflügel waren verbogen und der Dynamo baumelte zwischen den Speichen. Alles eigentlich vorerst kein Problem, nur eines störte mich ganz gewaltig: Die Wette hatte ich wohl eindeutig verloren ...
Als ich später humpelnd bei der Schule ankam, das Rad mehr hinter mir herzog, als es zu schieben, sosehr war alles verbogen, und nach einigem Zögern mit einem Glück auf ins Klassenzimmer trat, da sah ich das Entsetzen im Gesicht der Lehrerin. Die sonst so Redegewandte saß wie erstarrt am Katheder und ich blickte zu meinen Freunden hin und zuckte mit den Schultern. Sollte heißen: "Pech gehabt, schneller gings leider nicht!"
Keine angenehme Sache. Mein Vater hatte wenig Verständnis für meine Idee, mit dem Rad meines Bruders zur Schule zu fahren, aber er hielt sich bei der Bestrafung zurück, hatte ich doch bereits mehrere Wunden am Körper, die mir noch etliche Tage zu schaffen machten. Mein Bruder war schon immer eher gutmütig im Grunde seines Herzens gewesen. Einen Tag lang sprach er nicht mit mir und die Stelle am Allerwertesten schmerzte nicht allzu lang, wohin er mir beim Nachhausekommen einen ordentlichen Tritt versetzt hatte, den ich mir ausnahmsweise gefallen ließ, ohne zurückzutreten, zu sehr war ich mir meiner Schuld bewusst. Das Rad reparierten wir gemeinsam, nur der Toni und der Rudi grinsten noch Tage danach irgendwie schadenfroh.
Obwohl dieser Vorfall ganz eindeutig zeigt, dass ich keinesfalls ein Sonntagskind war, zierten doch etliche Pflaster aus der Schulapotheke mein Gesicht, die Hände und auch die Beine. Dennoch hatte ich bei dieser Wette noch Glück im Unglück: Mein Schulranzen hing nämlich an einem Strauch, einen halben Meter über dem Wasser.