Der Großteil der Kinder in Radmer war anständig und diese Buben und Mädels machten kaum jemals etwas, was sich nicht gehörte. Sie saßen artig in der Schulbank, erledigten ihre Hausaufgaben pflichtbewusst und es gab kaum jemals irgendwelche größeren Schwierigkeiten mit ihnen. Dann gab es einige, die zwar von sich aus kaum jemals irgendetwas angestellt hätten - doch bei der einen oder anderen kleineren Schandtat mitzumachen, das war durchaus drinnen. Wenn dabei etwas danebenging, so war das für sie nicht weiter schlimm, sie hatten ja nur als Randfiguren mitgemacht und hatten deshalb auch kaum jemals härtere Strafen zu befürchten. Aber es gab auch noch andere: wilder in ihrem Wesen, frecher und wagemutiger.
Zu welcher Gruppe ich gehörte, ist nicht schwer zu erraten. Natürlich hab ich meinen Spaß an dieser oder jener Schandtat gehabt, dafür aber auch mein Fell sehr oft und zumeist eher schmerzhaft hinhalten müssen! Manche Leute meinten, ich wäre der Schrecken von Schule und Nachbarschaft gewesen, die Lehrer hätten mich beinahe schon gefürchtet und die Mütter ihre Söhne und Töchter schnell in die Wohnungen gesperrt, damit sie mir nur ja nicht in die Hände fallen konnten. So arg wird es wohl doch nicht gewesen sein. Ich war eben ein bisschen lebhafter als die meisten anderen Kinder, ein bisschen wilder vielleicht, ein bisschen jähzorniger, ein bisschen einfallsreicher und zudem ganz bestimmt auch ein bisschen unternehmungslustiger. Um mich hier zu rechtfertigen. Aber es gab noch andere Buben, die waren auch nicht ohne. Der Dietrich, mein Freund von der Pfarreralm, oder der Frantschgerl, wie wir den Franzi nannten. Der war ebenso wild und verwegen wie die Gegend, wo er herkam. Der Sohn des Totengräbers, ein richtiges Luder. Kein Fisch war vor ihm sicher und so manches Federvieh musste tatsächlich "Federn" lassen, wenn es ihm in die Quere kam. Die Mädels sekkierte er, wo immer er konnte, mit den Buben raufte und balgte er sich gerne herum und auch der eine oder andere Erwachsene konnte ein Lied von dieser oder jener Schandtat dieses Burschen singen. Und auch zwei "Dorfnarren" gehörten zu den "Opfern" seiner, aber auch unserer kleinen Bosheiten wie wir gleich sehen werden.
Mit diesen Dorfnarren, von denen es bei uns in Radmer zumindest zwei Stück gab, die ich persönlich kannte und von denen ich hier ein bisschen erzählen will, mit diesen Menschen spielte die Natur ein schäbiges Spiel, weil sie bei der Gabenverteilung stiefmütterlich behandelt wurden. An diesem Tag, an dem alle Bewohner ihre Portionen an Geist und Verstand, an Wachstum und Aussehen bei ihrer Geburt mit in die Wiege gelegt bekamen. Die hier von mir beschriebenen Dorfnarren standen bei dieser Gabenverteilung womöglich irgendwo versteckt in einer Ecke, und erst als alle guten Gaben verteilt worden waren und alle vorher einigermaßen Beglückten mit frohen Gesichtern in ihren Elternhäusern verschwunden waren, da kamen die Dorfnarren aus ihren Verstecken hervor und es ging ihnen so wie Gästen, die zwar zum Mahl geladen waren, jedoch aus irgendeinem Grund zu spät erschienen. Viel zu spät, und sosehr ihre Mägen auch vor Hunger knurrten, die Leckerbissen waren allesamt verspeist. Aus den Schüsseln ragten nur noch abgenagte Knochen, von den herrlichsten Fischgerichten zeugten die sich auf den Tischen türmenden Grätenhaufen, die köstlichsten Saucen und der herrlichste Braten verdauten bereits in den Mägen der nicht mehr Anwesenden, und außer unansehnlichen Abfällen war kaum noch etwas Essbares anzutreffen. Die Flaschen mit den köstlichsten Getränken waren ebenfalls leer getrunken und nur einige Reste bedeckten die Böden kristallener Gläser.
So ähnlich könnte ich mir eine derartige Gabenverteilung vorstellen und so mancher Dorfnarr wird sich, sofern vor allem sein Verstand nicht allzu sehr dabei ins Hintertreffen gelangt war, so dass er zumindest einigermaßen denken und begreifen konnte, wohl gefragt haben, warum gerade er dabei derart zum Handkuss gekommen ist. Dazu kommt dann noch die Sache mit dem Spott. Der war ihnen als sogenannte "Zugabe" ebenso sicher wie ihr wohl doch eher beschissenes Dasein.
Sind Kinder anders als Erwachsene?
Selbstverständlich sind sie anders. Wenn ich dazu an mich denke, wie ich jetzt bin und wie ich noch als Kind war. Wahrscheinlich würde niemand in mir den Menschen von damals erkennen, derart angepasst stolpere ich zumeist durch mein Erwachsenen-Dasein. Einzig darauf bedacht, halbwegs vernünftig zu sein, nirgendwo zu sehr anzuecken und bei beinahe allen meinen Handlungen nicht zu große Probleme entstehen zu lassen, obwohl ich diese Angepasstheit in den letzten Jahren mehr und mehr abzuschütteln versucht hab. Oftmals leider vergeblich! Kinder sind anders. Sie sind anders gebaut, sie denken anders, sie sprechen anders, sie sind vielfach noch nicht so verformt wie die Erwachsenen, sie sprechen zumeist noch das aus, was sie sich denken, sie sind nicht so berechnend in ihrem Verhalten, sie lassen ihren Emotionen viel eher freien Lauf als die Erwachsenen, die sich zumeist zurücknehmen, wann immer Gefahr droht, dass sie sich durch ihr allzu ehrliches Verhalten irgendwie schaden könnten. Kinder sind zwar zumeist ehrlicher als wir, doch Kinder sind dafür auch oftmals brutaler, intoleranter und sie leben viel eher ihre natürlichen Instinkte aus. Ganz so, wie wir das damals bei den Dorfnarren getan haben.
Der erste der Dorfnarren war etwa 40, 50 Jahre alt. Mit verkrüppelten Beinen, halb taub mit nur noch fallweise in seinem Mund anzutreffenden Zähnen, der Schaum stand ihm um den Mund und tropfte nicht selten daraus zu Boden. Auf seinem Kopf saß zu jeder Jahreszeit ein spitzer grüner Hut, seine Augen tränten, seine Hände waren spindeldürr und mit langen Nägeln versehen. Irgendwelche Kleiderfetzen hingen mehr an seinem ausgemergelten Körper, als dass sie diesen auch nur irgendwie schmückten, und in seinen Händen hielt dieser Dorfnarr stets einen Haselnuss-Stab. Vielleicht, um sich darauf zu stützen, aber viel eher wohl deshalb, um sich damit wehren zu können gegen alle Unbill des Lebens. Der Stock vermittelte ihm vielleicht ein Gefühl von Sicherheit und er machte auch davon Gebrauch, wenn wir Kinder uns von hinten an ihn heranschlichen, ihn an seiner Kleidung zupften, ihm die Zunge zeigten, ihm nachspotteten, wenn er wirr mit seinen Händen vor seinem Kopf kreiste oder vor seinem Unterleib obszöne Bewegungen ausführte. Wir trieben unser böses Spiel mit ihm und waren irgendwie freudig erregt, wenn er dabei aus Wut oder vielleicht auch aus Angst mit bebender Stimme meist undefinierbare Laute von sich gab. Wenn wir danach noch frecher wurden, ihm vielleicht sogar den einen oder anderen Stein hinschossen und er auf uns zustolperte, wild mit seinen Händen gestikulierte und voll Zorn seinen Stock schwang, dann jagte uns das natürlich den einen oder anderen Angstschauer über den Rücken, denn wehe, er hätte uns erwischt. Doch wir waren schneller als er, wir liefen davon, wir lachten, amten seine urigen Laute nach und zeigten ihm die lange Nase. Wurden wir bei diesen Schandtaten von Erwachsenen erwischt, so zog uns nicht selten einer der Dorfbewohner heftig an den Ohren, um uns zu zeigen, was er von solch einem Verhalten hielt und so manche Ohrfeige klatschte wohl nicht zu Unrecht in unser Gesicht.
Irgendwann hab ich einmal im Fernsehen gesehen, wie ein Anzahl von Hunden auf einen Bären gehetzt wurde, dem die Krallen zuvor gestutzt worden waren, und dem vielleicht sogar bewusst der Großteil seiner Zähne herausgebrochen worden war, damit er sich kaum noch gegen diese wild keifende Meute zur Wehr setzen konnte. Ein unglaublich brutales Spiel, von absoluten Rohlingen erdacht, und mein Herz blutete ebenso wie der Bär aus vielen seiner Wunden, als die Hunde sich in seiner Schnauze, in seinen Beinen, in seinem Körper verbissen und er keine Chance hatte, auch nur einigermaßen glimpflich davonzukommen. Er brüllte vor Schmerz und die Hundemeute war in einen regelrechten Blutrausch verfallen und biss zu, wo immer es ging. Ganz so arg trieben wir es nicht und doch mag es ein ähnliches Spiel gewesen sein. Da der Dorfnarr, halb taub, halb stumm mit geschwächten Beinen, auf denen er verkrüppelt durch sein Leben stolperte und auf der anderen Seite wir Buben, drei, vier, manchmal sogar fünf an der Zahl, die diesen beinahe Wehrlosen verspotteten, an den Kleidern zupften, und ab und zu kam es vor, dass der auf diese Weise von uns Bedrängte zu Boden fiel und vor Schmerz und Zorn weinte.
Irgendwann warteten wir Kinder vergeblich darauf, dass er auftauchte und wir wieder unsere üblen Späße mit ihm treiben konnten. Wir hörten nur die Totenglocke und sahen den Totengräber mit Schaufel und Krampen Richtung Friedhof schreiten. Der Dorfnarr, der Haider Hanserl, wie ihn alle nannten, der war nicht mehr, und er wurde beinah schon wie ein Hund verscharrt. Irgendwo am Rand des Friedhofs. Keine Kränze, keine Trauerreden, keine Musik, kein Gesangverein wie das bei angesehenen Bürgern stets der Fall war, sofern einer von ihnen seine Augen für immer schloss. Ein schlichtes Holzkreuz wurde auf den Erdhügel gesteckt. Er war nicht mehr. Das Schicksal hatte endlich Erbarmen mit ihm gehabt und ihn von seiner Pein erlöst.
Würde er noch leben und könnte ich irgendetwas wieder gutmachen, so würde ich noch heute zu ihm hinfahren, ihn zu irgendeinem Essen einladen oder ihm zumindest einige Leckerbissen zum Hineinbeißen bringen und ihm als Geste der Entschuldigung meine Hand auf die Schulter legen und ihm zulächeln. Ich würde ihn im Auto mitnehmen, würde mit ihm vielleicht zu einem See fahren, ihm die Gegend zeigen, weil er ja niemals aus unserem Ort herausgekommen ist. Ich würde ihm etliche meiner Kleider schenken und meine allerschäbigsten Hosen, Jacken, Pullover, Westen oder Schuhe sind geradezu Goldstücke gegen das, was dieser Mann an sich trug. Schmutzig, stinkend vor Schweiß und nicht selten mit Löchern versehen. Er wohnte im sogenannten Armenhaus, eine Schüssel voll Suppe wurde ihm täglich von irgendeiner Frau hingebracht und etwas Brot darin eingebrockt. Ein Schluck Milch vielleicht dazu. So genau weiß ich das nicht.
Eine absolute Tragik, so ein Leben führen zu müssen! Doch damals tat mir der Mann keinesfalls leid. Mir nicht und den anderen Kindern anscheinend auch nicht. Echt mies, und es fällt mir schwer, vom zweiten Dorfnarren zu berichten, vom Peckl Peda, wie wir ihn nannten. Von einem Mann, der in einer düsteren Kellerwohnung, besser gesagt, in einem düsteren Kellerloch hauste, ohne Licht, nur eine Kerze brannte manchmal in diesem Loch, aus dem es durchs Fenster an der Hinterseite dieses halb verfallenen Wohnhauses herausstank. Ganz bestimmt auch stank von den Exkrementen, die dieser Mann in einem Kübel verwahrte, in den er seine Notdurft verrichtete, weil kein Klo vorhanden war und er nur dann, wenn der Kübel prallvoll war, diesen zum Bach trug, um den stinkenden Inhalt hineinzuleeren.
Ein Mann mit einem gewaltigen Körperbau, einem wild wuchernden Bart, wirr über seinen Kopf verteiltem Haar und einer tiefen Bass-Stimme. Wenn er die erhob, dann hallte sie wie Donnergrollen herauf zu uns Buben, die wir am Fenster standen und ihn verspotteten. Wir hatten zwar Angst vor diesem Riesen, der tatsächlich aussah wie der Rübezahl, doch wir wussten, dass er nicht zum Fenster herausspringen konnte, dazu war das Fenster zu klein und wohl auch zu hoch vom Boden weg gelegen. Und wenn dieses Fenster im Sommer offen stand, dann warfen wir allerhand Unrat zu ihm in seine Behausung, um ihn zu ärgern. Dazu unser Spruch: "Peda, Peda, du wirst ja immer blöder!" Dann wieder amten wir seine Bass-Stimme nach, wenn er vor sich hinfluchte und uns zum Teufel wünschte.
Doch es blieb nicht beim Verspotten und Ärgern dieses Mannes durch das Fenster allein. Die Mutigsten getrauten sich sogar ins dunkle Innere des Hauses zu gehen, an seine Tür zu pochen, sie womöglich sogar aufzureißen und ihm die lange Nase hineinzuzeigen. Da hieß es aber laufen, denn da ergriff der Peda das nächstbeste Stück, das ihm geeignet schien, um damit auf die Verspotter einzuschlagen, und wie ein wildgewordener Steppenbüffel rannte er zumeist hinter ihnen her. Wehe, er hätte einen davon erwischt. Da hätte mit Sicherheit die Glocke vom nahen Kirchturm für diesen Buben geläutet, und deshalb wagten dieses Spiel auch nur die Allerfrechsten und die Allerschnellsten. Der Frantschgerl und der Dietrich zum Beispiel. Weil sie etwas älter waren als wir. Ich getraute mich anfangs nicht mit ihnen bis zur Tür zu gehen und als ich dann doch einmal mitging, da klopfte mir das Herz bis zum Hals, als die beiden mir deuteten, jetzt an die Tür zu pochen und den Spruch aufzusagen. Junge, Junge, da hatte ich Schiss. Gehörig Schiss, und ich ließ mich lieber als Feigling verspotten, als es doch zu machen. Aber ich ging wieder mit den beiden mit und irgendwann war es dann soweit und der Riese rannte hinter mir her, und ich hatte nur einen Gedanken: nur ja nicht irgendwo anzurennen im Dunklen oder womöglich gar zu stolpern ...
Der Peda war zwar nicht unbedingt ein Dorfnarr und er zeigte sich im Freien nicht viel öfter als der erste Sputnik, wenn wir Buben zumeist vergebens darauf warteten, dass er am nächtlichen Sternenhimmel irgendwo auftauchte und seine Bahn am Firmament zog. Doch die Art wie er hauste, die Laute, die er von sich gab, und vor allem die riesigen Holzpantoffeln, in denen seine gewaltigen Füße steckten, und die er uns Buben gelegentlich nachschoss, wenn er merkte, dass er nicht so schnell laufen konnte wie wir, das alles machte ihn für uns mehr als nur interessant und zu einem Objekt, an dem wir uns "vergreifen" konnten.
Heute muss ich gestehen, dass wir uns dabei echt danebenbenommen haben, und unser Verhalten ist bestimmt durch nichts zu entschuldigen. Und doch haben wir damit sogar ein bisschen Gutes getan und vielleicht haben unsere "Aktivitäten" mitgeholfen, ihnen das Leben ein bisschen interessanter zu gestalten, so dass sie nicht total vereinsamt durch ihr armseliges Dasein trotten mussten.
Wir waren zwar keine Prinzen, die es in unserem Ort ja tatsächlich gab. Doch im Verhältnis zu den Dorfnarren, diesen Ärmsten der Armen, fühlten wir uns manchmal wie Könige. Oder zumindest wie Sonntagskinder ...