Einer meiner Lieblingsspielplätze war neben der Pfarreralm auch die Region rund ums Sägewerk, von dem eine Holzbrücke über den Bach zum sogenannten "Entersbach" führte. Zwei, drei alte Häuser, natürlich ein Stall mit Tieren und vor allem der sofort anschließende, in einen Steilhang mündende Wald bargen für uns Kinder allerlei Möglichkeiten, uns zu vergnügen.
Zum Vergnügen gehörten für uns vor allem geeignete Spielgefährten, denn die Post geht erst dann richtig ab, wenn mehrere Kinder beisammen sind und jeder einen gehörigen Teil zu diesen Vergnügungen mit einbringt. Da gab es die beiden eher wilden Brüder Werner und Walter, dann den sehr ruhigen Heinz und dazu noch die Brüder von der Hanni, den Hubert und den Heini. Weiter oben auf dem Hügel stand noch ein altes Holzhaus, zu dem ein steiler Weg hinaufführte, doch da wohnten keine geeigneten Spielgefährten für uns. Der Hans war schon zu alt für uns und sein Bruder Sepperl noch zu nass hinter den Ohren, um bei uns mitmachen zu können.
Sehr verlockend war wie gesagt der Wald mit den verschiedensten Bäumen. Mit Fichten und Tannen, riesigen Buchen, gewaltigen Eichen und etlichen Föhren. Weil diese Bäume in einem Steilhang standen, deshalb gab es auch den einen oder anderen Felsbrocken zum Herumklettern darauf in diesem Gelände sowie etliche Sträucher und Büsche. Vor allem die Sträucher und Büsche waren es mit ihren Ästen, an denen wir hingen und beinahe wie bei einem Karussell darauf herumturnten. Sehr begehrt waren die hohen Bäume mit ihren riesigen Ästen und es war selbstverständlich, dass wir mit Säge, Hacke, Brettern und einer gehörigen Portion an Nägeln bewaffnet diese Bäume erklommen und Baumhütten errichteten. Zumeist auf Astgabeln mit Brettern am Boden und an der Seite. Natürlich auch mit einem Dach, denn in diesen Baumhütten hielten wir uns oft auf. Vor allem, wenn das Nass vom Himmel fiel, dann sah man uns in diesen Hütten sitzen und den Rauch aus dem einen oder anderen Glimmstängel in unsere Lungen ziehen. Das taten wir deshalb gerne bei Regen, weil wir da ziemlich sicher sein konnten, dass uns nicht irgendwelche unliebsamen Besucher überraschten. Wer von den Erwachsenen ging schon freiwillig hinaus in dieses Sauwetter? Ein Problem hatten wir dennoch damit: wir stanken nach Rauch und das nicht wenig. Oberstes Gebot deshalb nach solchen Rauchorgien: gehörig auslüften und nicht zu früh nach Hause zu kommen, damit unsere Eltern nichts von diesem Duft in ihre Nasen bekamen. Und dichthalten und sich nur ja nicht durch dummes Gerede verraten. Das war bei uns Ehrensache und wehe, einer hätte etwas von diesem verbotenen Tun ausgeplaudert. Dem wäre es bestimmt schlecht ergangen.
Natürlich waren wir zumeist in zwei verschiedene Lager geteilt. Der Rudi, der Toni und ich als Fremdlinge von weiter draußen im Ort und oftmals auch der Dietrich von der Pfarreralm. Wir kämpften und bekriegten uns mit den sogenannten "Entersbachlern" und so mancher blaue Fleck im Gesicht oder irgendwo anders am Körper zierte diesen oder jenen von uns "Kriegern", wenn die Rivalität zu sehr ausartete. Auflauern der Gegner, überrumpeln, fesseln und verschleppen war durchaus normal, und nicht selten landete ein Gefangener in unserem Baumhaus oder wurde an den Stamm gebunden und mit Brennnesseln bearbeitet, sofern er sich nicht demutsvoll ergab. Dieses Verhalten schrie natürlich nach Rache, und fiel einer von uns danach wieder in die Hände unserer Gegner, dann erging es auch uns um keinen Deut besser. Sehr oft entzündeten wir heimlich ein Feuer irgendwo im Wald und mussten dabei streng darauf achten, nur ja nicht allzu viel Rauch dabei entstehen zu lassen. Denn der hätte uns ganz sicher verraten und dann wäre es uns wohl nicht allzu gut ergangen. Feuer im Wald zu entzünden, das war wohl das Allerletzte, was wir uns erlauben durften. Doch umso spannender war es deshalb natürlich. Auch brauchten wir die verkohlten Äste und den Russ, um unsere Gesichter damit zu beschmieren bei unseren Kriegszügen.
Mutproben gab es natürlich auch sehr oft zu bestehen. Wer schafft den Sprung vom größten Felsblock in die Tiefe, wer klettert auf den höchsten Baum und da womöglich ganz hinauf zum Wipfel? Wobei bei diesem Herumklettern hin und wieder ein Absturz nicht zu vermeiden war. Ich selbst bin einmal auf einer Fichte von ziemlich weit oben abgerutscht und in die Tiefe gesegelt, hatte jedoch das Glück, praktisch von Ast zu Ast zu fallen und mich irgendwie mit den Händen immer wieder ein wenig aufzufangen, bevor ich relativ sanft auf dem zum Glück moosigen Waldboden landete. Außer Prellungen und etlichen Hautabschürfungen weiter kein Problem. Kleine Verletzungen standen bei uns an der Tagesordnung, den Weg mit der Rettung ins Spital nach Eisenerz mussten aber nur Wenige von uns jemals antreten. Von einer solchen Fahrt mit dem weißen Bus und dem roten Kreuz darauf muss ich hier dennoch berichten. Weniger von der Fahrt zum Spital, von der weiß ich so gut wie nichts, vielmehr von der Frau, die stöhnend im Inneren des Wagens lag und von dem Vorfall, wie es dazu gekommen war. Mit hängenden Schultern stand ich neben meinen Spielgefährten und Schlimmes ahnend, sah ich dem davonbrausenden Bus nach. Ein Wahnsinn - ausgerechnet mir hatte das wieder passieren müssen ...
Der Heinz war ein lieber Junge, ordentlich, folgsam und in keiner Weise irgendwie vorlaut oder unangenehm. Er hatte pechschwarzes Haar und einen etwas rundlicheren Körperbau als wir. Seinen Vater hat er nie gekannt. Womöglich wusste nicht einmal seine Mutter genau, wer der Gute eigentlich war, und noch weniger, wo er sich eventuell aufhalten könnte. Heinz lebte also mit seiner Mutter allein in einem alten Haus Entersbach, und weil er ein so lieber und braver Junge war, so bekam er eines Tages ein nagelneues Fahrrad geschenkt. Woher seine Mutter das Geld dafür bekommen hatte, das wusste niemand. Egal, das Rad stand eines Tages vor uns und wir rund ums Rad. Und in der Mitte der vor Freude strahlende Heinz als stolzer Besitzer dieses Wundergefährts. Das Rad hatte drei Gänge zum Schalten und dazu noch eine ganz andere Bremse. Mit zwei Hebeln am Lenkrad und keinerlei Rücktritt, wie das bei unseren alten Stahlrössern der Fall war, und einer kaum jemals funktionierenden Vorderbremse. Sein neues Rad hatte zudem Kotflügel vorne und hinten und sogar eine Lampe vorn drauf und auch hinten leuchtete es rot auf, wenn der Heinz den Dynamo ans Vorderrad klappte und das angehobene Rad mit den Händen drehte. Ich musste schlucken. Neidgefühle kannte ich damals noch kaum und doch - mit diesem Gerät war aus dem unscheinbaren Heinz urplötzlich so etwas wie ein Star geworden und wir scharten uns alle um ihn und sein Rad und bewunderten dieses Prachtstück.
Die "Steff", so hieß die Mutter vom Heinz, war eine kleine, rundliche Frau mit einem Hüftleiden, so nehme ich zumindest an, weil sie immer dahinwatschelte wie eine Ente, und ihr Gang erinnert mich an ein schwankendes Ruderboot auf einem See, an dem die Wellen für Bewegung sorgen. Eine ernst blickende Frau, sehr fleißig und stets nett zu uns Buben. Auch dann war sie nett zu uns, wenn wir ihren Heinz wieder einmal nicht ganz so behandelten, wie sie das sicherlich gern gehabt hätte. Er war eben der geeignete Typ, um ihn ein wenig zu sekkieren. Wenn wir das wieder einmal zu ausgiebig praktiziert hatten, dann setzte er sich nicht etwa zur Wehr, indem er uns vielleicht den einen oder anderen Fußtritt versetzt hätte, nein, er lief nur still davon und weinte vor sich hin. Doch diesmal strahlte er übers ganze Gesicht und auch seine Mutter stand daneben und strahlte mit. In weniger als einer halben Stunde strahlte jedoch keiner mehr von beiden. Und es gab noch einen, dem es alles andere als zum Strahlen zumute war ...
"Geh, Heinz, sei nicht so. Mich auch."
Diesen Satz hörte Heinz jetzt beinahe immerfort. Jeder von uns wollte mit dem neuen Fahrrad fahren und nach und nach kam auf unser Bitten hin tatsächlich jeder an die Reihe. Nein zu sagen, das hätte dem Heinz vermutlich nicht viel geholfen, zu wild entschlossen stand die Meute rund um sein funkelnagelneues Rad. So machte Heinz gute Miene zum bösen Spiel und schon sehr bald brauste auch ich mit seinem Rad durch die Gegend. Wunderbar. Ein tolles Gefühl. Und vor allem die Gänge. Damit konnte ich auch ein gutes Stück am steilen Weg hinauffahren. Viel weiter, als ich das jemals mit meinem alten Waffenrad geschafft hätte. Und ich brauste den Weg von weit oben herunter und gleich darauf wieder hinauf. Diesmal noch weiter hinauf.
Ist es nicht sonderbar: An manchen Tagen geschieht so viel Wunderschönes und vielleicht zum Ausgleich gleich darauf wieder etwas ganz Schreckliches. Zumindest kommt es mir manchmal so vor. Schreien die größten Höhen womöglich gleich wieder nach den tiefsten Abgründen?
Um zum Ende der Geschichte mit dem Rad zu kommen: Ich trat wie ein Verrückter in die Pedale, plagte mich den steilen Weg hinauf, hatte dazu natürlich auf den kleinsten Gang geschaltet. Dann konnte ich nicht mehr. Ich schnaufte und meine Beine schmerzten. Das Rad umgedreht, aufgesprungen und ab ging die Post den Steilhang hinunter. Schon von weitem sah ich sie daherschreiten. Links und rechts je eine Kanne mit frisch gemolkener Kuhmilch in den Händen. Watschelnd wie immer. Ich mit einem Mordstempo schon sehr nahe. Dann hatte auch sie mich entdeckt und blieb - stehen. So schön wäre ich noch hinter ihr vorbeigekommen, wäre sie nur noch um ein, zwei Schritte weitergegangen. Ich latschte mit voller Wucht auf den Rücktritt und schon flog die gute Steff in hohem Bogen durch die Luft und mit ihr die beiden Milchkannen.
Meine Freunde standen mit offenen Mäulern da und wussten nicht wie ihnen geschah. Die Steff lag wimmernd am Wegrand und die Milch gluckerte aus den Kannen und rann den Weg entlang. Ich hing mit dem Fahrrad - oder besser gesagt, von dem, was einst ein Fahrrad war - am Gartenzaun und nach und nach kamen bereits die ersten Erwachsenen aus den Häusern gelaufen.
Nach drei, vier Wochen humpelte die Mutter unseres Freundes bereits wieder des Weges. Mit Krücken und einem Gipsbein. Meine Sparbüchse war leer und würde auch für den Rest des Jahres leer bleiben. Das Rad vom Heinz? Das hatte mein Vater einigermaßen repariert und damit wieder fahrbar gemacht. Irgendwie hatte sich mein Vater mit seiner Mutter geeinigt, vor allem wegen der Schmerzen und ihren Verletzungen. Er musste ihr dafür einige Festmeter Brennholz für den Winter aufstellen, und ich wurde dazu verdonnert, dabei Hand anzulegen und musste, anstatt auf dem Fußballplatz, meine Wochenenden im Wald verbringen.
Zum Glück heilt die Zeit zumeist alle Wunden, auch meine Hautabschürfungen waren nach zwei, drei Wochen so gut wie verheilt. Die Steff litt aber einige Monate daran, doch sie hatte mir verziehen. Schuld an dem ganzen Dilemma hatte vor allem der nicht vorhandene Rücktritt. Dieser Rücktritt, der unsere alten Drahteseln ganz ordentlich bremste, wenn wir kräftig darauf latschten, der jedoch beim neuen Rad vom Heinz nicht vorhanden war. Mit dem Rücktritt hätte ich es vermutlich geschafft, den Anprall zumindest abzubremsen und die Muter vom Heinz wäre vielleicht ohne Krankenhausaufenthalt und ohne Gipsbein davongekommen.
So aber - ich hatte wieder einmal ganz einfach Pech ...