Natürlich wollten auch wir uns wenigstens hin und wieder ein Täfelchen Schokolade kaufen und es war herrlich, dann und wann einen Kaugummi aus einem Automaten zu drücken, eine Blase aus dem Mund zu lassen und so lange aufzublasen, bis sie zerplatzte. Doch Taschengeld gab es so gut wie keines. Es sei denn, man verdiente sich irgendwo ein paar Schillinge durch irgendwelche Hilfsdienste. Doch solche Dienste wurden mehr als nur spärlich entlohnt und so standen wir zumeist mit leeren Hosentaschen da, was Geld anlangte.
Dann kam dieser Tag, an dem wir ein bisschen Geld dringend nötig gehabt hätten, weilte doch für einige Tage ein sogenanntes "Tingel-Tangel" in der Erzbergstadt. Mit Autodrom, einem Ringelspiel, Schaukeln, Schießbuden, einer Geisterbahn, Standeln wie beim Kirchtag, mit allerlei verlockenden Begehrlichkeiten, und dazu setzte sich noch der Duft von auf einem Grill brutzelnden Würsten in unseren Nasen fest. Wie heißt es im Volksmund jedoch so treffend:
"Ohne Geld koa Musi!"
Mit den paar Groschen in unseren abgewetzten Lederhosen war kein Staat zu machen. Es ging uns so ähnlich wie es wohl so manchem "Sandler" ergehen wird, wenn er sein verrostetes Fahrrad an einem Autosalon vorbeischiebt, in dem die herrlichsten Karossen durch die Auslagenfenster schimmern. Hinschauen, den Kopf schütteln und schlucken.
Manchmal geschehen sie aber doch, die kleinen Wunder, denn wir waren nicht nur am Ort des Geschehens, sondern brausten quietschvergnügt mit den Wägelchen im Elektro-Autodrom kreuz und quer über das Parkett, wirbelten mit dem Kettenkarussell durch die Luft, hängten uns gegenseitig zuerst an den Ketten zusammen, um dann den Vordermann mit einem kräftigen Tritt an sein Sitzbrett wegzukatapultieren.
Welch erhebendes Gefühl für Knaben unseres Alters, welch Kreischen und Johlen, ehe sich nach etlichen Minuten Fahrt das Ringelspiel mit seinen daran befestigten Sitzen wieder langsam mit uns zu Boden senkte. Wild schossen wir danach an den Schießbuden drauflos, schleckten an Zuckerwatte und türkischem Honig, bevor wir dann noch je eine Bratwurst in unsere Mäuler stopften und uns wehmütig von dieser Stätte des Genießens verabschiedeten, weil wir sonst den letzten Zug nach Hause ganz sicherlich versäumt hätten. Zufrieden saßen wir in unserem Waggon und blickten hinaus aus dem halboffenen Fenster. Sahen wie der Erzbach an den Geleisen vorbeirauschte, spürten den Rauch aus der Dampflok an unseren Nasen vorbeiziehen und waren rundum satt und zufrieden. Alles hatte bestens geklappt. Zumindest, bis der Schaffner auftauchte. Denn jetzt sollte sich herausstellen, ob unser Plan auch tatsächlich funktionierte, und als ich den Mann in seiner Uniform und der Kappe auf dem Kopf auf uns zukommen sah, verspürte ich plötzlich ein leichtes Drücken in der Magengegend.
Wer von uns kennt es nicht, dieses Gefühl, wenn man in der U-Bahn einmal "schwarz" fährt? Oder in der guten alten Tram, schaffnerlos, und nur fallweise von Kontrolleuren begutachtet? Das bringt einige Minuten erhöhtes Herzklopfen mit sich und beim Aussteigen dann die Erleichterung. Geschafft! Tief bläst so ein Schwarzfahrer den Atem aus der Lunge, blickt noch einmal zurück zum abfahrenden Wagen und ein Lächeln huscht womöglich über sein Gesicht. Bei meiner Idee mit dem zusätzlichen Taschengeld war das so ähnlich, und es gab durchaus auch dieses Herzklopfen. Der Unterschied lag darin, dass sich dies bei mir einen ganzen langen Monat und dazu täglich zweimal wiederholte. Und das Aufatmen danach war jedes Mal gleich groß.
Doch wie war es dazu gekommen?
Jede Woche gab es von unseren Eltern Geld für die Buskarte. Eine Wochenkarte, die täglich vom Chauffeur mittels einer Lochzange gezwickt wurde. Beim Einsteigen in den Bus mussten wir Schüler diese Karte dem Fahrer entgegenhalten und der Mann am Fahrersitz waltete seines Amtes. Da ging kein Weg daran vorbei. Bezahlen oder zwicken. Absolut keine Chance, eine Gratisfahrt machen zu können. Anders verhielt sich dies bei der Fahrt mit dem Zug. Da gab es für uns Fahrschüler die Monatskarten, wie ich ja bereits weiter vorne berichtet habe. Zu lösen an den verschiedenen Bahnhöfen für die jeweils mitreisenden Fahrschüler. Aus Lainbach, Landl, Hieflau, Großreifling, Radmer, Jassingau, Münichtal. Verschiedenste Schüler also und dazu Schaffner, die sich im Fahrdienst abwechselten. Nette Menschen, die durchaus ihre Pflicht taten und die es nicht immer leicht mit uns Schülern hatten, was Ordnung und Disziplin anlangte. Doch unsere Schaffner waren durchwegs verständnisvoll und tolerant und nur selten mussten sie tatsächlich ihres Amtes walten und disziplinieren. Zudem hatten sie die Aufgabe, die Fahrkarten der Reisenden zu kontrollieren. Damals bestanden die Fahrkarten noch aus kleinen Kartonstückchen mit dem notwendigen Aufdruck über Fahrpreis und Fahrtziel. Auch wir Fahrschüler hatten eine derartige Monatskarte und sollten sie täglich mit unseren Schulutensilien mitführen. Am Monatsbeginn achteten die Schaffner darauf, dass diese Monatskarten wohl auch ordnungsgemäß von den Fahrschülern gelöst worden waren und dass die Schüler diese auch bei sich hatten.
Jetzt war es soweit. Der Schaffner stand vor uns und wir zückten unsere Monatskarten. Ich, mit dem flauen Gefühl in der Magengegend, dem erhöhten Herzklopfen und der "alten" Monatskarte in der Hand. Meine Freunde Rudi, Toni und Günter hielten dem Schaffner ihre Karten entgegen. Er nahm die Karte vom Günter, besah sie und gab sie mit einem Nicken zurück. Der nächste war der Toni. Der Schaffner nahm seine Karte in die Hand, besah sie kurz und gab sie auch dem Toni mit einem Nicken zurück. Dann war der Rudi an der Reihe. Er saß wie ich weiter hinten auf der Bank. Er streckte die Karte dem Schaffner entgegen, der Zug rumpelte über die holprigen Schienen, so dass der Mann in Blau die Hand danach ausstreckte, etwas mühsam die Karte entgegennahm, einen Schritt zur Seite machte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, seinen Blick auf die Karte heftete und danach wieder zurückgab. Jetzt streckte ich meine Hand dem Schaffner entgegen, er besah sie kurz und nickte! Dann ging er zum nächsten Abteil.
Natürlich wurden die Fahrkarten auch während des Monats kontrolliert. Aber nur noch spärlich. Da genügte es, wenn man sie dem Schaffner aus der Ferne hinhielt. Herzklopfen war dabei immer angesagt, hätte er meine Karte näher angeschaut. Denn ich hielt ihm jedes Mal die vom Vormonat hin. Und bei der Erstkontrolle? Da tauschte der Günter blitzschnell seine Karte mit mir, während der Schaffner die vom Rudi anschaute. Weil auf den Karten kein Name stand und alle Karten gleich aussahen, deshalb ging der Schwindel gut aus. Ein zweites Mal hätte ich das Risiko nicht auf mich genommen. Es war mir doch etwas zu stressig, einen ganzen Monat lang mit diesem flauen Gefühl im Magen dahinzufahren.
Wie heißt es doch so schön: "Wer nicht wagt, der kann auch nicht gewinnen!", und es wäre doch zu schade gewesen, wenn wir an diesem wunderschönen Nachmittag nicht beim "Tingel-Tangel" die "Sau" rausgelassen hätten, sondern womöglich brav zu Hause hinter unseren Hausaufgaben gesessen wären.
Mein Monatskartengeld war diesmal nicht der Eisenbahn sondern wohl eher der Wirtschaft zugute gekommen ...