"Da, schau. Da ist schon einer!" "Wo?" "Da vorn. Ein richtig Großer." "Jetzt seh ich ihn. Wahnsinn." "Langsam! Und ganz nebeneinander müssen wir gehen!" "Ja."
Mein Freund Rudi und ich hielten unsere Taschenlampen in der Hand und leuchteten ins Dunkel der Röhre. Das Wasser reichte uns etwa bis zu den Knien und wurde mit jedem Schritt nach vor seichter. Und dennoch schwappte es beim Gehen in unsere Gummistiefel und füllte sie prallvoll. Die Abenteuerlust hatte uns wieder einmal so richtig gepackt. In der zweiten Hand hielten wir je eine Milchkanne und gebückt schlichen wir dahin. Die Röhre, in der wir uns befanden, war nicht viel breiter als wir und zu niedrig, um aufrecht darin gehen zu können. Dieser Schacht führte vom Bach aus unterirdisch ca. hundert Meter weit hinein bis zum Sägewerk, das zum Teil mit Wasserkraft angetrieben wurde - an diesem Sonntag jedoch außer Betrieb war. Wir waren zuvor mit unseren Rädern zu der Stelle gefahren und hatten das Wehr fast zur Gänze zugedreht. Das war für unseren Plan notwendig und deshalb floss jetzt nur wenig Wasser auf uns zu. Es rauschte und gluckste und unsere Stimmen dröhnten gespenstisch in der Röhre, während das Licht aus unseren Taschenlampen sich im Wasser spiegelte und unsere Augen krampfhaft auf die gerichtet waren, auf die wir es an diesem Sommertag abgesehen hatten. Mit klopfenden Herzen wateten wir immer weiter hinein in dieses unterirdische Dunkel. An die fünfzig Meter mochten wir wohl schon in Richtung Säge gegangen sein, es ging jetzt leicht bergauf und das Wasser war mittlerweile nur noch knöchelhoch. Und da waren sie plötzlich - drei, vier, fünf Schatten. Direkt vor uns im Lichtkegel unserer Taschenlampen.
"Ganz langsam! Die fassen wir uns!" "Ja. Die entwischen uns nicht mehr."
Die Röhre war noch niedriger geworden und wir stießen trotz unserer gebückten Haltung beinahe mit den Köpfen an den oberen Rand. Vor uns tummelten sich jetzt immer mehr Fische, die wir aufgescheucht und durch unser Nachvorschreiten vor uns hergetrieben hatten. Jetzt war es soweit.
"Halt die Kanne und meine Lampe!"
Ich stürzte mich auf den ersten und irgendwie konnte ich ihn fassen. Vor allem, weil das Wasser jetzt bereits so seicht war, dass die Fische zum Teil schon aus dem Wasser ragten und nur noch schwer nach vor weiterschwimmen konnten.
"Da, ab in die Kanne mit ihm."
Einige Fische merkten wohl die Gefahr und drehten blitzartig um und, obwohl wir ihnen den Weg abzusperren versuchten, zischten sie zwischen unseren Beinen hindurch zurück in die Freiheit. Doch vier herrliche Stücke hatten wir schließlich gepackt und in die Kannen gesteckt. Dazu Wasser gegeben, damit sie nicht ersticken konnten. Doch unsere Freude währte nicht lange. Kaum hatte ich den letzten Fisch in Rudis Kanne gesteckt, da hörte ich ein verdächtiges Rauschen. Von weit weg dröhnte und zischte es.
"Hörst du? Komm! Schnell!" "Was?" "Das Rauschen. Es wird lauter. Da kommt Wasser. Schnell! Lauf!"
So schnell wir konnten, liefen wir gebückt zurück. Das Wasser stieg höher und höher und wir liefen mit den Kannen in der Hand dahin. Keuchten und liefen. Jetzt riss die Strömung uns beinahe von den Beinen. Endlich Tageslicht vor uns. Noch zwanzig Meter. Das Wasser schon in Bauchhöhe und reißend. Einmal flog ich hin und rutschte irgendwie weiter. Die letzten Meter schwemmte es uns beinahe durch die Röhre, dann waren wir draußen. Keine Sekunde zu früh.
"Das war knapp!" "Hast du die Kanne?" "Ja!"
Keuchend standen wir am Bachrand. Keuchend aber glücklich und wir hatten die Fische, das war das Wichtigste. Meine Taschenlampe hatte ich leider verloren, die war mir irgendwann aus der Hand gerutscht, als es bereits ziemlich eng für uns war. Zehn Sekunden länger und das Wasser hätte die Röhre ganz gefüllt, weil irgend jemand das Wehr für den Zulauf des Wassers zum Sägewerk wieder aufgekurbelt hatte. Daran hatten wir beim Hineingehen nicht gedacht.
Die Sache war gut ausgegangen. Rudis Mutter hat uns die Forellen gebraten, nachdem wir sie in den Milchkannen nach Hause gebracht hatten und sie zuerst noch im Brunntrog in der Waschküche herumschwimmen ließen. Meine Eltern durften vom Fische Fangen nichts erfahren. Es war schließlich verboten und Verbotenes macht man nicht! Da hätte mein Vater kein Verständnis aufgebracht. Zum Glück war Rudis Mutter nicht so zimperlich. Schließlich hatte uns dabei ja niemand gesehen, sagten wir zumindest. Und so war es ja auch. Die paar Fische, die wir Buben gelegentlich aus dem Bach fischten, würden die Gutsherrschaft sicherlich nicht ärmer machen. Den einzigen echten Schaden hatte ich, denn meine Taschenlampe war weg. Leider nicht mehr zu finden. Ein schönes Stück, mit dem ich schon manches Dunkel durchdrungen hatte. Schade. Onkel Jörg hatte sie mir einmal aus Frankfurt mitgebracht.
Hätte uns damals irgend jemand befohlen in diese unterirdische Röhre zu steigen, an die 50 Meter im Licht schlecht leuchtender Taschenlampen gebückt durchs kalte Wasser zu latschen, mit dem unheimlichen Rauschen und Dröhnen rings um uns her, um einige Fische aus diesem Kanal zu holen, wir hätten uns vermutlich dagegen gesträubt. So aber reizte uns das Verbotene, reizte uns die Gefahr des womöglich dabei erwischt Werdens, lockte uns das Abenteuer. Dass wir bei diesem kleinen Abenteuer ungewollt unser Leben aufs Spiel gesetzt hatten, das war natürlich der Überhammer. Auch wenn ich keinesfalls ein Sonntagskind war, so hatten wir dennoch Glück gehabt.
Denn - die Angelegenheit hätte durchaus schief gehen können ...