Der "Wanti" war ein lieber Kerl, Sohn eines Revierjägers der Hohenbergschen Forstverwaltung und wohnhaft im sogenannten "Krautgarten", etwa zwei Kilometer von der Bahnhofstation Radmer in Richtung unseres Ortes gelegen. Dort wohnte der Haselwanter mit seinen Eltern im alten Forsthaus mit dem riesigen Hirschgeweih über der Eingangstür, dem untrüglichen Erkennungszeichen an Häusern von Jägern und Förstern. An seinen Vornamen kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Für uns war er ganz einfach der "Wanti", so wie mich meine Freunde den "Zwirn" nannten, der Rudi der "Stubs", der Toni der "Staberl" und der Günter ganz einfach der "Gü" für uns war. Warum, das kann ich wirklich nicht sagen, es war ganz einfach so. Beinahe jeder von uns hatte einen "Spitznamen" wie das auch heute noch manchmal der Fall ist.
Der Wanti war ein mittelgroßer Bub, eher zurückhaltend, ruhig und bescheiden in seinem Auftreten. Nur hin und wieder prahlte er, wie schnell er doch laufen könne, aber damit hatte es sich schon. Ansonsten war er eher scheu wie das Wildbret, das im Wald rund um sein Elternhaus sein Dasein fristete. Aber genauso wie Hirsch und Reh, Fuchs und Hase durchaus wendig, von drahtiger Figur und lieblich anzusehen. Wenn wir wieder einmal irgendeinen besonderen Streich ausführten, dann schaute er zumeist nur still zu und schmunzelte dazu ein wenig. Doch er war keinesfalls ein Muttersöhnchen im sprichwörtlichen Sinne, er war zuverlässig und verschwiegen und niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, irgendeinen von uns wegen irgendwelcher Streiche bei irgendwem zu verpetzen. Zumindest hatte ich diesen Eindruck von ihm. Doch eines Tages hatte er gar keine Wahl, etwas zu vertuschen und würde es sich dabei nicht um eine Story mit einem eher ernsten Ausgang handeln, so müsste ich womöglich heute mit mehr als nur einem Schmunzeln daran zurückdenken. Meine Freunde werden vielleicht darüber lachen, sofern sie die Geschichte lesen. Doch damals, als sich diese Story zutrug, da war allen Beteiligten das Lachen gründlich vergangen.
Unser Erzberg in Radmer war eher klein, gemessen am riesigen Erzberg in Eisenerz. Deshalb waren auch bei weitem nicht so viele Kumpels beim Erzabbau und allem, was dazugehörte, beschäftigt. Zwar wurde auch bei uns einmal am Tag eine Sprengung vorgenommen, wobei manchmal die Gesteinsbrocken hunderte Meter weit durch die Gegend flogen, nicht selten sogar bis auf die Dächer oder an die Wände der umliegenden Häuser. Das war zwar einigermaßen gefährlich, doch die Menschen zogen sich durch vorheriges Warnen mittels einer Sirene jedes Mal bis zur Entwarnung in die Häuser zurück. Und obwohl damals bei uns noch kaum jemals ein Auto irgendwo zu sehen war, wurde auch die Straße vorbei am Erzberg für die Zeit der Sprengung abgesperrt. Der Großteil des abgesprengten Materials blieb jedoch in unmittelbarer Nähe liegen, bevor es in mühsamer Arbeit von den Kumpels mit allerlei Gerät eingesammelt und abtransportiert wurde.
Etliche dieser Bergknappen waren am Tagbau beschäftigt, andere wiederum mussten täglich hinein in die engen Löcher, hinab in die Stollen im Inneren des Berges. Mit Karbidlampen ausgerüstet, um eventuelle Gefahren der Sauerstoffzufuhr frühzeitig zu erkennen und zusätzlich trugen die Bergleute noch Leuchten an ihren Schutzhelmen. Zudem waren sie mit Spitzhacken, Hämmern, Bohrern und Meißeln ausgerüstet und sie hatten auch dicke Stiefeln mit ehernen Schutzkappen für die Vorderfüße an den Beinen. Im beinahe schon gespenstischen Licht der Kopf- und Karbidlampen versuchten die Männer den Stollen Meter für Meter voranzutreiben, herabstürzendes Gestein wegzuschaffen, die Wände zu stützen und abzusichern, eventuell einsickerndes Wasser abzuleiten und das aus dem Berg gehackte Eisenerz einzusammeln und zur Sortieranlage zu bringen. Schwerstarbeit und mitunter lebensgefährlich und wenn die Knappschaft sich am frühen Nachmittag am örtlichen Friedhof versammelte, die Blasmusik die Klänge zum Bergwerkslied vernehmen ließ, der örtliche Männergesangverein das "Näher mein Gott zu dir ..." vortrug, der Pfarrer ergreifende Abschiedsworte sprach und eine schwarz gekleidete Witwe, gestützt von Verwandten oder Freunden mit rotgeweinten Augen am offenen Grab stand, Kinder schluchzten und so manche Träne über dieses oder jenes Gesicht der Anwesenden rann, dann hatte es wieder einmal einen beim Erzabbau im Berg erwischt, und am nächsten Tag fuhr ein Kumpel weniger in dieses Dunkel innerhalb des Erzbergs hinein.
Eine Strophe des Bergmannsliedes will ich hier einfügen, weil dieses Lied für mich trotz der oftmals traurigen Anlässe so wunderbar in meinen Ministranten-Ohren klang, wenn ich neben dem Pfarrer am Grab stand und er den Weihrauchkessel über dem Sarg schwenkte. Das war das Zeichen für den Männergesangverein, in dem ja viele Kumpels mitsangen, und sie stimmten das Bergmannslied an: "Der Bergmannsstand sei hoch verehret, es lebe hoch der Bergmannsstand! Wenn er auch das Tageslicht entbehret, so tut ers doch fürs teure Vaterland. Ja den Söhnen der Gruben und der Berge reicht ein jeder freundlich die Hand. Es lebe hoch, es lebe hoch, es lebe hoch der Bergmannsstand!"
Zurück zu meiner Geschichte mit dem "Wanti", die ja nur indirekt mit dem Erzberg zu tun hat bzw. mit den dort beschäftigten Bergleuten. Unser Bergbau benötigte nicht allzu viele Männer zum Abbau und deshalb fuhren einige Männer aus unserem Ort täglich mit dem Bus oder Zug nach Eisenerz, um dort ihr Brot zu verdienen. Einer dieser Männer hatte die Angewohnheit, mit seinem Motorrad bis zum Bahnhof Radmer zu fahren, dort in den Zug zu steigen und mit dem Dampfross weiter zur Stätte seines Wirkens. Warum auch immer. Sein Motorrad, eine damals relativ neue Puch 175 lehnte stets ein wenig abseits des Bahnhofs an der Holzwand einer dort aufgestellten Hütte.
Beinahe täglich lehnte das Motorrad dort und beinahe täglich bestaunten wir es. Klammheimlich setzten wir uns ab und zu auf den Vorder- oder Rücksitz, achteten allerdings streng darauf, nur ja nicht vom Besitzer dabei erwischt zu werden. Denn mit diesem Mann war nicht zu spaßen und hätte er uns auf seiner Maschine erwischt, dann hätte es ganz bestimmt nicht nur ermahnende Worte gesetzt. Deshalb war absolute Vorsicht geboten und wir näherten uns dem Motorrad immer wie Indianer, die sich an einen feindlichen Stamm oder an eine Büffelherde heranschleichen. Mit dem einzigen Unterschied, dass wir unsere Gesichter nicht extra wie diese auf ihren Kriegspfaden bemalten, sofern sie nicht ohnehin bereits vor Staub und Schmutz strotzten. Aber es war auch bei uns nicht anders wie dies zumeist überall im Leben ist: Das Verbotene reizt mitunter am meisten. Hin und wieder mussten wir es ganz einfach tun drehten am Gasgriff, drückten den Lichtschalter hin und wieder zurück, schwangen uns auf den Sattel und hielten uns dabei am Lenker fest. Am liebsten hätten wir natürlich auch den Starthebel hinuntergetreten, ohne damit die Maschine jemals in Gang bringen zu können, fehlte uns dazu doch der Startschlüssel, den der Fahrer jedes Mal ganz oben an die Lampe steckte, danach hineindrückte, und erst dann den Starthebel herausklappte und mit einem Bein mehrfach hinuntertrat. Zuerst vorsichtig, doch wenn das Motorrad nicht gleich ansprang, dann trat der Troppacher, so hieß der Besitzer, wie wild und zudem zumeist fluchend den Hebel hinunter. So lange, bis der Motor knatternd seine Arbeit aufnahm. Ab und zu musste er seine Maschine sogar anrennen. Dann, wenn alles Hinuntertreten nichts nützte und erst ein Anrennen den gewünschten Erfolg mit sich brachte.
Wer von uns die Idee dazu hatte, das weiß ich nicht mehr so genau, meine Spezels werden natürlich sagen, ich hätte den Vorschlag gemacht, doch immer und überall war ganz bestimmt nicht ich der Anführer. Wie auch immer eine leere Konservendose lag auf dem Boden und wir stiefelten sie ein wenig herum. Plötzlich lag sie genau vor dem Motorrad. Ganz in der Nähe der Benzinleitung.
Damals erging es mir so ähnlich wie vor Jahren dem Kater meines Bruders, dem Mohrli, als er sich in unerlaubter Weise über die friedlich im Herdloch vor sich hinpiepsenden Küken der Tags zuvor verendeten Bruthenne gemacht und ob dieser Schandtat ordentlich den Stecken zu spüren bekommen hatte. Tagelang bekamen wir ihn nicht zu Gesicht, weil er irgendwo im Wald mit schmerzverzerrtem Rücken vor sich hinstolperte und kein noch so leises Miauen aus seinem Maul drang. Und auch ich hielt mich so gut ich konnte von allem fern, was sich bewegte, auch ich schlich schon eher durch die Gegend, als dass ich ging. Mit gebeugtem Rücken und noch immer irgendwie gesenktem Kopf. Und ganz bestimmt auch ein wenig reumütig. Außerdem schwieg ich vor mich hin, so als hätte ich meine Zunge verschluckt. Zu deutlich und nicht weniger schmerzhaft hatte mir mein Vater seine Meinung kundgetan, was er von so einem missratenen Sohn halten würde, der mit seinen Lausbübereien nicht nur andere Leute in Angst und Schrecken versetzen, sondern zudem durch den zu ersetzenden Schaden auch noch für ein weiteres Loch in der ohnehin immer nur spärlich gefüllten Haushaltskasse sorgen würde.
Was war geschehen?
Ich hob die Dose auf, zog mit einer Hand am nur lose angesteckten, etwa Kleinfinger dicken Benzinschlauch hin zum Vergaser, hielt den Schlauch über die Dose, drehte den Benzinzufuhrhebel von "zu" in Position "auf", ließ den aus dem Schlauch kommenden Benzin in die Konservendose rinnen und drehte den Hahn wieder zu. Dann sagte ich zu einem meiner Freunde, sie sollten den Schlauch wieder anstecken. Der Toni, der Günter, der Rudi und auch der Wanti standen vor mir und schauten interessiert zu. Wer von uns die Zünder aus der Tasche zog, das kann und will ich hier nicht verraten. Ich nahm letztlich alle Schuld auf mich und musste die Suppe mehr oder weniger allein auslöffeln. Einer von uns hielt die Dose in der Hand, ein anderer die Streichhölzer. Eine Stichflamme, ein Schrei und dann sah man einen Knaben im Schweinsgalopp davon hetzen.
Die Dose war in Sekundenbruchteilen heiß geworden und der, der sie in seiner Hand gehalten hatte, der warf sie ganz einfach weg. Im Schreck irgendwo hin. Dass sie dabei dem Wanti direkt an die Brust klatschte, das war Pech. Dass sein Jankerl daraufhin lichterloh zu brennen anfing, ebenso. Er war, wie bereits erwähnt, ein guter Läufer, er rannte auf und davon und ich hetzte hinter ihm drein, bevor ich ihn nach etlichen Metern zu Boden reißen konnte. Gleich darauf waren die Flammen gelöscht, doch sein neuer Schuljanker war verkohlt und dort, wo einst Augenbrauen und Wimpern sein Gesicht geziert hatten, da war nichts als Russ zu sehen und er sah tatsächlich aus wie ein Uhu nach dem Waldbrand.
Absolut ein Schmarren, die ganz Sache, und überdimensional groß der damit verbundene Ärger. Damals hab ich mir gewünscht, irgendwann einmal ein ganz normaler unscheinbarer Mutter-Sohn sein zu dürfen, brav und artig alles von mir Verlangte auszuführen, immer höflich und nett zu grüßen, alle von mir verlangten Arbeiten und Aufgaben korrekt zu erledigen und vor allem niemals wieder auf derart blöde Ideen zu kommen ...