Einfach herrlich dieses Stahlross, wie es schnaubte und die Waggons hinter sich herzog, bevor die Garnitur quietschend auf den Geleisen vor dem Bahnhof zum Stillstand kam. Hurtig kletterten wir die Trittbretter hoch und schon waren wir im Inneren. Wie im Bus gab es auch im Zug so etwas wie Stammplätze, wobei die besten Plätze an den Fenstern natürlich von den "Großen" besetzt waren und die besten übrigen Plätze zumeist von den Fahrschülern aus Hieflau, Gams, Großreifling und Landl belegt wurden. Von Schülern also, die bereits im Zug saßen, während wir Radmerer erst jetzt zustiegen. So mussten wir zumeist mit dem vorlieb nehmen, was an freien Plätzen übrig geblieben war. Unsere "Großen" verschafften sich dennoch Respekt und sie vertrieben die "Kleinen" bereits im Zug Sitzenden von so manchem Fensterplatz, was diese auch respektierten und murrend Platz machten. Manchmal waren dabei Reibereien nicht zu vermeiden.
Begehrt waren die Fensterplätze vor allem in den Monaten, wo es im Waggoninneren heiß und stickig war, nach Schweiß und Schulstress roch und somit ein Öffnen des Fensters mehr als nur willkommen war. Öffnen konnten diese Fenster aber nur die, die auch an solchen Fenstern saßen, und ganz allein sie bestimmten, wann geöffnet wurde und wann eben nicht! Und noch etwas Gutes hatte so ein Fensterplatz an sich: Bei geöffnetem Fenster konnte man nicht nur genussvoll hinausspucken, sondern vor allem seinen Kopf hinauslehnen und sich den Fahrtwind dabei wunderbar ins Gesicht blasen lassen. Was allerdings nicht immer ganz ohne Folgen blieb und mancher seinen Kopf sehr schnell wieder ins Innere zurückzog und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Augen rieb, weil ein winziges Stückchen Kohle aus der qualmenden Lok sich ausgerechnet dorthin verirrt hatte. Das kam nicht selten vor und war tatsächlich einigermaßen schmerzhaft und alles andere als angenehm. Wer clever genug war, hielt seinen Kopf eben so, dass er nicht direkt in den daherziehenden Rauch schauen musste.
Fensterplätze damals von uns Fahrschülern ebenso begehrt wie vielleicht heute ein Fensterplatz in einem Jet bei einem Überseeflug, um dabei den einen oder anderen Blick hinunter oder einen Sonnenauf- oder Sonnenuntergang vom Flieger aus genießen zu können. Aber uns ging es nicht so sehr um die Aussicht, die Gegend kannten wir ja schon zur Genüge und war für uns Schüler deshalb kaum noch interessant. Viel interessanter waren die Insassen. Vor allem die Insassen mit den langen Zöpfen und den manchmal bereits etwas rötlich gefärbten Lippen. Denen konnte man mit einem Fensterplatz womöglich sogar ein bisschen imponieren, sofern man diesen für so ein Wesen zu reservieren imstande war. Was wiederum vor allem den "Großen" wesentlich leichter gelang als irgendwelchen "Nobodis". Die rohe Kraft regierte! So war das nun einmal! Das galt natürlich auch für mich als einen der "Kleinen".
Eines Tages jedoch konnte ich mich anscheinend doch nicht so ganz damit abfinden und schon sehr bald sah man mich in eine wüste Keilerei mit zwei Schülern aus Hieflau verwickelt. Da tauchte der Mann in Schwarz auf, um zu schlichten. Der Mann mit der weißen Schleife um den Hals und der schwarzen Kappe auf dem Kopf. Das Kreuz baumelte an seiner Brust, während seine geweihten Hände versuchten, mich von meinen Widersachern loszureißen. Doch ein Terrier lässt sich nicht so schnell aus einem Fuchsbau entfernen, sofern er bereits das Gefecht mit dem Rotrock aufgenommen hat. Und so war das auch bei mir. Ich kratzte, biss und trat kräftig zu und übersah dabei anscheinend ganz, dass ich in meiner Wildheit auch dem Hieflauer Pfarrer bedenklich nahe gekommen war.
Einer meiner Mitschüler hatte nach dreißig Jahren die Idee, ein Klassentreffen zu organisieren. Wunderbar. Etliche Männer sahen tatsächlich noch so aus wie damals. Zumindest hätte ich sie sofort wiedererkannt, einige andere hatten sich total verändert, die hätte ich ganz bestimmt nicht mehr erkannt. Doch zurück zum Klassentreffen. Auch unser ehemaliger Klassenvorstand Fritz war eingeladen. Natürlich längst pensioniert und einigermaßen gealtert. Wie könnte es auch anders sein, doch wir freuten uns sehr, ihn wieder einmal zu sehen. Noch dazu bei einigermaßen guter Gesundheit. Und der Fritz hatte etwas mit, womit er uns echt überraschte. Den Klassenkatalog aus unserer 1. Klasse. Genüsslich blätterte er darin, ehe er kurz um Aufmerksamkeit bat, mit seinem Finger ins Innere des Kataloges zeigte und seinen Blick auf mich heftete, ehe er loslegte: "Das muss ich ganz einfach vorlesen, das ging damals ja wie ein Lauffeuer durch die Schule. Kratzt und beißt den Hieflauer Pfarrer!"
Das Gewieher war groß und meine ehemaligen Mitschüler hoben ihre Gläser und sprachen einen Toast auf mich aus.
Weniger groß war zig Jahre zuvor allerdings die Freude beim Hochwürden im Zug gewesen und noch weniger bei mir danach, musste ich doch wieder einmal ganz allein die Suppe auslöffeln, die ich mir in dieser leidigen Angelegenheit eingebrockt hatte. Dabei mochte ich die Pfarrer irgendwie. Vielleicht deshalb, weil sie im allgemeinen schön zu sprechen pflegten. Die Worte aus ihrem geweihten Mund klangen irgendwie anders, feiner, vornehmer als die der übrigen Menschen. Vielleicht zu vergleichen mit klassischer Musik da und Volksmusik dort. So kommt mir das heute irgendwie vor. Was nicht heißt, dass ich nicht auch die Volksmusik mochte, gehörte ich ja auch dieser Gruppe an, die solche Musik spielte. So wie die allermeisten Menschen in unserem Tal. Und wie diese ging auch ich gerne zur Messe in die Kirche. Als Ministrant bei Festen und Feiern.
Kirchen haben auch noch heute für mich einen besonderen Reiz und jedes Betreten eines Gotteshauses tut mir irgendwie gut. Die Pfarrer gehörten eben auch zur Kirche. Wie die Glocken im Turm, der Duft des Weihrauchs und die an manchem Marienaltar vor sich hinbrennenden Kerzen, das Licht an den Glasmalereien der Fenster, die Andacht der in der Kirche Betenden, die Orgelmusik und die Gesänge der Gläubigen. Ich mochte also die Herren in den schwarzen Gewändern, vor denen sogar unsere Fürstin sich ein wenig verneigte. Ganz wenig allerdings nur wie mir schien.
Einmal hatte ich allerdings ein bisschen Stress mit unserem Pfarrer. Als ich vor der Kommunion am Altar stand und zwei Glaskännchen in meinen Ministrantenhänden hielt. Eines davon mit Wasser gefüllt und ein anderes mit Messwein. Der Pfarrer wollte diese göttlichen Gaben zu sich zu nehmen und ich sollte ihm zuerst Wein und dann Wasser in den Kelch schütten, den er in seinen geweihten Händen hielt. Beim Wein hielt er den Kelch tief, so dass ich ordentlich hineinschütten konnte. Besser gesagt, hineinschütten hätte können. Aber ich schüttete nur ganz kurz und er forderte mich indirekt auf, mehr hineinzuschütten, indem er den Kelch noch tiefer tauchte und dazu mit seinem Kopf nickte. Doch ich tat, als hätte ich das nicht gesehen. Ärgerlich trank er. Dann kam der Kelch wieder herab, ich nahm das Kännchen mit dem Wasser, fing an, hineinzuschütten, doch der Pfarrer fuhr mit dem Kelch sehr schnell hoch, um nicht zuviel Wasser abzubekommen. Doch ich stellte mich auf meine Zehenspitzen und schüttete ordentlich nach.
Das gab nach dem Gottesdienst eine Belehrung in Sachen Verhalten am Altar. Was vor allem die Menge des Weines und des Wassers betraf. Für ein, zwei Wochen hatte ich außerdem meine Position "rechts innen" an meine Freunde verloren. Wurde - vielleicht, um mich zu besinnen - sozusagen vom "Chef" als Strafe zum Mitläufer degradiert ...