Wenn der erste Schnee zu erwarten war gingen wir Buben in die Holzhütten, organisierten Bretter und dünne Pfosten, von denen es Unmengen gab, weil unsere Väter ja die Holzarbeit zu ihrem Beruf gemacht hatten. In jeder Holzhütte gab es außerdem zahlreiche Sägen, Hacken und sonstiges Werkzeug, das jederzeit für uns greifbar war. Wir schnitten Bretter zurecht, schlugen die Pfosten in den Wiesenboden und nagelten die Bretter daran fest. Auf diese Weise bauten wir zumeist noch vor dem ersten Schneefall eine Schanze in die Wiese hinter unserem Haus. Jetzt brauchte nur noch der Schnee zu kommen und schon segelten wir mit unseren Holzlatten darüber. Mit lautem Hurra, denn Schanzenspringen war wohl das Allerschönste, was wir Buben uns vorstellen konnten. Doch bei der Schanze aus Brettern blieb es natürlich nicht, und wenn es richtig geschneit hatte, dann bewaffneten wir uns mit Schaufeln und los gings gleich nach der Schule. Dann schaufelten wir den Schnee zusammen und errichteten damit diese oder jene Schanze, markierten die Anlaufspur links und rechts mit Fichten- oder Tannenreisig und steckten vorne auf der Schanze zu beiden Seiten noch zwei mittellange Zweige hinein, um den Absprung genau zu markieren. Mein Bruder Herbert sprang natürlich auch, doch die besten Springer waren mein Freund Rudi und ich, wir segelten am wildesten und beinahe immer auch am weitesten durch die Gegend.
Es war ein Tag wie er sich schöner kaum zeigen konnte. Es gab Berge von Schnee, die Sonne lachte vom Himmel und wir Buben waren an der Schanze. Rudi und ich und auch einige Nachbarbuben aus dem Ort machten mit und wir segelten mit lautem Gejohle durch die Luft. Rudi sprang in etwa immer gleich weit wie ich, einmal hüpfte er um einen Meter weiter, dann wieder ich. An die acht bis zehn Meter weit sprangen wir über unsere Lieblings-Schanze. Doch wir sprangen nicht nur dort, wir nützten jeden Hügel, jede Bodenwelle, um darüber zu springen. Besonders gut eignete sich dazu der Weg hinauf zur Kirche, der an einem steilen Wiesenhang vorbeiführte. Besonders gut deswegen, weil wir mit unseren Holzlatten am Hangende noch einige Meter im Flachen dahinfahren mussten, und es vor dem Weg sogar noch ein wenig bergauf ging, so dass eine Art Loopingschanze entstand. Was für ungeübte Springer zur Falle wurde, und deshalb landete so mancher auf dem Rücken und nicht auf den Schiern. Diesen Weg hatten wir uns auch diesmal zum Drübersegeln ausgesucht.
Rudi und ich hatten die Schanze gut im Griff, weil wir ja beinahe täglich auch dort sprangen, und es war ein herrliches Gefühl, in hohem Bogen über den Weg zu springen und im leicht schrägen Auslauf auf der anderen Seite des Weges zu landen. Doch jeder einzelne von uns hatte gehörigen Respekt vor diesen Sprüngen, und so wählten vor allem die schwächeren Springer einen kurzen Anlauf, um nicht allzu weit durch die Luft gewirbelt zu werden. Wer würde heute den weitesten Sprung machen? Wir maßen natürlich genau und für jeden Springer gab es eine eigene Markierung im Schnee, wo seine momentane Bestmarke lag. Bei den erzielten Weiten lagen die voran, die mutig genug waren und einen längeren Anlauf vom Hang herunter wählten. Rudi und ich stiegen bei allen unseren Sprüngen in etwa gleich weit hinauf, jedes Mal um etliche Meter weiter als die Nachbarbuben, und deshalb sprangen wir auch jedes Mal weiter als sie.
Zweiter zu sein oder zu werden, das hatte mich schon als Kind nie interessiert, und wenn ich schon irgendwo mitmachte, dann wollte ich immer der Beste sein. Ein zweiter Platz war für mich gleichbedeutend mit einer Niederlage! Niederlagen hatte ich aber niemals gut verkraften können und in meiner Paradedisziplin, beim Schispringen, da durfte es auf keinen Fall zu oft passieren! Aber sosehr ich mich auch ins Zeug legte, der Rudi sprang schon wieder weiter als ich. Nach vielen vergeblichen Versuchen, doch noch weiter zu springen als er, fasste ich einen meiner leichtsinnigen Entschlüsse:
"Ich werde den Hang ganz hinauftreten!"
Nicht nur zu zwei Dritteln, wie wir das bis jetzt immer getan hatten. Ich wollte den Rekord! Um jeden Preis! Mein Herz pochte, als ich oben bei den Bäumen stand und den Hang hinunterblickte. Die anderen schüttelten den Kopf, als ich "Schanze frei!" rief. Einmal überlegte ich noch kurz, ob ich nicht doch lieber wieder hinunterrutschen sollte. Doch dann presste ich die Lippen zusammen und los ging's ...
"Ja gibt's denn so was, der Schi ist ab."
"Er liegt noch immer da und rührt sich nicht."
Meine Freunde standen mit offenem Mund da und schüttelten den Kopf. Mir tropfte das Blut aus der Nase und schwer rang ich nach Luft, so gewaltig hatte es mich beim Aufsprung in den Schnee gestaucht. Mühsam rappelte ich mich nach einigen Sekunden des Schmerzes hoch und humpelte zu meinem gebrochenen Schi. Normalerweise zählten nur gestandene Sprünge für den Rekord, Stürze wurden nicht bewertet. Doch das war mir diesmal egal, ich war um gute zehn Meter weiter als alle anderen geflogen und das allein zählte für mich! Und die Schi? Die hatten für meine Begriffe so schon lange ausgedient. Endlich würde ich bessere bekommen ...
Der Sohn vom Bäckermeister Strasser kam eines Tages auch zum Springen bei uns vorbei. Er konnte mit seinen Schiern vom Kirchbühel zu uns herunterfahren, weil er ja gleich neben der Kirche wohnte. Wir Buben hatten eine Bahn in den steilen Wiesenhang hinter unserem Haus getreten und sprangen diesmal über den Gartenzaun, weil viel Schnee gefallen war und der Zaun nur noch ein ganz kleinwenig aus dem Schnee ragte. Die Hände nach vor gestreckt, fuhren wir den Hang in der Hocke herunter, wie das damals bei der alten Sprungtechnik noch üblich war, und mit hohem Tempo kamen wir zur Schanze beim Gartenzaun. Jetzt hieß es aufreißen und ab ging's durch die Luft. Mit einem weiten Satz landeten wir mitten im Garten. Einfach ein Traum.
Der Siegfried war um ein Jahr älter als mein Bruder Herbert, ging wie dieser bereits in die Hauptschule, stapfte die Wiese hinauf, legte die Stöcke weg, sprang in die Spur, sauste den Hang herunter, riss auf der Schanze auf und lag kurz darauf im Garten. Zu viel Vorlage, ein kapitaler Sturz, und wenig später standen wir Buben und bereits auch unsere Mütter rund um ihn. Die Tränen liefen über seine Wangen und immer wieder jammerte er "au weh", hielt seinen Fuß umklammert und seine Lippen zitterten und waren bereits blau gefärbt. Provisorisch betteten ihn die Erwachsenen auf einen Schlitten und hüllten ihn mit Decken zu.
Nach einer endlos langen Zeit bog das Auto mit dem roten Kreuz an der Seite in unseren Hof.
Der Siegfried kannte die Gefahr vielleicht doch nicht so wie wir und vielleicht war er auch nicht so geübt im Springen. Wie auch immer. Ich höre ihn noch heute jammern und wehklagen, er wird wohl starke Schmerzen verspürt haben. Wir standen verdattert daneben und wussten nicht recht, was wir machen sollten. Pech! Der Siegerl hatte sich den Oberschenkel gebrochen.
Eine durchaus nicht lustige Geschichte, aber irgendwann sahen wir ihn wieder durch die Gegend humpeln. Auf zwei Krücken und ein Riesengips wird ihm das Leben wohl nicht allzu angenehm gemacht haben. Aber schlussendlich war alles wieder bestens verheilt.
An unseren Sprungschanzen hab ich ihn allerdings nie mehr gesehen ...