Wenn man in eine neue Gemeinschaft eintritt, dann gibt es etliche "Neutrale", in diesem Fall eben Schüler mit denen man relativ gut auskommt, für die man jedoch auch kaum mehr empfindet als für Leute, die auf der Straße an einem vorübergehen. Dann kommen einige Wenige, die findet man sympathisch und mit denen gibt man sich lieber ab, als mit anderen. Als Gegenstück natürlich auch wieder welche, auf die man gerne verzichten könnte. Die Sympathien für sie könnte ich vielleicht so beschreiben, wie wenn sich der Nachbarhund mit einer vorbeistreunenden Katze trifft. Er bellt, sie macht den Buckel, faucht und sträubt die Haare, ohne dass es dabei jedoch zu einer ernsthaften Auseinandersetzung kommt. Da ist es besser, man geht sich aus dem Weg, sonst könnte es doch tatsächlich Ärger geben. Dann wiederum gibt es, wenn man Glück hat, jemanden in der Runde, zu dem es einen richtiggehend hinzieht. Warum das so ist, weiß ich nicht, es stimmt vielleicht ganz einfach die "Chemie" zwischen diesen beiden Menschen, wie es so schön heißt. Weil es anscheinend im Leben so zu sein scheint, dass es zu jedem Stück auch ein konträres Gegenstück gibt, deshalb gibt es ganz sicher auch jemanden, dem man schon beim ersten Hinschauen eine reinhauen könnte, derart unsympathisch ist einem allein schon sein Anblick. Muss man mit so einem Menschen längere Zeit auf engerem Raum zusammenleben, so sind Konflikte so gut wie vorprogrammiert.
In der Volksschule hatte ich mich auf Grund meiner lebhaften Natur relativ gut in Szene setzen können. Dazu kam eine gehörige Portion an Fantasie und Erlebnisdrang, was nicht selten in die Richtung führte, wie wir unsere Lehrerin ärgern konnten. Das brachte Punkte für das Ansehen in der Klassengemeinschaft. Weil ich zudem noch über flinke Beine verfügte und auch meine kleinen Fäuste bei diversen Auseinandersetzungen einzusetzen wusste, deshalb war ich in der Rangordnung unserer Klassengemeinschaft ziemlich weit oben angesiedelt. Jetzt war das alles Schnee von gestern, jetzt nützte mir das überhaupt nichts mehr. Jetzt hieß es neu beginnen mit der Rangordnung in unserer Klasse und erst nach etlichen Wochen des beinahe täglichen mehrstündigen Zusammenseins waren die Positionen in der Gruppe einigermaßen bezogen. Was nicht heißt, dass es nicht immer wieder diverse Machtkämpfe in dieser Richtung gab. Sei es, um nicht in der Rangordnung abzurutschen oder aber auch, weil man gern den einen oder anderen Schritt weiter nach vor kommen wollte.
Schon bald war ich im oberen Drittel dieser Rangordnung angesiedelt, weil ich beim U-Hakerl-Schießen ein bisschen besser traf als andere und mitunter auch Ziele ins Auge fasste, mit denen die Lehrer nicht gerade einverstanden waren und es vermutlich Ärger gegeben hätte, wäre der Schütze bekannt geworden. Dann wiederum stieg mein Ansehen in der Gruppe, weil ich zwar nicht saufreche Antworten hinsagte, aber doch nicht alles gänzlich unwidersprochen hinnahm, was mir vor allem die Englischlehrerin an den Kopf warf, weil sie nicht ganz zu Unrecht vermutete, dass hinter manch kleinem Bosheitsakt womöglich ich als Anführer stecken könnte. Weil ich überdies sehr oft eher mit Strafaufgaben als mit meinen auferlegten Hausübungen aufwarten konnte und alles andere als den Ruf eines Strebers in der Klassengemeinschaft hatte, deshalb punktete ich auch da im Ansehen meiner Klassenkameraden.
Doch zurück zum eigentlichen Thema, zurück zum Kassin und zum Franzerl. Der Franzerl war exakt der Typ, zu dem es mich ganz einfach hingezogen hat. Er lachte gern, er war weder zu dick noch zu dünn, weder zu groß noch zu klein und er hatte etwas an sich, was mir unheimlich imponierte, wie wir gleich sehen werden. Bei uns kam es ja nicht selten vor, dass ein Schüler von irgendeinem Lehrer beim "Schundhefte-Lesen" ertappt wurde oder das Schwätzen und Stören zu sehr forcierte oder gar während des Unterrichts sanft entschlummert war, da fasste der Ertappte eine Strafe aus. Bevorzugte Strafe war das Hinausstellen-Müssen ins Eck neben der Tafel, und jeder von uns war wohl des öfteren in dieser Position zu sehen. Mit dem Gesicht zur Wand, versteht sich, so dass die anderen den Sünder von hinten sahen.
Franzerl hatte nun die besondere Gabe bei diesem Strafe-Stehen besonders kräftig mit seinen Ohren wackeln zu können, so dass die meisten Schüler in helles Lachen ausbrachen, der Lehrer oder die einzige weibliche Lehrkraft, unsere Englischlehrerin jedoch nicht wussten, warum das geschah, weil das Ohrenwackeln vom Katheter aus nicht zu sehen war. Oft hab ich versucht, ihm das nachzumachen, doch meine Ohren bewegten sich nur spärlich, kaum zu bemerken. Franzerl jedoch wackelte sowohl mit beiden Ohren zugleich, bewegte seine Ohren auf und ab oder er drehte eines schneller als das andere. Echt reif für eine Nummer im Zirkus. Für mich natürlich sensationell und ich war stolz, neben ihm in der Schulbank sitzen zu können. Leider nicht allzu lang, denn schon nach wenigen Wochen wurden wir auf Betreiben einiger Lehrer auseinandergesetzt. Wir hatten uns anscheinend zu gut verstanden und dabei wohl zu wenig aufmerksam am Unterricht teilgenommen. In der Pause machten wir auch das öfters: Einer von uns zweien goss sich einen kräftigen Schluck Schulmilch in den Mund, so dass sogar die Wangen dabei aufgebläht wurden, während der andere nun versuchte, durch irgendwelche Faxen wie Grimassen schneiden oder Witze erzählen den anderen derart zum Lachen zu bringen, dass er die Milch ganz einfach nicht mehr im Mund halten konnte und im weiten Bogen von sich spuckte.
Der Franzerl war eben gleich lebhaft und übermütig wie ich und alles andere interessierte uns mehr als das Pauken. Eine besondere Gabe hatte er noch. Unser Klassenvorstand Fritz, wie wir Schüler ihn heimlich nannten, obwohl er eine absolute Respektsperson und zudem sogar auch noch durchaus beliebt bei uns war, dieser Fritz unterrichtete uns nicht nur in Mathematik und Physik - er hatte auch ein ganz großes Hobby: Er sammelte Briefmarken und wer von uns Schülern von zu Hause Marken mitbrachte, der konnte sich seiner Sympathien sicher sein. Stand ein Schüler tatsächlich einmal zwischen zwei Noten, so hat er mit Hilfe dieser kleinen Gaben an den Fritz nicht gerade die schlechtere Note bekommen. Vor allem meine Mutter hatte ja sehr viele Brieffreundschaften bzw. sehr viel Briefverkehr mit allen möglichen Bekannten und Verwandten im In- und Ausland und so war ich in der Lage, meinem Klassenvorstand hin und wieder eine besonders schöne Briefmarke mitbringen zu können. Was mir durchaus nicht zum Schaden gereichte. Und wenn der Fritz uns mit einigen Rechenbeispielen versorgt und zum stillschweigenden Ausrechnen derselben veranlasst hatte, er jedoch in eines seiner Alben vor sich auf dem Pult vertieft war, so hatte er die Angewohnheit, sich hin und wieder seine Brille in die Höhe zu schieben und mit beiden Händen ausgiebigst seine Augen zu reiben. Wobei er nicht selten dazu das Gesicht gehörig verzog. Franzerl äffte ihn derart gut nach, dass ich nicht nur einmal dabei in helles Lachen ausbrach und damit unseren Lehrer Fritz aus seinen beinah schon meditativen Betrachtungen riss.
Weniger zum Lachen zumute ist mir, wenn ich an das Gegenstück vom Franzerl denke. An einen Mitschüler mit Namen Kassin. Seinen Vornamen hab ich eigentlich so gut wie nie erwähnt, für mich war er nur der Kassin. Kräftig gebaut mit der besonderen Gabe, kleinere und vermeintlich schwächere Mitschüler zu ärgern, wo immer ihm das nur möglich war. In diese Kategorie der von ihm zu Ärgernden gehörte auch ich, ja ich genoss dabei sogar so etwas wie ein besonderes Vorrecht. Vor allem mit zwei Sachen konnte und wollte er mich immer wieder beinahe zur Weißglut bringen: Wenn er mich verspottete, weil ich aus Radmer kam, aus diesem kleinen Nest, wie er zu sagen pflegte, in das die Krähen verkehrt hineinfliegen müssten, weil sie dort keinen Platz zum Umdrehen finden würden oder weil er mich anrempelte und irgendwohin schupste, "Kleiner" zu mir sagte und mich dazu blöd angrinste. Nur, weil er um gut einen Kopf größer war als ich und um etliches fülliger und, wie gesagt, kräftig gebaut.
Wenn ein Terrier sich mit einem Schäferhund anlegt, dann fliegen die Fetzen und womöglich wird der wesentlich größere Schäfer in dieser Auseinandersetzung die Oberhand behalten. Muss zwar nicht sein, denn es wird wohl auch flinke und drahtige Terrier geben, die mit so einem Riesenlackel von Gegner durchaus mithalten können, sofern sie sich entschlossen in den Kampf werfen. So ähnlich war das auch bei uns. Abbekommen haben wir beinahe immer beide nicht zu wenig, wenn es mir wieder einmal zu bunt wurde und der Kassin mich zu sehr provozierte. Nicht nur einmal sprang ich zudem sogar auf einen Tisch, um diesen Riesenkerl sozusagen von oben attackieren zu können.
In irgendeiner Pause rauften wir wieder einmal ganz gehörig, ich schnappte meinen Zirkel, er nahm reißaus, ich rannte hinter ihm zur Klassenzimmer-Tür hinaus, er preschte die Stiege hinunter, ich zielte sorgfältig, bevor ich den Zirkel abschoss wie ein Wurfmesser. Einen Zirkel mit einer lächerlich kleinen Spitze vorne dran im Ausmaß von vielleicht einem Zentimeter Länge. Und doch, der Kassin jaulte auf wie ein geprügelter Hund, denn der Zirkel steckte in seinem Gesäß und weil soeben ein Lehrer die Stiege heraufkam und alles sozusagen aus erster Hand mitverfolgen konnte, deshalb sah man mich schon sehr bald darauf in der Direktion vor dem Direktor stehen. Zwar den Kopf gesenkt und dennoch nicht allzu reumütig. Natürlich bekam ich mein Schmalz ab. Einem anderen Schüler ganz einfach den Zirkel nachzuwerfen. Was da alles passieren hätte können. Ihn womöglich am Kopf treffen oder am Hals. Der Direktor hielt mir eine ordentliche Standpauke und rang mir so etwas wie ein Versprechen ab, nicht wieder mit dem Zirkel auf einen Mitschüler loszugehen.
Warum er sich bloß so aufregt, dachte ich mir, als ich vor ihm stand und er auf mich einpredigte. Für mich war alles wunderbar gelaufen und der Zirkel war genau dort gelandet, wohin ich gezielt hatte. Natürlich gab es eine Eintragung ins Klassenbuch und auch meine Eltern wurden mittels Schule-Haus-Heft vom Vorfall verständigt, was jedes Mal Ärger mit sich brachte. Und doch der geglückte Wurf hatte eine angenehme Nebenwirkung: In den nächsten Tagen hatte ich vor diesem Kerl meine Ruhe. Angeschaut hat er mich zwar nach wie vor blöd und auch saufrech angegrinst. Mehr wollte er anscheinend nicht riskieren. Denn womöglich war er sich doch nicht ganz sicher, ob ich nicht wieder zu meiner "Waffe" greifen würde ...