An zwei solcher Exemplare kann ich mich noch gut erinnern. Die erste beglückte mich in der Volksschule, auch wenn ich dazu das Wort "beglücken" ein wenig von der satirischen Seite betrachten muss, denn es wird wohl eher so gewesen sein, dass weder ich die Lehrerinnen noch sie mich wirklich beglücken konnten. Wir hatten aneinander vielleicht eine ebensolche Freude wie ein Bauer, wenn er die Wolken über seinem Kornfeld beobachtet und darin eine Spur gelb steckt, die auf Hagel schließen lässt. Die Lehrerinnen sahen mich täglich das Klassenzimmer betreten oder bereits in ihm sitzen und hofften ebenso wie der Bauer, dass das Unwetter noch einmal vorüberziehen würde, was natürlich nicht immer der Fall war.
Mein Vater überließ das Einkaufen meiner Mutter, er konzentrierte sich eher auf die Arbeit mit seinen Händen, von der es jede Menge für ihn gab. Aber auch die Erziehungsaufgaben, mit Ausnahme der handfesteren Erziehungsmaßnahmen und die schulischen Belange mit mir und mit meinem Bruder Herbert wird er wohl hauptsächlich deswegen meiner Mutter überlassen haben, weil diese nicht nur gebildeter war als er, sondern sie vielleicht auch in manch kritischer Situation um eine Spur gelassener als er handeln würde, sofern es vor allem bei mir wieder einmal irgendwo im schulischen Bereich "brannte". Und deshalb sah man meine Mutter nicht nur wöchentlich zumindest einmal zum Krämerladen gehen, um für uns alle einzukaufen, sie musste an manchen Tagen auch den Weg zur Schule antreten, weil sie wieder einmal eine Vorladung dazu erhalten hatte. Von einem dieser Vorfälle, die zu einer solchen Vorladung führten, will ich hier berichten.
"Was hast du denn bloß wieder angestellt, weil ich morgen zu deiner Lehrerin kommen soll?"
"Nichts!"
Ich sah meiner Mutter mit Unschuldsmiene ins Gesicht und duckte mich bei meiner Antwort ein wenig mit dem Kopf nach unten. Wie auch später sehr oft, wenn ein Lehrer in der Schule irgendeine Frage an die Klasse stellte und er seinen Blick prüfend durchs Klassenzimmer gleiten ließ, um sich einen Schüler zur Beantwortung seiner Frage auszusuchen, und ich wieder einmal nicht wusste, was ich zu dieser Frage hätte sagen sollen.
"Was heißt, nichts? Wenn du nichts angestellt hättest, müsste ich wohl nicht in die Schule kommen. Sag schon, was ist passiert?"
Ich schwieg, zog meine Schultern hoch, drückte meine Lippen fest aufeinander und sah mich im Geiste vor der Lehrerin stehen. Mit zorngerötetem Gesicht und gebückt, weil sie mit ihrer Hand nicht allzu sanft an einem meiner Ohren zog, was nicht nur körperlich einigermaßen weh tat, sondern vor allem mein Inneres angriff und deshalb wohl der Auslöser für meine heftige Reaktion war. Doch ich konnte die Situation von gestern nicht weiter verfolgen, denn schon wieder hörte ich die Stimme meiner Mutter.
"Warum antwortest du nicht? Das Schweigen nützt dir nichts, ich erfahr so alles in der Schule."
"Die blöde Kuh", rutschte es mir aus dem Mund, "glaubt wohl, ich lass mir alles von ihr gefallen."
Später, als ich den Vorfall meiner Mutter dann doch nach und nach erzählt hatte, saß sie am Küchentisch, stützte den Kopf in ihre Hände und schüttelte ihn noch immer irgendwie, ehe sie schließlich schwer atmete und sagte: "Warum bist du so ganz anders als dein Bruder?"
Ich zuckte mit den Schultern, atmete hörbar ein und aus und schwieg, dachte mir aber so etwas wie: Zum Glück anders, der hätte sich wohl alles ohne aufzumucksen gefallen lassen. Aber vor mir sollte sich dieses Weib in acht nehmen. Mit mir nicht!
Heute muss auch ich darüber lachen, und wenn ich wieder einmal nach Radmer gefahren komme und irgendeinen meiner damaligen Mitschüler treffe und wir unter anderem auch Kindheitserinnerungen aufwärmen, dann kommt meistens die Sprache auch auf diesen Vorfall und alle biegen sich vor Lachen und sagen: "Hermann, du warst schon arg! So mit deiner Lehrerin umzugehen! Na wirklich! Kein Wunder, dass sie sich nach Eisenerz versetzen hat lassen!"
Was war geschehen?
Wir Buben hatten wieder einmal unsere Aufmerksamkeit während des Unterrichts nicht zur Lehrerin und zu ihren Ausführungen hingerichtet, sondern ließen unter den Sitzbänken die am Vorabend gefangenen Maikäfer um die Wette krabbeln. Natürlich mussten wir das heimlich machen und natürlich saßen wir dabei einigermaßen aufrecht in unseren Holzsesseln, während die Käfer mit mehr oder weniger Ambition am Boden dahinkrochen, und wir vor allem mit unseren Füßen darauf achten mussten, dass sie uns nicht außer Reichweite gelangten. Was wiederum mit sich zog, dass unsere Blicke mit erhobenem Kopf zumeist schielend zu den Wettstreitern hingerichtet waren. Mich hatte schon ordentlich der Ärger gepackt, denn mein Käfer rührte sich ganz einfach nicht von der Stelle, während die beiden Maikäfer meiner Nachbarn munter des Weges krabbelten. Ausgerechnet meiner streikte. Meiner, der Größte von allen, auf den ich soviel Hoffnung gesetzt hatte.
Gefangen hatte ich am Vorabend etliche dieser Brummer, von denen es damals in jedem Mai Hunderte bei uns gab, die sich brummend in der ersten Abenddämmerung aus den Wiesen in die Lüfte erhoben. Die meisten davon gab ich unserem Gockel, weil er sich am Nachmittag so wacker gegen den Hahn meines Freundes Rudi geschlagen hatte, so dass dieser am Ende humpelnd vom Misthaufen rutschte, auf dem der Kampf stattgefunden hatte. Nicht etwa, weil Rudi und ich das so gewollt hätten, und schon gar nicht, dass wir die Hähne aufeinander losgehetzt hatten, wie das ja in manchen Ländern durchaus der Fall ist, und wo relativ viel Geld bei solchen Wetten aufs Spiel gesetzt wird. Nein, unsere Hähne waren sich anscheinend wieder einmal wegen irgendwelcher Hennen in die Quere gekommen. Die Nackenfedern aufgestellt, den Kopf mit den Kämmen tief gesenkt waren sie sich gleich darauf in die Wolle geraten. Sehr zu unserer Freude und wir Buben eilten herbei, weil wir das Krachen hörten und die Flügelschläge der wild aufeinander zuspringenden Kampfgenossen. Meine Augen leuchteten, weil unser Hahn schließlich die Oberhand behielt, was durchaus nicht immer der Fall gewesen war, weil der Hahn meines Freundes bestimmt um ein, zwei Jahre älter war als unserer, und er allein deswegen die ersten Kämpfe stets für sich entschieden hatte.
Aber nach und nach hatte unser Gockel an Gewicht zugenommen und war mittlerweile zu einem wunderschönen Hahn herangewachsen. Und jetzt war er dem Nachbarhahn schon durchaus ebenbürtig, was Größe und Gewicht anlangte, ja anscheinend hatte er hier sogar bereits die Nase ein wenig vorne. Nicht ganz zufällig, weil ich immer verärgert seine Niederlagen mitverfolgt hatte und nichts unversucht ließ, ihm in seiner Entwicklung nachzuhelfen, indem ich ihm gute Stücke hinwarf. Von meinem Brot, vom Futter der Nachbar-Sau, das ich aus deren Sautrog kurzerhand entfernte und zu ihm brachte oder ihm fette Würmer suchte und streng darauf achtete, dass er diese nicht sogleich seinen Lieblingshennen verfütterte, die ich dazu regelrecht mit einem Stecken von ihm fernhalten musste, weil der blöde Kerl doch tatsächlich diese Gustostücke zuerst den Hennen anbot, um danach kräftig auf die schönsten Hennen aufzureiten, ehe sie das von ihm angebotene Fressen noch richtig in ihre Hälse hinuntergewürgt hatten. Gestern hatte ich ihm die meisten meiner gefangenen Maikäfer gebracht, und er tat, was er scheinbar nicht lassen konnte, der Lustmolch!
Aber ich will hier ja nicht von unserem Hahn erzählen und von seinem Verhalten seinen zumindest zehn eigenen Hühnern gegenüber und von den Kämpfen, die es immer wieder zwischen den Nachbarhähnen gab, wenn sich der eine von ihnen unerlaubt und vom anderen durchaus nicht geduldet, die eine oder andere Nachbarhenne zum Bücken sozusagen unter den Nagel gerissen hatte. Da flogen immer die Federn und jede Niederlage unseres Hahnes tat mir beinahe so weh, als hätte ich sie selbst erlitten. So zumindest fühlte ich damals. Wie schon erwähnt - Niederlagen hab ich niemals wirklich gut ertragen können.
Auch jetzt sah es durchaus nach einer solchen aus, wenn auch nur beim Maikäferwettrennen. Vergeblich stieß ich mit meinem Schuh an seine Seite und schubste meinen Favoriten an, damit er endlich seinen - pardon - Arsch in Bewegung setzten sollte. Vergeblich! Meine Freunde lachten mir heimlich zu und freuten sich diebisch, weil sie die besseren Renner hatten. Ich gab meinem Käfer noch einmal einen kräftigen Schubs mit dem Fuß, so dass er auf den Rücken fiel und nun endlich Leben in ihn kam. Wild zappelte er mit seinen Beinen durch die Luft, doch er konnte sich nicht aufrichten und so musste ich, ob ich nun wollte oder nicht, unter die Bank tauchen, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Während ich unter der Bank mit meinem Maikäfer beschäftigt war wurde die Lehrerin auf mich aufmerksam. Sie ließ ihren gestrengen Blick von der Tafel weg, zu mir hergleiten und ehe ich mich versehen hatte, sah ich nicht nur meinen Maikäfer wieder auf seinen Beinen stehen, sondern auch ein paar weiße Strümpfe gleich daneben vor meiner Sitzbank aufragen. Kurz entschlossen schnappte ich den Käfer, richtete mich auf, und da stand sie vor mir. Mit ihrem gewellten Haar, das ihr dunkel auf die Schultern wallte, dem prüfenden Blick und den zu einem schmalen Strich zusammengezogenen Lippen, die sich gleich darauf bewegten.
"Zeig mal, was du da in der Hand hältst!"
Ich spürte das Krabbeln des Käfers in meiner zur Faust geballten Hand und es kitzelte mich einigermaßen und ich sah, dass meine Freunde ihre Käfer scheinbar bereits in ihren Schultaschen verschwinden hatten lassen und wollte natürlich nicht, dass die Lehrerin von meinem Käfer erfuhr.
"Na wirds bald. Ich hab ja gesehen, dass du etwas vom Boden aufgehoben hast. Zeig her!"
Das Kitzeln in meiner Hand wurde stärker, ich hatte ihn ganz einfach wegwerfen wollen, irgendwohin ...
Wild kreischte die Lehrerin, nachdem ihr der Käfer ins Haar geflogen war und sich in diesem Dickicht verschanzte. Nach dem ersten Schreck und nachdem sie den Käfer wild fuchtelnd aus ihrem Haar entfernte und zu Boden warf, schnappte ihre Hand mein Ohr und riss wild daran.
"Du Lausebengel! Ist ja unerhört!"
Was noch alles an nicht allzu feinen Ausdrücken aus ihrem Mund herausstürzte, hörte ich gar nicht. Ich spürte nur den Schmerz am Ohr und sah meine Mitschüler boshaft lachen. Und auch die Hanni lachte und die Monika auch, in die ich mich so verknallt hatte. Das tat weh. Mich so erniedrigt zu sehen. Da wallte es fürchterlich in meinem Inneren. Ganz so, als würde eine riesige Welle ans Ufer branden: "Lass sofort los, sonst hol i mein Tati, der peckt di mit'n Sappl an und ziagt di obi in Boch!"
Ich fühlte mich ungerecht behandelt. Mich wegen dieser Lappalie gleich so zu demütigen und zum Gaudium meiner Klassenkameraden am Ohr bis zum Katheter zu ziehen. Mein Vater arbeitete nur wenige hundert Meter von der Volksschule entfernt im Sägewerk. Und ich vertraute auf ihn und auf seine Hilfe. Ganz sicher hätte er mir geholfen! Natürlich nicht in der Form, wie ich das der Lehrerin lautstark ins Gesicht gebrüllt hatte.
Für diejenigen, die meinen Ausspruch nicht ganz verstanden haben: "Sappl" nennt man bei uns das Werkzeug, mit dem man Baumstämme bewegt, nachdem man sie damit angepickt hat. Man kann riesige Bloche damit ziehen oder rollen und ich wollte doch tatsächlich, dass mein "Tati", mein Vater also die Lehrerin damit anpickt und in den neben der Schule dahinfließenden Bach zieht.
Dass ich beim Hinausziehen am Ohr hin zum Katheter der Lehrerin noch einen Tritt verpasst haben soll, das kann ich wirklich kaum glauben. Obwohl - nichts ist unmöglich. Und wer noch halbwegs gesund ist in seinem Inneren, der wird sich nicht so ohne weiteres an den Ohren irgendwohin ziehen lassen. Und noch etwas lässt vermuten, dass ich tatsächlich zugetreten hatte. Denn plötzlich ließ sie mich los, schrie "au weh", krümmte sich zusammen und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Katheter ...