Die wunderschöne Wallfahrtskirche, dem Heiligen Antonius geweiht, stand und steht noch immer mit ihren zwei Zwiebeltürmen am sogenannten Kirchbühel, von unserem Haus aus gut zu sehen und in etwa fünf Minuten zu Fuß zu erreichen, sofern man etwas schneller ging. Wir Buben gingen damals gerne schnell, ja manchmal liefen wir bereits die Steigung hinauf, wenn wir spät dran waren und noch vor dem Schulgehen zusammen mit dem Pfarrer für einige alte Weiblein die Messe lesen mussten. Wir Ministranten haben die Messe natürlich nicht gelesen, das machte schon der etwas rundliche Pfarrer, aber wir waren hautnah dabei, durften am Altar das Messbuch von einer Seite zur anderen übertragen, durften zur gegebenen Zeit mit dem Glöckchen läuten, durften dem Pfarrer Wasser und Wein reichen, mussten lateinische Gebete vor uns hinsagen und hin und wieder Weihrauch und Weihkessel aus der Sakristei für den abschließenden Segen holen.
Begonnen hat mein Dienst für die christliche Glaubensgemeinschaft in unserer Pfarre als Ministrant so: Der Pfarrer, er hieß Hermann wie ich, war erfreut über den Zuwachs unserer Familie in der Pfarre, meine Mutter war ja von Kind an sehr fromm, wohlerzogen und gottesfürchtig, mein Vater eher der nicht ganz so beeindruckte Mann von all dem, was mit der Kirche und dem ganzen Drumherum zu tun hatte. Meine Mutter sah man oftmals knien und mit gebeugtem Kopf Gebete murmeln, meinen Vater kaum jemals in dieser Haltung. Wie die meisten Männer aus unserem Tal ging er mehr aus Gewohnheit und wohl auch aus Gründen der Geselligkeit am Sonntag zur Kirche. Zur Kirche sag ich bewusst, weil etliche Männer zwar in die Nähe der Kirche kamen, dort aber sofort in einem der zwei sich am Kirchplatz befindlichen Wirtshäuser verschwanden. Manche Männer gingen jedoch tatsächlich zuerst ins Gotteshaus, stellten sich in die Nähe der Eingangstür und blieben, bis der Mesner mit seinem an einer Holzstange baumelnden Klingelbeutel auftauchte, um den Obolus zu fordern. Sobald der gute Mann vorne bei den ersten Reihen auftauchte, verdrückten sie sich still und leise aus dem Gotteshaus. Einige blieben sogar bis zum Schluss, Gottesdienst war eher Frauensache und die Bänke im Inneren der Kirche waren von Frauen aller Altersschichten und auch von vielen Kindern gefüllt.
Der Pfarrer freute sich also über den Zuwachs und fragte, ob wir nicht den Ministrantendienst versehen wollten, wozu unsere Eltern zustimmten und auch mein Bruder und ich nichts dagegen einzuwenden hatten. Seit dieser Zeit gingen wir eifrig in die Heimstunden, um dort an unseren lateinischen Gebeten zu lernen und auch, wie man sich als Ministrant in dieser oder jener Situation verhält, und was im Verlauf eines Gottesdienstes alles zu tun ist. Nachdem wir also manche Stunde für diesen Dienst in einem eigens für die Ministranten eingerichteten Zimmer des Pfarrhofes geübt hatten, war mein Bruder schon sehr bald in die Reihe der Mittleren aufgenommen worden. Ich in die der "Anfänger".
Die großen Ministranten, die 13-, 14-Jährigen übernahmen den Dienst bei Hochämtern, zu Weihnachten, Ostern, wenn Wallfahrer angesagt waren, bei Hochzeiten und Begräbnissen, und auch die Mittleren durften bereits mitmachen. Nicht federführend, versteht sich, eher als Randerscheinung mit kleinen Diensten. Je weiter innen einer der Ministranten am Altar stand, desto höher war sein Rang und desto höhere Dienste durfte er verrichten. Die Rangordnung verlief von innen nach außen und wir Zwerge durften hin und wieder bei größeren Anlässen sogar ganz weit außen stehen. Mit der einzigen Aufgabe, uns hinzuknien, wenn alle sich hinknieten, und wieder aufzustehen, wenn alle anderen auch aufstanden. Läuten, Buch übertragen, Wein einschenken, Wasser richten - das war Sache der Innenleute. Doch eines durften auch wir: mitbeten, wenn lateinische Gebete bei Opferung, Wandlung oder bei der Kommunion zu sprechen waren. Und, was noch sehr wichtig war, wir mussten unsere Hände ordentlich falten und nach Möglichkeit auch den dazu passenden Gesichtsausdruck an den Tag legen. Was uns allerdings nicht immer gelang.
Wir Kleinen mussten an den Wochentagen, wenn die Großen und Mittleren bereits mit Bus und Zug zur Hauptschule fuhren, dem Pfarrer noch vor dem Schulgehen bei der Frühmesse zur Seite stehen. Da hieß es zeitig aufstehen. Im Sommer kaum ein Problem, eher schon im Winter, wenn es noch stockfinster war um diese Stunde, der Schneewind ums Haus pfiff und die Kälte während der Nacht Eisblumen an die Fensterscheiben gemalt hatte. Da war es alles andere als lustig, so früh aufzustehen, und wir stellten uns an den Herd, in dem die ersten Holzscheite brannten, während wir Buben unser Gewand an den Herd hielten, weil alles starr war von der Kälte der Nacht. Zentralheizungen kannte ich nicht einmal vom Hörensagen, unsere Schlafzimmer waren ungeheizt, die einzige Wärme spendete ein kurz vor dem Schlafengehen ins Ofenrohr gelegter Stein, der anschließend, mit dicken Lappen umwickelt, von uns Buben mit ins Bett genommen wurde und wir nicht wussten, wohin wir ihn zuerst legen sollten. Zu den eiskalten Füßen oder zum Bauch oder ob wir ihn in den Händen halten sollten. Beim Aufstehen fror ich zumeist elendiglich in den Wintermonaten, doch umso schneller waren wir in unseren Klamotten. Ein bisschen kaltes Wasser, den Schlaf damit aus den Augen gerieben, ein paar Mal herzhaft gegähnt, einige Bissen in den Mund und ab ging es ins Schneetreiben.
Mein Freund Rudi und ich trafen uns an der Haustür oder, sofern der eine früher als der andere fertig war, liefen wir die Stufen zur Nachbartür hinauf. Er wohnte mit seiner Familie ebenso im ersten Stock wie wir, nur auf der anderen Seite des Hauses. Mit eigenem Aufgang. Dann stapften wir hinauf zur Kirche. Manchmal war über Nacht derart viel von der weißen Pracht vom Himmel gesegelt, dass wir beim besten Willen nicht zur Kirche gehen konnten. Schneepflug fuhr um diese Zeit noch keiner bei uns und bis zum Bauch im Schnee zu stapfen, das war den steilen Weg hinauf zur Kirche ab und zu auch für uns zu beschwerlich. An solchen Tagen musste der Pfarrer eben ohne uns auskommen. Er hatte ja noch den Toni, den Sohn des Mesners, der mit seiner Familie unweit der Kirche wohnte. Der musste dann allein den Ministranten-Dienst versehen.
Normalerweise waren wir täglich beim Frühdienst in der Kirche anzutreffen. Zehn Minuten vor sieben Uhr ging der Mesner mit uns zum Kirchturm, wo die kleinste und zwei etwas größere Glocken hoch oben im Turm hingen, um die Gläubigen zum Gottesdienst zusammenzuläuten. Die große, dumpf klingende Glocke hing im Nebenturm, sie wurde an Wochentagen nicht geläutet. Der Mesner nahm sich eine Glocke vor, wir Buben die andere. Gewaltig zogen wir nach unten, ließen das Seil hochschnellen und rissen es wieder herab. An die fünf Minuten läuteten wir, dann mussten wir die in Schwung gekommenen Glocken wieder zum Stillstand bringen, und dieses Ruhigstellen der Glocken gelang uns nur, indem wir uns an die Seile hängten und mit nach oben ziehen ließen, um so den Schwung zu bremsen. Die kleinste Glocke, die sogenannte Totenglocke, die immer, wenn sie ganz allein zu hören war, verkündete, dass jemand aus unserem Ort verstorben war, diese Glocke bremsten auch wir Knirpse schnell ein. Doch schon bei der Mittleren zog es uns beim Abbremsen ganz gewaltig nach oben. Immer wieder, bis der Pendel nur noch ab und zu anschlug, und wir es schließlich geschafft hatten und Stille einkehrte. Irgendwann war es aus mit diesem mit den Händen durchgeführten Läuten, an der wir Ministranten immer viel Spaß gehabt hatten. Ein elektrisches Geläute wurde installiert und keiner riss mehr an den nach unten hängenden Stricken. Um sieben Uhr begann die Messe, aber außer einigen älteren Betschwestern war kaum jemals wer in der Kirche anwesend. Da nützte auch das kräftigste Läuten nichts, um die Gläubigen im Ort auf die Messe aufmerksam zu machen.
Der Pfarrer hatte in seinem Pfarrgewand, in das ihm in der Sakristei der Mesner hineingeholfen hatte, und wozu er ihm noch am Rücken irgendwelche Schnüre zusammenbinden musste, ebenso Aufstellung am Eingang der Sakristei genommen wie wir Ministranten. Auch wir hatten unser "Messgewand" an, das konnten wir uns an diesen Tagen selbst aussuchen. Aber auch dabei gab es manche Zankerei, wer wohl das schönere "Gwandl" anziehen durfte. Die Hierarchie hatte auch uns Kleine erfasst. Wer geht rechts innen, wer links innen, wer außen? Wer darf den Chef spielen, wer ist eher Mitläufer? Randfigur war ich niemals gern und so manche Rempelei war notwendig, um mich gegen die anderen durchsetzen zu können. Wenn wir Kleinen unter uns waren, versteht sich. Gegen die Mittleren und Großen getrauten wir uns natürlich nicht aufzumucken.
Ich war mit Leib und Seele Ministrant und meine Freude war groß, als ich zum ersten Mal eine echte Chefrolle übernehmen und rechts innen gehen durfte. Ich musste das Messbuch in genau vorgeschriebenen Situationen von einer Seite des Altars holen, mein Knie artig vor dem Tabernakel beugen, die Stufen zum Altar hochsteigen und das Buch mit beiden Händen am Ständer packen, auf dem es lag. Danach musste ich mich vorsichtig umdrehen und mit dem Riesending die Stufen hinuntersteigen. Unten angekommen, mein Gesicht zum Altar drehen und in die Knie gehen, um das erforderliche Ritual beim Buchübertragen einzuhalten. Sehr anstrengend, weil das Buch mitsamt dem Gestell, auf dem es lag, beinahe so schwer war wie ich selbst. So kam mir das zumindest damals vor. Dann wieder die Stufen hoch und mit letzter Kraft hingestellt. Geschafft! Diesmal geschafft, weil ich sehr vorsichtig dabei zu Werke ging, obwohl ich mir das heute kaum vorstellen kann. Allzu vorsichtig bin ich in meiner Kindheit und Jugend wahrlich nirgends vorgegangen, eher war ich schusselig und alles musste vor allem sehr schnell geschehen.
Irgendwann übertrug ich wieder in meinem Ministrantengewand, und weil ich ja nie in meinem Leben zu den Großen gezählt hab und mir deshalb mein Ministrantenkittel am Leib hing wie einem Mann sein Anzug, wenn Größe 48 seiner Statur entsprach, er jedoch in einem 56er Anzug steckte, deshalb rutschte mir der Kittel ein wenig hinunter, ich stieg nicht nur die Treppe mit dem Riesending hinab, ich stieg mir auch selbst auf den Kittelsaum und krachte im nächsten Augenblick die Stufen hinunter. Das Buch und der Ständer flogen in hohem Bogen weg vom Altar und überschlugen sich vielleicht sogar um ein-, zweimal öfter als ich, bevor Stille in der Kirche einkehrte. Die Betschwestern falteten zwar noch ihre Hände, doch kein Murmeln kam mehr über ihre Lippen. Mit weit aufgerissenem Mund sahen sie sich die Bescherung an. Der Pfarrer hatte sich am Altar umgedreht, führte seine linke Hand zum Mund und murmelte ein: "Um Himmels Willen!" Schnell eilte der Mesner herbei, sammelte die umherliegenden Teile ein und brachte das Buch dem Pfarrer hinauf zum Altar. Ich hatte mich aufgerappelt und humpelte zurück an die Seite meiner Ministrantenkollegen, die sich das Lachen natürlich kaum verbergen konnten, und auch die Betschwestern murmelten wieder ihre Gebete. Die Messe las der Pfarrer weiter, das Buch blieb auf dem Altar liegen, hatte kaum Schaden genommen.
Als der Pfarrer nach der Messe in der Sakristei meinte, dass es für mich besser wäre, in nächster Zeit das Buch-Übertragen anderen zu überlassen, nickte ich mit gesenktem Kopf ...