Abschied von der Kindheit (mit Schweinebraten, Tischtennis und meinen schmerzenden Augen)
Samstage hatten für mich schon immer etwas Besonderes an sich. In meiner Schulzeit war es der Tag, an dem es für gewöhnlich sofort nach der Schule abging ins Vergnügen. Herrlich - keine Hausaufgaben. Das war absolut positiv und es war auch der einzige Tag, wo mich meine Mutter nicht deswegen traktierte. Und doch, allzu viel Zeit zum Spielen blieb mir dennoch nicht, kamen wir doch auch an diesem Tag erst nach 15 Uhr mit dem Schulbus nach Hause, obwohl an Samstagen der Unterricht zumeist schon nach der vierten Stunde zuende war. Doch das nützte uns Fahrschülern wenig, ging der Zug doch erst nach 14 Uhr vom Bahnhof Eisenerz weg. Zwei Stunden unsinnige Wartezeit. Das lag mir immer irgendwie im Magen, noch dazu, wo ich genau wusste, dass mein Freund Dietrich in Radmer schon von der Schule nach Hause unterwegs war. Der hatte es schöner, besuchte die achtklassige Volksschule und war mit seinem Fahrrad zehn Minuten nach Schulschluss daheim auf dem Bauernhof seiner Eltern. Auf diesem Hof mit der riesigen Tenne und dem darunter liegenden Stall mit dem gewaltigen Stier, dem Riesenschädel und dem schwarzen Nacken und den zumeist wiederkauenden Kühen links und rechts von ihm. Herrlich, diese Pfarreralm und die Umgebung, von der ich ja bereits erzählt habe.
Diesmal wollten Dietrich und ich jedoch etwas ganz anderes machen. Diesmal wollten wir Tischtennis spielen. Zwei Bälle hatte ich mit meinem erspielten Gewinn beim Kreuzerpecken in Eisenerz gekauft. Einer war noch am gleichen Tag in die Brüche gegangen, weil Dietrich unabsichtlich draufgestiegen war, so dass er eine ordentliche Delle abbekommen hatte. Er war an einer Stelle eingedrückt und notdürftig hatte ich ihn zu Hause wieder repariert, indem ich ihn so lange in heißes Wasser von unserem Herdschiff tauchte, bis die eingedrückte Kerbe sozusagen von selbst wieder heraussprang. Kaum zu glauben, aber es funktionierte tatsächlich. Ganz rund war der Ball aber doch nicht mehr geworden. Aber als sogenannte Reserve tat er doch noch irgendwie. Zum Glück hatten wir noch den zweiten Ball, auf den achteten wir jetzt natürlich besonders. Nur nicht allzu fest herumschießen und auf gar keinen Fall mehr draufsteigen. Doch was nützten mir alle meine Gedanken rund ums Tischtennis Spielen, wenn ich noch in der Schule hocken musste.
Die erste Stunde war vorübergegangen. Mathematik. Jetzt folgte Deutsch mit meinem Lieblingslehrer Charly. Der Lehrer mit diesen wunderbaren Geschichten vom Faltbootfahren in seinen Ferien. Auch las er uns öfters aus diesem oder jenem Buch die eine oder andere Geschichte vor. War echt nett, unser Deutsch-Lehrer. Bereits in den Jahren, nicht allzu schlank, aber von gutmütigem Wesen und pädagogischem Weitblick. Wie wir gleich sehen werden.
Die Stunde hatte soeben begonnen. Es war kurz nach neun Uhr und ich dachte an meinen Freund Dietrich und ans Tischtennis, das wir uns für heute ausgemacht hatten. Doch jetzt noch bis halb vier Uhr am Nachmittag darauf zu warten - das lag ganz und gar nicht in meinem Sinn. Der Charly hatte uns soeben irgendetwas vorgelesen, da seufzte ich auf einmal laut, führte beide Hände zum Bauch, krümmte mich zusammen und stöhnte.
"Was ist los? Was hast du?"
"Ich weiß nicht, mir tut der Bauch plötzlich so weh!"
"Drückt dich womöglich irgendetwas?"
"Nein, aber mir ist ganz schlecht. Hab vielleicht vor dem Schulfahren zuviel gegessen."
"Du wirst doch vor dem Schulfahren nicht viel essen. Das ist doch nicht möglich!"
"Normal trinke ich nur einen Schluck Milch und kaue dazu ein Butterbrot. Aber diesmal war ich in der Speisekammer und hab ein Stück Schweinebraten aus der Pfanne ..."
"Schweinebraten?", unterbrach mich der Lehrer. "Wie ist das möglich? Das musst du mir erklären!"
Ich saß noch immer zusammengekrümmt in der Bank, die Zeiger der Uhr waren unaufhörlich weitergerückt und der Zug ging kurz vor zehn. Das wusste ich. Und ich musste dem Charly klarmachen, warum mir plötzlich so schlecht war. Zu schlecht, um weiter am Unterricht teilnehmen zu können. Interessiert hörten die anderen Schüler zu. Dem einen oder anderen meiner Mitschüler mag ich vielleicht sogar bereits ein bisschen leid getan haben, so sehr krümmte ich mich und verzog schmerzvoll mein Gesicht.
"Wir hatten Besuch aus Deutschland und da hat meine Mutter einen Schweinebraten gemacht. In der Früh hab ich heimlich ein Stück davon aus der Pfanne in meinen Mund gesteckt, weil er so gut gerochen hat und Fleisch bei uns ja rar ist. Hätt ich besser nicht machen sollen."
"Du hast wohl eine Magenverstimmung, wie es scheint. Da werd' ich dich nach Hause schicken müssen. Vielleicht tut dir die frische Luft gut und dazu ein bisschen Bewegung. Oder fühlst du dich nicht in der Lage, heimzufahren?"
"Wird schon gehen und vielleicht wird es beim Gehen zum Bahnhof wirklich besser." Ich atmete hörbar und versuchte, zuversichtlich zu blicken.
"Wann geht der nächste Zug?"
"Weiß nicht recht, irgendwann am Vormittag. Sonst müsste ich noch bis nach zwei Uhr warten."
"Pack zusammen und ab mit dir!"
Herrlich, dieser Charly. Ob er irgendetwas geahnt hatte? Denke ich nicht. Ich spielte meinen Part ganz gut, schnappte meinen Schulranzen, ging gekrümmt die paar Schritte zur Tür und verließ mit einem leisen "danke und Glück auf!" das Klassenzimmer. Beinahe Burgtheater reif. Oder vielleicht doch nicht! Eher nicht, eher ein Auftritt aus einem Stück einer ländlichen Volksbühne. Aber gereicht hat es allemal. Wenig später lief ich bereits die Straße Richtung Bahnhof entlang und musste mich echt beeilen, sonst wäre das ganze "Schauspiel" ja umsonst gewesen.
Was einem doch alles einfällt, wenn man etwas unbedingt haben will. Irgendwie fühlte ich mich wie ein Sieger, irgendwie jedoch auch wieder nicht. Lügen zählte nämlich nie zu meinen wirklichen Stärken. Aber ich hatte doch niemandem Schaden zugefügt, oder? Ich überlegte kurz und kam zu einem klaren "Nein!" Wenn, dann höchstens mir selbst, weil ich zwei weitere Unterrichtsstunden versäumt hatte. Das war aber durchaus zu verschmerzen und überdies hatte die Sache teilweise sogar gestimmt, ein bisschen hatte mich der Bauch doch tatsächlich gedrückt. Aber das war eher ein Furz, der womöglich ins Freie wollte. Und meiner Mutter? Der müsste ich auch erklären, warum ich schon so früh von der Schule da wäre. Doch da würde mir schon etwas einfallen - im Zug oder später im Bus hatte ich ja noch genügend Zeit zum Überlegen.
Daheim angekommen, hatte ich zu meiner Mutter gesagt, dass ich früher heimfahren durfte, weil irgendwer erkrankt wäre. Dazu konnte ich ihr sogar in die Augen schauen, ohne das Gefühl zu haben, ihr etwas vorzulügen. Stimmte ja. Nur wusste sie nicht, dass nicht irgendein Lehrer erkrankt war, sondern ich derjenige mit der "Erkrankung" war. Und bevor sie noch Fragen dazu anstellen konnte, war ich bereits die Stiege hinuntergesaust, und wenig später lachten wir uns schon gemeinsam ins Fäustchen. Mein Freund Dietrich und ich. Auf zum Tischtennis. Wunderbar.
Drei Stunden später fühlte ich mich nicht mehr allzu wunderbar. Schuld war mein Freund, den ich allerdings nach dieser Aktion für einige Zeit nicht mehr als solchen betrachtete. Und wie es oft so geht im Leben: Jetzt war ich tatsächlich "krank" und benötigte keineswegs einen Schmäh wie zuvor in der Schule mit dem Besuch aus Deutschland und dem Schweinebraten. Der Besuch war bereits am Mittwoch wieder weggefahren und Schweinebraten hatte es zwar am Wochenende für diesen Besuch gegeben, doch der war wohl auch bereits wieder weg aus den Bäuchen. Was jetzt noch vorhanden war? Meine tränenden Augen und dazu noch eine Stinkwut in mir.
Doch der Reihe nach. Den Tischtennis-Tisch hatten wir noch nicht allzu lange im Saal beim Mesnerhaus neben der Kirche stehen, wo wir Ministranten für gewöhnlich unsere Heimstunden abhielten. Organisiert hatte ihn der Pfarrer für uns. Auch drei, vier Schläger waren da, doch die Bälle mussten wir uns seit einiger Zeit selbst besorgen. Die, die ursprünglich dabei waren, die waren schon lange in die Brüche gegangen. Heute hatten wir noch meinen ausgekochten und den ganz guten. Wunderbar. Und wir spielten drauflos wie immer. Noch waren wir allein, am Nachmittag kamen aber ganz bestimmt noch andere Kinder, um zu spielen. Das wussten wir. Wir wollten jedoch echte Matches bestreiten und nicht mit etlichen anderen nur immer um den Tisch laufen. Bei einem sogenannten "Rundgangerl". Das war zwar manchmal ganz lustig, aber diesmal wollten wir sehen, wer von uns beiden besser spielte.
Nach ungefähr zwei Stunden hatten wir genug, beide waren wir abgekämpft und auch schon echt müde. Ich hatte die Nase um drei Sätze vorne. Nicht mehr einholbar, das wusste Dietrich und er gab sich geschlagen. Doch er war genau wie ich ein schlechter Verlierer. Das wusste ich. Ich strahlte, während er seinen Zorn hinunter würgte, kurz an die Wand trat und mit dem Schläger auf den Tisch drosch. Ich zeigte ihm daraufhin den "Vogel". Der schöne Tisch. Aber zum Glück hielt er das aus und auch der Schläger war noch o.k.
Wenig später waren wir mit unseren Rädern unterwegs zu ihm nach Hause, er wollte mir etwas ganz Besonderes zeigen, rückte jedoch nicht heraus, worum es sich handelte.
"Wirst schon sehen!"
Mehr sagte er nicht dazu. Beim Bauernhof angekommen machte er die Tür zur Tenne auf, deutete mir, ich solle mitkommen und schon standen wir im Halbdunklen. Er ging einige Schritte hin zu einem Balken an der Wand und fuhr mit seiner Hand hinter den Balken. Dann deutete er mir, zu ihm zu kommen. Jetzt sah ich, dass er eine Pistole in der Hand hielt.
"Eine Pistole? Wo hast du die her?"
"Keine echte zum Schießen. Nur eine Gaspistole. Die werden wir jetzt ausprobieren. Aber nicht da. Wir gehen die Wiese hinunter zum Heuschuppen, wo uns niemand sieht. Da kann ich dir zeigen, wie sie funktioniert."
Schon hatte er die Pistole in seine Hosentasche gesteckt und wir sausten die Wiese entlang hinunter zu einer kleinen Heuhütte, die jetzt allerdings halb leer stand - das neue Futter musste erst gemäht und getrocknet werden. Dietrich öffnete die Schuppentür und wir gingen ins Innere. Überall hingen Spinnweben und es staubte irgendwie, als wir ins dunkle Innere der Hütte traten. Plötzlich hob er die Pistole an und hielt sie mir vors Gesicht. Es krachte zweimal fürchterlich, ich schrie auf vor Schmerz und wischte immer wieder mit beiden Händen an meinen Augen. Es tat unheimlich weh, Tränen rannen aus meinen Augen und ich sah so gut wie gar nichts.
Dietrich hatte wohl die Wirkung des Tränengases unterschätzt und die Pistole viel zu nahe an mein Gesicht gehalten. Vielleicht wollte er mich nur erschrecken, vielleicht hatte er aber auch noch eine Stinkwut in sich wegen des verlorenen Spiels. Was weiß ich. Irgendwie war er ja immer ein "Wilder" gewesen - so wie ich eben auch. Nicht allzu zart besaitet und in manchen Dingen abgebrüht. Doch jetzt schien ihm die Sache nicht ganz geheuer zu sein, denn er nahm mich an der Hand und führte mich zum nahen Bach. Allein hätte ich den Weg zum Wasser niemals gefunden. Zuerst hab ich mich noch losgerissen, doch er hat mich schließlich richtig angefleht, zum Wasser mitzugehen und irgendwie spürte ich, dass nur das Wasser meine Schmerzen lindern könnte.
Am Bach angekommen, hab ich mir immer wieder Wasser ins Gesicht und in die Augen geschüttet. Wer weiß wie die Sache sonst ausgegangen wäre. War so schon schlimm genug und mit roten Augen sah man mich in den nächsten Tagen durch die Gegend tapsen. Trotz aller Fragen meiner Eltern hab ich dicht gehalten. Kein Wort von der Pistole, kein Wort vom Tränengas. In der Tenne wären wir womöglich zu oft ins Heu gesprungen und dazu der Staub, das hätte wohl meinen Augen geschadet. Das waren meine Antworten dazu. Unserer Freundschaft zuliebe hatte ich dicht gehalten, obwohl ich drauf und dran war, ihm die Freundschaft aufzukündigen, weil ich ganz einfach nicht verstehen konnte, wie ihm so etwas nur einfallen konnte. Mir mitten ins Gesicht zu schießen. Aus ganz geringer Entfernung, ohne mich vorher zu warnen und ohne Chance für mich, mich irgendwie dagegen schützen zu können.
Dennoch hatte dieser Vorfall ein wenig an unserer Freundschaft genagt. Irgendetwas war seitdem zwischen uns anders geworden. Oder war es ganz einfach die Tatsache, dass ich mich bereits im letzten Hauptschuljahr befand und mir nur noch wenige Wochen vergönnt waren, in diesem "Paradies" zu verbleiben, aus dem ich mich nach und nach verabschieden musste. Von meinem Freund Dietrich und vom Bauernhof, aber auch von meinem Freund Rudi, vom Toni und vom Günter. Vielleicht war dieser Vorfall bereits so etwas wie eine "Vorschau" auf das, was alles im weiteren Leben schicksalhaft auf mich zukommen könnte.
Vielleicht waren diese Tränen aber auch über meine Wangen geronnen, weil ich schon sehr bald etwas vom Allerschönsten verlor, was ein Mensch jemals verlieren konnte. In diesem Tal mit den Prinzen, den Dorfnarren und wohl auch mit einigen Sonntagskindern. Kurzum mit Menschen, die so waren wie die Natur. Mit dem rauschenden Gebirgsbach, den dunklen Wäldern und den aufragenden Bergriesen. Dazu kam noch unser altes Holzhaus mit dem Stall, den Tieren und dem Wind, der manchmal sanft ums Haus strich. Nicht zu vergessen die Kirche mit den beiden Türmen, aus der so schön die Glocken läuteten.
Es waren wohl damals schon Tränen des Abschieds - des Abschieds von meinen Freunden aus diesem Tal mit dem rauschenden Gebirgsbach, den blühenden Sommerwiesen, den steil aufragenden Bergen, den lieblichen Almen und dem Abschied von meiner Kindheit ...