Mutproben gibt es immer wieder, vor allem bei Buben. Sie gehören zum Heranwachsen wie das Amen zum Gebet, und ohne sie wäre das Leben wohl wie eine Speise ohne dazugehöriges Gewürz. In den meisten Fällen sind sie mit irgendwelchen Ärgernissen verbunden, wobei Heranwachsende nicht selten mittels einer Mutprobe versuchen, ihre erwachsenen Mitmenschen zu ärgern und dabei Gefahr laufen, eventuell eine Ohrfeige für ein allzu freches Benehmen einzuhandeln. Manchmal bringen Mutproben auch Verletzungen mit sich und es gibt durchaus auch welche, wo sogar das Leben auf dem Spiel steht.
Das Zugfahren war ja an und für sich schon irgendwie erregend. Der tägliche Streit um die besten Plätze im Waggon, das Lärmen und Herumtollen und über die Bänke klettern, sofern nicht mitfahrende Erwachsenen oder der Schaffner für Ruhe und Ordnung sorgten und damit unseren Bewegungsdrang einbremsten. Dann wieder das Öffnen der Fenster und das Hinaushalten unserer Köpfe aus dem fahrenden Zug und manchmal das bewusste Hinausfassen mit den Händen, mit dem Abreißen von Blättern von nahe am Geleise stehenden Bäumen und Sträuchern. Das Stehen vor dem Waggon während der Fahrt, das Öffnen der Gestänge und das Sitzen auf den Trittbrettern, wobei uns der Schaffner nicht erwischen durfte, weil es ganz einfach zu gefährlich war und schwerwiegende disziplinäre Maßnahmen mit sich gebracht hätte. Und doch irgendwie reizvoll für uns Buben, auf den Trittbrettern zu sitzen und sich den Rauch der dampfenden Lok um die Ohren blasen zu lassen.
Irgendetwas war immer los bei diesem Schulfahren mit dem Zug, und eher selten saßen wir ruhig auf unseren Sitzen, lasen in einem Buch oder Heft, um noch schnell für einen Test oder eine Schularbeit zu lernen, sofern man dies bis dahin nicht gemacht hatte. Bei mir kam es öfters vor, dass ich während dieser zwanzig Minuten Fahrt noch die eine oder andere Hausaufgabe von irgendeinem Schüler abschrieb oder eine Strafaufgabe noch schnell hinfetzte, was beim Dahinrumpeln der Waggons auf dem kurvenreichen Geleise anders kaum zu bewältigen war.
Langeweile kam so gut wie nie auf und der Zug ratterte einigermaßen schnell dahin, wobei manchmal die Bremsen ordentlich quietschten oder die Eisenräder krachten, wenn sie sich auf den stählernen Schienen um die Kurven quälten, während die vor vier, fünf Waggons gespannte Lok Funken und Rauch ausspuckte oder weißer Dampf aus Ventilen seitlich an der Lok in die Landschaft zischte und so auch für uns deutlich sichtbar war, welche Kraft in so einer Maschine steckte. Vor allem Richtung Eisenerz ging es zumeist leicht bergan und donnernd stieß die Dampflok den Rauch meterhoch in die Luft, und der Heizer in der Lok wird wohl kaum mit dem Schaufeln der Kohle in den feurigen Schlund des Kessels nachgekommen sein. Bei der Fahrt zurück zum Bahnhof Radmer am Nachmittag quietschten dafür umso öfter die Bremsen und der schwarze Qualm aus der Lok strich an den Waggons dahin und drang durch die in den Sommermonaten zumeist geöffneten Fenster auch ins Waggoninnere. Eines Tages drang aber etwas ganz anderes ins Waggoninnere. Schuld war diese kleine Mutprobe und schuld war natürlich wieder einmal ich.
Öfter als einem lieb ist trifft man auf Baustellen. Vor allem auf Autobahnen, auf Bundesstraßen, im Ortsbereich und natürlich gibt es diese Baustellen hin und wieder auch bei Bahnstrecken. Geleise müssen neu verlegt werden, der Unterbau der Schienenanlage erneuert oder irgendetwas sonst an der Bahnstrecke repariert werden. Da heißt es dann ganz gemächlich dahinfahren, zumeist im Schritttempo und ab und zu wird auch ein Anhalten nicht vermeidbar sein. Vor oder direkt an der Baustelle. Auch unser Zug fuhr jetzt täglich im Schneckentempo an so einer Baustelle vorbei, doch es handelte sich um keine Reparatur an den Geleisen oder am Bahnkörper, eine der Brücken über den Erzbach musste repariert werden und eine handvoll Arbeiter war damit beschäftigt, die Brücke wieder problemlos befahrbar zu machen. Fleißige Arbeiter wie es schien, und vor allem wir Buben beugten uns bei der Fahrt im Schritttempo über die zu reparierende Brücke immer weit aus den Fenstern, um einen Blick zu den hämmernden oder sägenden, in der nun heißen Jahreszeit zumeist mit nacktem Oberkörper arbeitenden Männern machen zu können.
Tagelang ging es so dahin: Der Zug bremste frühzeitig, rollte im Schritttempo an die Brücke und danach langsam wie eine Schnecke über die Brücke. Darunter die Arbeiter und wir Kinder im Zug. Wer von uns auf die Idee kam, weiß ich nicht mehr genau, doch ich war auserkoren, die Mutprobe als erster zu bestehen.
Was war geschehen? Einer der Arbeiter war die Böschung raufgerannt und auf den beinahe zum Stillstand gekommenen Zug aufgesprungen. Wenig später stand er vor uns, das Wasser tropfte ihm vom Kopf, der nackte Oberkörper war klatschnass und er brüllte uns an:
"Wer von euch Rotznasen hat das Wasser auf uns hinuntergelassen?"
Wie angewurzelt saßen wir auf unseren Bänken, keiner getraute sich auch nur zu mucksen. Zu riesig hatte sich der Schreiende vor uns Zwergen aufgebaut und zu drohend ballte er seine Fäuste. Lieber jetzt ein bisschen feige sein, dachte ich mir und hoffte, dass meine Kollegen stark genug waren und sich nicht einschüchtern ließen, um mich vielleicht zu verraten. Doch keiner sagte ein Sterbenswörtchen und vergeblich wartete der Mann mit den zornig funkelnden Augen auf eine Antwort, während der Zug schon etwas über die Brücke gefahren war. Das rettete mich wahrscheinlich, vielleicht hätte doch noch einer auf mich gedeutet, hätte der vom Wasser Übergossene noch länger Zeit gehabt, nach dem Übeltäter zu fragen. So aber machte er kehrt, drohte nochmals mit der Faust, brummte grimmig zum Abschied so etwas wie: "Na wartet, euch krieg ich schon noch!", und sprang aus dem Zug.
Ich müsste lügen, würde ich sagen, dass ich nicht tief durchgeatmet hätte und auch mein Gesicht nahm wieder etwas Farbe an. Mutprobe hin, Mutprobe her: Es war vielleicht doch nicht die allerbeste Idee gewesen, direkt über den Arbeitern die Klospülung zu betätigen.
Im nachhinein betrachtet war es eigentlich keineswegs mutig, den unter der Brücke Werkenden eine gehörige Portion Wasser auf ihre Köpfe runterzulassen und sich danach nicht zur Tat zu bekennen bzw. dafür nicht gerade zu stehen. Mutiger wäre es gewesen, wäre ich vorgetreten und hätte mit stolz geschwellter Brust etwa Folgendes gesagt: "Ich war der Wasser-runter-Lasser. Dachte mir, eine kleine Erfrischung würde euch bei dieser Hitze gut tun."
Das wäre mit Sicherheit mutiger gewesen, aber auch um einiges dümmer. Denn dann hätte ich ganz bestimmt einige Maulschellen von diesem Koloss eingefangen. Vielleicht war es also doch irgendwie besser, mich nicht zu melden und irgendwie dennoch mutig von mir, die Klospülung ordentlich zu betätigen, denn die anderen hätten sich das nie und nimmer zu tun getraut. Die feigen Hunde! Und den Arbeitern hat die kleine Erfrischung vielleicht wirklich gut getan ...
Beim Schwarzl an die Fensterscheiben zu klopfen und dann schnell davonzulaufen, das war manchmal eine Mutprobe, denn der Gute kam jedes Mal zornig aus dem Haus gelaufen und hat vergebens nach dem Übeltäter gesucht. Oder ihm klammheimlich in den etliche Meter hinter dem Bahnhofgebäude gelegenen, im Erdboden vergrabenen und mit keinem Schloss versehenen riesigen Wasserbehälter zu pinkeln. In der Hoffnung, dass dieser Behälter für sein Trinkwasser zuständig wäre. Sehr vorsichtig natürlich. Erwischen hätte er uns dabei ganz bestimmt nicht dürfen, dann wäre mit Sicherheit der Teufel los gewesen. Das war sicherlich auch so etwas wie eine kleine Mutprobe. Zumindest kam uns das so vor.
Was auch in diese Richtung ging: Ab und zu war die Katheder-Lade offen und wenn wir Fahrschüler noch in unserem Klassenzimmer verweilten, um erst später zum Zug zu gehen, weil noch genug Zeit blieb, bis der Zug abfuhr, dann war es natürlich verlockend, diese Lade zu öffnen, den Klassenkatalog herauszuheben und ein wenig Einsicht zu nehmen wie es um unsere Noten bestellt war. Das war an und für sich nicht besonders mutig, denn unser Klassenzimmer lag mutterseelenallein im vierten Stockwerk und die Gefahr, dass sich irgendein Lehrer nach Schulschluss zu uns hinauf verirrt hätte, war äußerst gering. Mehr Mut erforderte es jedoch, den Notenstand ein wenig zu korrigieren und die eine oder andere bessere Note dazu zu malen. "Malen" sage ich hier bewusst, denn die Ziffern mussten wirklich genau so aussehen, als hätte sie der zuständige Fachlehrer selbst eingetragen. Das erforderte einiges an Geschick und auch größter Sorgfalt. Hier übers Ziel zu schießen wäre vermutlich mehr als nur ins Auge gegangen. Vor allem die Englischlehrerin forderte uns jedoch geradezu heraus, den Notenstand ein bisschen zu "schönen", fing man bei ihr an schlechten Tagen doch gleich mehrere "5" hintereinander. Da tat eine "2" oder "3" dahinter mehr als nur gut.
Lauter kleine Mutproben und unsere Bubenherzen schlugen um etliches schneller, wenn wir solche Lausbubenstreiche ausführten. Von einer ganz besonderen Mutprobe will ich abschließend noch berichten, bei der eigentlich nur die wirklich Mutigsten mitmachten, weil sie nicht nur einiges an Geschick erforderte sondern auch relativ gefährlich war.
Züge haben für mich seit dieser Zeit tatsächlich beinahe etwas Magisches an sich und jedes Mal, wenn eines dieser Stahlrosse an mir vorbeirattert, verspüre ich so etwas wie Wehmut in mir, und ab und zu muss ich mich ganz einfach wieder einmal in einen Waggon schwingen und eine Fahrt mit der Eisenbahn machen. Was ich jetzt erzähle, klingt vielleicht ein bisschen unglaubwürdig und doch handelt es sich dabei um die pure Wahrheit. Eine Story absolut nicht zum Nachahmen! Wäre bei der Beschaffenheit der heutigen Waggons auch ganz bestimmt nicht mehr möglich.
Ich hab ja schon berichtet wie der Schaffner Turni eines Tages, womöglich nicht ganz nüchtern, am letzten Waggon vorbeigesprungen ist. Er hat wohl ganz eindeutig das Trittbrett beim Aufspringen verfehlt und mit Sicherheit auch das dazugehörige Eisengestänge nicht vollständig mit seiner Hand zu fassen bekommen. Dieses Eisengestänge diente zum Festhalten beim Zu- und Aussteigen und ein eisernes Gatter dahinter diente zur Sicherheit für die Fahrgäste, die sich während der Fahrt auf der eisernen Plattform zwischen zwei Waggons aufhielten. Man konnte dieses Gatter auf- und zuklappen und der Schaffner musste stets darauf achten, dass alle Gatter vor dem Abfahren aus den Bahnhöfen geschlossen waren. Öffnen sollte man sie erst wieder, wenn der Zug in eine Haltestelle eingefahren und zum Stillstand gekommen war.
Wie bereits erwähnt kam es manchmal vor, dass wir Schüler uns zwischen den Waggons aufhielten und während der Fahrt ein solches Gatter öffneten, um uns auf den Boden zu setzen und unsere Füße auf das nach unten führende Trittbrett zu stellen. Nicht ganz ungefährlich, wenn man bedenkt, dass Kinder gerne ein wenig herumraufen, schupsen und stoßen. Ein Hinunterfallen aus dem fahrenden Zug hätte vermutlich den sicheren Tod bedeutet. Doch vor allem wir Buben fanden dieses Sitzen auf den Trittbrettern echt super und irgendwie abenteuerlich. Durch die Geräusche des dahinratternden Zuges, durch den Rauch aus der Lok und dem Fahrtwind, der einem dabei um die Ohren pfiff. Ähnliches kann man auch heute noch sehen, wenn Einheimische auf überfüllten Zügen in Afrika oder Asien dahinfahren. Die sitzen auch vermehrt auf solchen Trittbrettern und halten sich an den Eisengestängen dabei fest oder sie sitzen manchmal sogar auf den Dächern der Waggons und schaukeln durch die Landschaft. Meist auf alten, nicht allzu rasch dahinfahrenden Zügen, vor die oftmals noch eine Dampflok gespannt ist.
Nun zur Mutprobe: Der Zug fuhr in die Station Radmer ein, ziemlich schnell donnerte er über eine Brücke, unter der sich der Erzbach dahinschlängelte. Dann setzte der Lokführer die Bremsen voll ein und es quietschte ordentlich, wenn sich die eisernen Bremsklötze auf die Eisenräder zwängten. Doch es wirkte und die Fahrt wurde rasch langsamer. Noch an die fünfzig Meter mit mittlerem Tempo, bevor die Garnitur weiter abbremste und exakt im Bahnhofgelände zum Stillstand kam. Gatter auf und ausgestiegen. Das wäre normal gewesen, doch wir Buben machten folgendes: Wir öffneten bereits nach der Brücke das Gatter, stellten uns auf die Trittbretter, warteten, bis der Zug langsam dahinfuhr und sprangen ab, bevor dieser gänzlich zum Stillstand kam. Das war echt super und weiter nicht gefährlich, machten wir das ja wirklich erst, als der Zug schon beinahe stillstand.
Wer zuerst auf die Idee gekommen ist, das weiß ich wirklich nicht mehr, doch eines Tages ging es damit los: Wir merkten uns genau die Stelle von demjenigen Buben, der sich am frühesten abzuspringen getraute. Vom immer gleichen Waggon und täglich kam ein anderer an die Reihe, so dass jeder die Chance hatte, die Bestmarke zu übernehmen. Natürlich machten nur noch wenige Buben mit, als sich die markierte Stelle immer weiter nach hinten schob und wir immer früher abspringen mussten, um eine Chance auf den Rekord zu haben. Ab und zu war ein Sturz nicht zu vermeiden, obwohl wir eine Technik anwandten, die Stürze verhindern sollte. Wir sprangen vom Trittbrett und liefen sofort mit unseren flinken Bubenbeinen neben dem Geleise dahin. Aber nicht immer konnten wir abspringen. Entweder weil der Schaffner in der Nähe war oder sich der Schwarzl vor dem Bahnhofgebäude aufhielt und dem Zug entgegenblickte.
Die Rekordmarken wechselten wie beim Schispringen im Winter. Auch da sprang einmal der, dann wieder ein anderer weiter. Eines Tages wollte ich diesem Tun jedoch ein Ende setzen. Ich musste den Rekord ganz einfach haben. Der Zug donnerte über die Brücke, ich am Gestänge, das Gatter hochgezogen, die Bremsen quietschten, ich die erste Stufe nach unten, der Zug hatte wohl noch an die dreißig Meter bis zum Bahnhof. Ich die zweite Stufe runter, dann die dritte. Tief eingeatmet, und ich hatte den Rekord. Aber auch die blauen Flecken und die Hautabschürfungen, die blutende Nase und einen weiteren roten Punkt auf dem Konto. Doch es nahten die Ferien und so humpelte ich nur noch einige Tage in die Schule ...