Jedes Kind träumt bestimmt manchmal von Prinzen, Schlössern und darin wohnenden Königen, Prinzessinnen, träumt von Hexen, Geistern und Kobolden. Vor allem dann werden solche Figuren in seinen Gedanken vorkommen, wenn Märchenbücher nicht nur auf den Nachtkästchen liegen, sondern die Mutter oder der Vater, die Tante oder das Kindermädchen die eine oder andere Geschichte daraus den "lieben Kleinen" vorliest. Einfach herrlich, diese Märchen von Hänsel und Gretel, vom Froschkönig, dem Wolf und den sieben Geißlein, Schneewittchen, Aschenputtel, Dornröschen, dem gestiefelten Kater, Frau Holle - und wie sie noch alle heißen mögen.
Mein Bruder Herbert und ich wohnten ebenso wie der Rudi, seine Schwester Gerti und darunter die Erna in einem relativ großen Holzhaus mit vier Wohnungen darin. Wir Kinder hatten das Glück, nicht nur hin und wieder Geschichten aus Märchenbüchern von unseren Müttern vorgelesen zu bekommen, sondern wir konnten uns später, als wir bereits selbst in diesen Büchern schmökerten, an Selbstgelesenem aus der Märchenwelt erfreuen. Und zudem hatten wir das Glück, ein echtes Schloss in unserer Nachbarschaft zu haben, wie ich das ja bereits bei unserer Übersiedlung nach Radmer, erwähnt habe. Weil es jedoch ganz und gar nicht alltäglich ist, echte Prinzen als Nachbarn und Spielgefährten zu haben, deshalb will ich noch ein bisschen vom Schloss, der Fürstin und den darin lebenden Prinzen berichten.
In diesem Jagdschloss aus der Kaiserzeit wohnten zwei Enkelsöhne des einstigen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand. Den Vater hatten die Prinzen in jungen Jahren verloren und so lebte nur die Fürstin mit ein bisschen Dienerschaft und ihren beiden Söhnen in diesem herrlichen Schloss. Weil die Prinzen ebenso wie wir gerne Spielkameraden um sich hatten, deshalb luden sie uns sehr oft zu sich ins Schloss ein. Riesige Räume gab es da ebenso zu bestaunen wie prunkvolle Vorhänge oder Teppiche und jedes Zimmer der Prinzen war wohl größer als alle Räume unserer Wohnung zusammen. Auf den Gängen und auch in manchen Räumen hingen riesige Luster mit funkelnden Leuchten daran und die Wände waren übersät von Trophäen erlegter Tiere. Riesige Hirschgeweihe hingen an den Wänden, aber auch sehr viele Gamskrickel, ausgestopfte Fuchs- und Dachsschädel, präparierte Steinadler, Bussarde und Geier und ausgestopfte Rehbockschädel mit dem dazugehörigen Gehörn.
Ebenso voll waren die Zimmer der Prinzen mit Spielzeug aller Art. Am liebsten haben wir immer mit den elektrischen Eisenbahnen gespielt. Herrliche Loks gab es da mit allerlei Lichtern dran, natürlich jede Menge an Schienen, die wir in alle Richtungen legten und worauf wir später die verschiedensten Zuggarnituren fahren ließen. Mit Bahnhöfen, Brücken, Tunnels, kreuzenden Autostraßen und den dazugehörigen Autos. Autos mit Batterie-Motoren, Autos zum Anschieben und größere Autos, auf die wir uns sogar hin und wieder setzen konnten, wenn wir vorsichtig damit umgingen. Natürlich gab es Brettspiele aller Art, Quartetts, Kartenspiele, Würfel in allen Variationen, Kreisel und die buntesten Murmeln. Der ältere der Prinzen bevorzugte Kriegsspielzeug. Es rollten feuerspeiende Panzer durch sein Zimmer, es knatterte manches Spielzeuggewehr aus vollem Rohr, Spielzeug-Revolver gab es ebenso und auch die Jagdmesser durften nicht fehlen. Vornehmlich mit Gummi-Schneiden versehen und die Jagdlust seiner Vorfahren schien dem Ferdinand im Blut zu stecken. Nicht selten schnappte er sein Luftgewehr und machte sich davon. Dann hatten es die Katzen eilig sich zu verstecken und so manche Henne humpelte gackernd des Weges oder hatte womöglich bereits am Vortag ihr letztes Ei gelegt.
Mein Spielgefährte war der jüngere der beiden Prinzen. Er hieß Ernst und außer, dass er ein echtes Kindermädchen zur Betreuung rufbereit zur Seite stehen hatte, war er ein Junge wie wir. Übermütig, hin und wieder ein wenig frech zu den Erwachsenen, tatendurstig und verspielt. Mit seiner Mutter unterhielt er sich vornehmlich in Englischer Sprache, außer "yes" und "no" verstand ich allerdings niemals allzu viel davon. Sofern ich zuhören konnte.
Natürlich spielten wir nicht immer im Schloss, sehr oft waren wir dazu auch im Freien, schossen mit Pfeil und Bogen durch die Gegend, ließen Bagger und Lkw durch die riesige Sandkiste beim Lusthäuschen hinter dem Schloss kurven, hantierten an Spielzeugkränen, spielten Verstecken und Fangen, Indianer und Cowboy - wozu wir uns mit der dazugehörigen Ausrüstung verkleideten und auch die passenden Waffen mit uns trugen. Eines war dem Ernst jedoch streng verboten: Er durfte nicht auf Bäume klettern. Wahrscheinlich fürchtete die Fürstin zu sehr um sein Leben. Da stand er dann meistens etwas bedrückt unten, wenn wir auf den Ästen dieser Riesen herumturnten, und weil er nicht mit hinaufsteigen durfte, deshalb ließ er nicht selten verlauten, dass eigentlich nur Affen auf Bäumen herumturnen würden. Solche Sprüche konnten unsere Freude am Erklettern der Bäume jedoch nicht schmälern und irgendwie waren wir vielleicht sogar ein wenig schadenfroh, dass er nicht auf die Bäume durfte. Wussten wir doch, dass er uns deswegen echt beneidete und so hatten auch etwas, wovon er nur träumen konnte. Trotz all seinem vielen Spielzeug.
Sehr oft spielten wir mit den verschiedensten Indianer- und Cowboy-Figuren. Da gab es viele berühmte Häuptlinge und Krieger in allen Variationen. Zudem Büffel und Mustangs, Wigwams und Squaws. Alle Figuren in Mini-Ausführung und doch so echt, dass wir damit kämpfen konnten. Zumindest in unserer kindlichen Phantasie. Irgendwann hab ich mit meinen Cowboys die Indianer besiegt und etliche davon gefangen genommen.
"Kannst sie alle haben, ich hab so noch genug davon!"
Der Ernst war großzügig und hatte mir die Beute geschenkt. Herrlich.
Am nächsten Tag werkte ich in unserem Garten beim Gemüsebeet. Ich sollte für die Suppe etwas Schnittlauch abschneiden und auch Petersilie mit aus dem Garten bringen. Da kam der Ernst vorbeispaziert: "Ich hab's mir überlegt und die Indianerfiguren wieder geholt von deiner Mutter!"
Die folgende Nacht verbrachte ich in der Tenne im Heu. Zur Strafe und um mich zu besinnen hatte mich mein Vater dort eingesperrt. Schrecklich diese Nacht mit totaler Finsternis und gespenstischen Geräuschen. Ab und zu hörte ich eine Fledermaus irgendwo vorbeischwirren. Mir klapperten die Zähne vor Angst und die eine oder andere Träne ist wohl über meine Backen gerollt. Da - ein Waldkauz, schaurig seine Rufe. Und hin und wieder die Geräusche der Tiere unter mir im Stall mit dem Bimmeln der Glocke, wenn sich eine Kuh bewegte.
Es war vielleicht doch nicht die allerbeste Idee, den soeben abgeschnittenen Schnittlauch wegzulegen und dem Prinzen nachzulaufen, um ihm meine Meinung zu dieser "Schweinerei" nahe zu bringen. Bald darauf stand nämlich die Fürstin vor meinem Vater und stellte ihn zur Rede. Er solle gefälligst erzieherische Maßnahmen setzen! Einen Tritt hätte ich ihrem Sohn versetzt, ihn überdies an den Haaren gezogen und zu allem Verdruss auch noch ein Messer in der Hand gehabt.
Natürlich haben wir uns wieder versöhnt und doch - sozusagen als Rache bin ich noch viel öfter vor seiner Nase auf irgendeinen Baum geklettert ...