Wenn man an ein Schloss denkt, so wird der eine oder andere ganz bestimmt nicht nur an gewaltige Mauern denken oder an riesige Türme, die von allen Seiten des Schlosses ihre Spitzen gegen den Himmel strecken. Vielleicht denkt mancher auch an einen Wassergraben vor dem Schloss mit einer Zugbrücke darüber, auf der einst stolze Ritter durch ein riesiges Tor in den Innenhof des Schlosses ritten. Wassergraben gab es keinen auf Schloss Limberg und auch keine Zugbrücke, doch ein riesiges Eingangstor und einen wunderschönen Innenhof, in dem wir Kinder gerne das eine oder andere Spielchen machten. Sehr gern saßen wir im Kreis auf dem Boden, spielten "faules Ei" oder ein anderes Mal "blinde Kuh", stellten dann wieder einige Tischtennistische auf und erfreuten uns an einem "Rundgangerl" oder zeichneten Kästchen auf den Boden und maßen uns im "Kastelspringen". Auf einem Bein hüpfend, einen Glasscherben auf der Stirn und dem Bemühen, möglichst weit und ohne Fehler zu hüpfen und den Glasscherben nicht auf den Boden fallen zu lassen. Wenn wir nach dem Abendessen bei Kerzenlicht im Innenhof zusammensaßen und Lieder wie "kein schöner Land", "hoch auf dem gelben Wagen" oder "guter Mond, du gehst so stille" aus vielen Kinderkehlen erklangen, während der Mond sein erstes Licht vom Himmel zu uns schickte, dann schwebte über uns allen so etwas wie Schloss-Romantik, und wir fühlten uns wohl und geborgen innerhalb der wuchtigen Mauern.
Irgendwann war aber Schluss mit dem Singen und Spielen und es wurde Zeit, sich auf die Zimmer zu begeben, das Säckchen mit Seife, Waschlappen, Zahnbürste und Zahnpasta hervorzuholen, das Handtuch über die Schulter zu hängen und auf ging es in den Waschraum. Nur spärlich brannten einige Leuchten an den Wänden der Gänge und ganz allmählich legte die Nacht ihren ersten Schleier über das Schloss. Doch nur draußen vor den Toren war es friedlich und ruhig, im Schloss selbst spürte man noch so etwas wie Energie. Vor allem dann, wenn wir uns wieder einmal eine kräftige Polsterschlacht lieferten, dass die Federn nur so durch die Luft wirbelten und wir höllisch aufpassen mussten, dass uns nicht der zuständige Erzieher dabei erwischte, weil lärmen und herumtoben nach Beginn der Nachtruhe streng verboten war. Deshalb musste stets einer "Schmiere" stehen und die anderen warnen, wenn irgendwo ein Erzieher auftauchte. Doch die drückten wohl ganz bewusst das eine oder andere Auge zu und schritten nur ein, wenn die zumeist harmlosen Polsterschlachten überdimensionale Ausmaße annahmen. Was nicht ganz zu vermeiden war. Vor allem dann nicht, wenn wir Zivilisten uns zu den in einem anderen Bereich des Schlosses untergebrachten Pfadfindern schlichen und ihnen einige unserer Polster um die Ohren fliegen ließen oder sie im anderen Fall das gleiche mit uns machten.
Weil die Tage jedoch mit vielerlei Aktivitäten ausgefüllt waren und wir nur die zwei Stunden Mittagspause zur Erholung hatten, deshalb fielen den meisten von uns schon sehr bald die Augen zu, und kaum einer wird die mitternächtliche "Geisterstunde" im Schloss jemals tatsächlich miterlebt haben. Doch eines schönen Tages oder besser noch, in einer mondhellen Nacht war es soweit. Die Glocke vom Uhrturm der Schlosskapelle hatte erst vor kurzem elfmal geschlagen und der Mond warf sein Licht spärlich zum Fenster unseres Schlafzimmers herein. Alle Lichter waren bereits seit einiger Zeit abgeschaltet und friedlich schlummerten fünf unserer Zimmerkollegen in ihren Betten. Einzig der Werner, sein Bruder Walter und ich waren noch wach und auf Kommando holten wir sie unter unseren Betten hervor, hängten uns jeweils ein Leintuch um die Schultern, ergriffen vorsichtig die ausgehöhlten und mit eingeschnitzten Gesichtern versehenen Kürbisse und schlichen uns aus dem Zimmer. Zwei Lichter brannten im Innenhof und beleuchteten schwach die Fenster und Mauern des Schlosses. Gespenstisch warf der Ziehbrunnen seinen Schatten zu uns her, als wir auf leisen Sohlen an ihm vorbeischlichen, hin zum Gang ins obere Stockwerk. Ein stockfinsterer Gang mit einer Holzstiege, auf der wir aufwärts stiegen, sehr bedacht, auf der immer wieder einmal knarrenden Stiege möglichst lautlos und vorsichtig voranzuschreiten. Barfuss, die Leintücher um den Körper gewickelt, darunter der Pyjama und unter dem Pyjama ein jeder von uns das bis zum Hals klopfende Herz. Wollten wir doch knapp vor der Geisterstunde zu den Gemächern der Mädchen schleichen, um einige von ihnen ordentlich zu erschrecken.
Schon näherten wir uns dem Rittersaal, Stille ringsherum, nur der Ruf eines Waldkauzes drang schwach aus dem Dunkel des nahen Waldes an unser Ohr. Vorsichtig öffneten wir die Tür zum Rittersaal, die Kürbisse griffbereit in den Händen, um sie nach dem Öffnen des Mädchenzimmers über den Kopf zu halten da ein Schatten hinter dem Klavier. Mir stockte der Atem, als ich die vom Mondlicht beschienene Gestalt nur wenige Meter vor uns stehen sah. Mit dem leuchtenden Gesicht und den rot scheinenden Augen, dem Hut auf dem Kopf und dem weißen Umhang und der Sense in der Hand. Regungslos stand der "Geist" vor uns und wir starrten wie angewurzelt vor Schreck zu dieser Gestalt im halbdunklen Saal. Dann ging alles blitzschnell: Ein letzter Blick zur geisterhaften Gestalt am Klavier, eine rasche Kehrtwendung und, so schnell es ging die Treppe hinunter. Hastig über den Innenhof, die Tür zu unserem Zimmer aufgerissen, die Kürbisse ins Eck geworfen, das Leintuch aufs Bett geschmissen und ab in die Federn.
Sehr lange konnten wir nicht einschlafen und mit klopfendem Herzen lauschten wir ins Dunkel der Nacht, ehe wir uns nach etlichen Minuten wenigstens zu flüstern wagten.
"Wer war diese Gestalt?"
Noch lange starrten wir ängstlich ins Dunkel, bevor der Werner vorsichtig aus seinem Bett stieg und sein Nachtkästchen vor die Tür schob. Und irgendwann waren wir einige Zeit später ja doch eingeschlafen.
Vielleicht war es ein Fehler von uns gewesen, den Mädels unser "Geistern" anzukündigen. Vielleicht haben sie das irgendeinem Erzieher verraten und zu dieser Gegenmaßnahme gegriffen. Unser Vorhaben ist jedenfalls ganz schön in die Hose gegangen und beinahe mehr als nur sprichwörtlich, so sehr saß uns der Schreck im Nacken ...