Meine Mutter hatte einen Cousin, den ich besonders gerne mochte. Nicht nur, weil er mir und meinem Bruder Herbert jedes Jahr irgendein schönes Geschenk mitbrachte, wenn er mit seiner Frau Linde für ein, zwei Wochen zu uns nach Radmer kam. Die beiden lebten mit ihren zwei Kindern in Frankfurt am Main und Onkel Jörg liebte eines über alles: die Berge. Und gerade die brachten ihn eines Tages in arge Not.
Mit seiner Gattin war er an einem klaren Sommermorgen bereits im Morgengrauen zum "Hochkogel" aufgebrochen, doch die Dämmerung hatte längst eingesetzt und vom Onkel und der Tante war weit und breit nichts zu sehen. Meine Eltern machten sich Sorgen um die beiden, weil sie am späten Abend noch immer nicht von ihrer Bergtour zurück waren und so verständigte mein Vater schließlich die Bergrettung.
In der Dunkelheit konnten die Männer nichts mehr unternehmen, doch zeitlich am nächsten Morgen stieg eine Suchmannschaft auf. Drei Männer gingen auf der Normalroute zum Hochkogel, mein Vater und zwei weitere Helfer stiegen vom "Weißenbachl" hoch, weil mein Vater vermutete, dass die beiden eventuell auf dieser Route zurück ins Tal steigen wollten. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie bereits Hilferufe weit hinten an der Bergwand vernahmen. So schnell sie konnten, eilten sie auf dem schmalen Felssteig bergwärts.
Was war geschehen? Onkel Jörg hatte beim Abstieg vom Hochkogel ins Weißenbachel plötzlich einen Schwächeanfall bekommen und war zu schwach, um weitergehen zu können. Zu steil war der schmale Pfad ins Tal, zu gefährlich diese Tour, auf der man teilweise richtiggehend hinunterklettern musste. Zum Glück war das Wetter gut und zum Glück hatten die beiden eine ordentliche Bergausrüstung mit sich, so dass sie die Nacht, in einer Felsnische kauernd, zwar vor Kälte zitternd, doch einigermaßen unversehrt verbringen konnten. Der Zustand vom Onkel hatte sich auch nach der großteils durchwachten Nacht nicht gebessert, eher war er noch schlechter geworden. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, er zitterte am ganzen Körper und schien hohes Fieber zu haben. So entschoss sich Tante Linde im Morgengrauen allein weiter abzusteigen, um Hilfe zu holen.
Wie die relativ unerfahrene Bergsteigerin diesen schwierigen Abstieg ins Tal geschafft hatte, das war allen ein Rätsel. Mit blutigen Händen, teilweise zerfetzten Kleidern und schweißgebadet stand sie wenig später vor den Rettern und berichtete vom Zustand ihres Mannes und wo er liegen würde. Die Sache war noch einmal gut gegangen. Mein Vater und seine zwei Helfer brachten den Onkel zu Tal und der Arzt stellte einen Malaria-Anfall fest, wobei er meinte, dass Onkel Jörg ohne Medikamente wohl nicht mehr allzu lange durchgehalten hätte und seine geliebten Berge um ein Haar zu seinem wohl allerletzten Ausflug geworden wären.
Doch eigentlich wollte ich ja eine Geschichte von mir erzählen. Freilich hat sie ein wenig mit Onkel Jörg und Tante Linde zu tun. Denn sie waren es, die mir zu Weihnachten in einem Päckchen meine ersten Schlittschuhe geschickt hatten. Echt Klasse. Schlittschuhe zum Anschrauben auf meinen Schnür-Schischuhen. Richtige "Schraubendampfer" wie wir Buben sie nannten. Und noch in der Heiligen Nacht, als ganz zart einige Flocken vom Himmel segelten und der soeben hinter den Bergen hervorgekommene Mond sein Licht auf die tief verschneite Winterlandschaft rund um unser altes Holzhaus warf, noch in dieser Nacht sah man mich in unserem Hof die ersten Schritte damit machen. Auf Schnee, einigermaßen hartem, zusammengetretenem Schnee. Eis brauchte ich dazu keines, um ein wenig damit herumfahren zu können.
Natürlich waren meine Schraubendampfer mehr als nur begehrt auch bei den anderen Buben. Nach langem Betteln "verlieh" ich sie manchmal an meine besten Freunde. Eventuell im Tauschweg für irgendetwas anderes, das weiß ich nicht mehr so genau. Eines weiß ich jedoch ganz sicher: Von der Schule heim, die Schultasche ins Eck gefeuert, die Schischuhe angezogen, die Schlittschuhe im Hof angeschraubt und ab ging es damit. Sehr gut ließ es sich auf festem Schnee laufen, dazu präparierte ich mir sogar manches Stück an der Wiese, indem ich den Schnee mit meinen Schien festtrat, um eine Bahn zu bekommen, auf der ich zu Tal fahren konnte.
Am besten konnte ich jedoch all die Wege hinunterpreschen, wo Pferde mit Schlitten Holzstämme zu Tal zogen und dadurch der Schnee fest zusammengepresst war. Das ergab eine herrliche Bahn für meine Schraubendampfer und wo immer so ein Weg war, da sah man nicht nur die dampfenden Pferde mit ihren Holzlasten zu Tal traben, sondern auch mich mit meinen Schlittschuhen den Weg hinunterflitzen, wobei natürlich mancher Sturz nicht zu vermeiden war. Doch noch etwas machte mir eine ganz besondere Freude: Wenn ich mit meinen Schraubendampfern zum Berger hineinfuhr, dort an der Bushaltestelle auf den ankommenden Bus wartete, mich heimlich hinten an die Eisenleiter hängte und mich vom Bus bis zur nächsten Haltestelle beim Postamt ziehen ließ. Der Diesel rauchte und stank zwar gewaltig, doch das machte mir nichts aus, im Gegenteil, ich sog diese Abgase sogar irgendwie lustvoll in mich. Einfach herrlich, mit meinen Schlittschuhen am Bus hängend dahinzubrausen.
Die Wintersonne lachte vom Himmel, die Schneeschmelze hatte bereits eingesetzt. Ich hatte mich wieder an der Haltestelle hinter den Bus geschlichen und meine Hände hielten sich bereits fest an der Leiter an. Der Fahrer legte den Gang ein und schon setzten wir uns in Bewegung. Erster, zweiter Gang, dritter und ich in der Hocke hinten dran. Wunderbare Schneefahrbahn und der Rauch vom Auspuff an meiner Nase vorbei. Dieses Glücksgefühl, ein Wahnsinn.
Manchmal liegen Freud und Leid eng beieinander. Zuerst dieser Riesenspaß und wahrscheinlich hab ich sogar während der Fahrt gejauchzt wie man das immer wieder einmal bei Schifahrern hört, wenn sie im Pulverschnee zu Tal brausen, bevor ein Sturz diesen Gefühls-Höhenflug abrupt bremst.
Was war mit mir?
Wenig später sah man mich heimwärts humpeln, die Schlittschuhe über die Schulter gehängt. Tränen in den Augen, vor allem wegen meiner Schlittschuhe, an denen zwei Halterungen abgebrochen waren. Die Nase blutig, Ellbogen und Knie angeschlagen und schmerzend. Beim Berger war noch Schnee auf der Straße. Doch weiter drinnen im Ort, in der Höhe der Tischlerei Stangl riss es mich ganz fürchterlich von den Beinen. Ein Stück apere Straße hatte mich jäh gestoppt ...