Einer meiner besten Freunde wohnte auf dieser Alm mit dem Gemeindestier im Stall, zu dem die Keuschler ihre Kühe trieben, um Nachwuchs zu bekommen. Auch ich lief oft den schmalen Weg zur Pfarreralm hinauf, die, wie schon erwähnt, keine richtige Hochgebirgsalm war, sondern in einer knappen Viertelstunde durch den Wald von uns aus zu erreichen war.
"Kannst du dich noch an die Geschichte vom Sauabstechen erinnern?"
"Nein, komm erzähl!"
"Du hast gesagt, dass dein Vater zuerst die Sau abgestochen hätte, dann hätten sie die Männer in den Haartrog mit heißem Wasser gelegt und mit Ketten die Sauborsten weggescheuert. Plötzlich wäre die Sau aus dem Haartrog gesprungen und ins Schneegestöber hinausgelaufen und dass sie dort erfroren wäre, weil sie ja jetzt keine Haare mehr gehabt hätte."
"Ach so, jetzt weiß ich's wieder. Und du hättest mir die Geschichte beinahe noch geglaubt."
"Hätte ja wirklich so sein können."
Mein Freund Dietrich und ich saßen vor etlichen Jahren beisammen und wärmten einige unserer Lausbubengeschichten auf. Er war in einem schnittigen Sportwagen bei uns angerauscht gekommen und ich war echt erfreut, ihn wieder einmal zu sehen. Ich hatte ihn bereits als Kind bewundert, denn er war schon damals verwegen, phantasievoll und ungewöhnlich stark gewesen. Ich sah in sein Gesicht, sah das verschmitzte Lächeln in seinen dunklen Augen und wusste: Er war der alte geblieben. Dietrich hatte schon im Knabenalter stets das gemacht, was er für richtig hielt, er war manchmal wild wie ein ausbrechender Vulkan gewesen, und wir hatten uns seit jeher wahrscheinlich wegen unserer vielen Gemeinsamkeiten prächtig verstanden. Die Gegend rund um den kleinen Bergbauernhof, auf dem er aufwuchs, bestand aus unverbrauchter Natur, ja ich möchte beinahe behaupten, es war so etwas wie das Paradies für mich gewesen. Wir erforschten und eroberten diese Umgebung und genossen unser Buben-Dasein. Doch eines Tages führten unsere Wege in verschiedene Richtungen: Dietrich erlernte den Beruf eines Bäckers, und ich kam als Schriftsetzerlehrling nach Graz. Mit 25 Jahren hatte er in der Schweiz einen eigenen Betrieb aufgebaut, jetzt mit noch nicht einmal 50 wollte er nur noch sein Leben genießen.
"Ich hab genug gearbeitet. Jetzt mach ich nur noch das, was mir Freude macht und leb von meinem Ersparten."
"Das gibt's ja gar nicht. Wie machst du das nur?"
"20 Jahre hab ich geschuftet wie ein Irrer, jetzt ist Schluss damit. In sechs Monaten nehme ich an einer Himalaja-Expedition teil."
"Das glaubst du wohl selbst nicht?"
"Du hast richtig gehört. Nächste Woche beginne ich mit dem Training."
Dietrich saß vor mir und ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Sein Körper war nach wie vor von gewaltigem Bau, sein Gesicht voll und ein mehrtägiger Stoppelbart ließ ein bisschen von der Verwegenheit ahnen, die in diesem Menschen steckte. Er hatte etwas Bauch angesetzt und seine riesigen Hände vermittelten Sicherheit und Geborgenheit.
"Sag, warst du nie verheiratet?2
"Um Himmels willen! Weiber ja, heiraten nein - das war immer meine Devise!"
Ich schluckte. Er hatte es also geschafft und führte genau das Leben von dem wahrscheinlich nicht nur ich nach vielen Ehejahren hin und wieder träumten. Er war frei und unabhängig geblieben und nahm sich vom Leben, ohne viel dafür geben zu müssen. Wahrscheinlich war seine Kindheit voll Wildheit und Freiheit schuld daran gewesen, dass er sich nie in ein "normales" Leben einfügen hatte lassen. In ein stinknormales Dasein voll mit Zwängen, Geboten, Anpassung und tausendfacher Rücksichtsnahme.
Jetzt konnte ich mich wieder an diesen Tag erinnern, als er mir gegenübersaß, und wehmütig dachte ich an die Zeit mit ihm auf diesem Bergbauernhof zurück. Mit fünf, sechs Kühen, einigen Kälbern und Ochsen und, wie schon erwähnt, dem Gemeindestier im Stall. Noch heute läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich an diesen gewaltigen Bullen denke, den Dietrichs Vater immer am Nasenring in die Koppel vor den Stall führte, damit er dort seines Amtes walten konnte. Für uns Buben natürlich ein absoluter Pflichttermin, um dabei zuzuschauen, und aus einem sicheren Versteck und mit klopfendem Herzen beobachteten wir die Szene. Dietrich erinnerte mich irgendwie an die Gewalt dieses Stieres. Er war groß und kräftig gebaut, mit dunklem, vollem Haar und funkelnden Augen. Und er hatte sich schon mit 14, 15 Jahren so manche Maid genommen.
Auf diesem Bauernhof, wo die Hühner frei umherliefen und ein riesiger Hahn die Hennen zuritt, wo eine dicke Muttersau den Ferkeln die Zitzen zum Saugen hinstreckte, die Katzen in der Tenne den Mäusen nachjagten, wo die Tauben gurrend von Giebel zu Giebel flatterten, die Hirsche in Herbstnächten vor der Haustüre röhrten und sich mit ihrem gewaltigen Geweih duellierten, der Fuchs bei Nacht um den Hühnerstall schlich und der Wildbach fünfzig Meter vom Hof entfernt zu Tal donnerte, dort erlebte ich Freiheit, da fühlte ich mich stets als ein Teil dieser gewaltigen Natur. Wir kletterten auf die höchsten Bäume, fischten uns so manchen Fisch aus dem Bach, um ihn danach am Lagerfeuer zu braten, rauchten heimlich unsere ersten Zigaretten in der Tenne und husteten heftig dabei, ohne zu bedenken, dass auch nur ein einziger unaufmerksam weggeworfener Stummel den ganzen Bauernhof mit einem Schlag in Schutt und Asche verwandeln hätte können. Da entdeckten wir unsere Männlichkeit und maßen sogar, wer wohl wieder an Länge zugenommen hätte, bauten Baumhäuser und hämmerten dazu unzählige Nägel in Bretter und Bäume. Wie Indianer pirschten wir durch den Wald und banden Nachbarkinder an die Bäume, um sie mit Brennnesseln zu "behandeln", wenn sie nicht unseren Befehlen gehorchen wollten. Vom Dachgiebel sprangen wir mit Vorliebe ins duftende Heu und in mir entflammte die erste Begierde nach weiblichen Wesen, weil Dietrichs Schwester Renate es verstand, mich verrückt nach ihr zu machen. An Tagen, wo der Regen aufs Tennendach niederprasselte lasen wir Rolf Dorring- und Björn Farrow-Hefte und fühlten uns selbst wie die Helden in diesen Geschichten.
Dietrichs schwarzer Mischlingshund Rolf mit einem weißen Fleck am Hals und weißen Pfoten, war unser treuester Gefährte. Auch er genoss seine Freiheit, und wenn wir nach der Schule unsere Schultaschen ins Eck warfen und uns bei meinem Freund trafen, dann war Rolf immer bei uns. Er war verspielt wie wir, er war zäh wie wir, er war verwegen wie wir, und er winselte erbärmlich, wenn Dietrich ihm hin und wieder einen Fußtritt verpasste, weil der Hund nicht so wollte, wie sein Herr es befahl. Rolf war ein starker Hund, wahrscheinlich eine Mischung zwischen einem Schäferrüden und einem Bernhardinerweibchen. Im Winter spannten wir ihn einmal vor einen Schlitten und hofften, dass er uns ziehen würde. Doch Rolf stand nur da und schaute uns aus seinen Hundeaugen fragend an. Vom Ziehen hielt er anscheinend nicht viel und alle Anfeuerungen von uns konnten ihn nicht dazu bewegen, auch nur einen einzigen Schritt mit uns auf dem Schlitten zu machen. Da hatte ich eine Idee: Ich holte ein Stück Wurst aus unserer Speisekammer und steckte sie auf einen Haselnussstock. Dann setzten wir uns auf den Schlitten und ich hielt Rolf den Stecken mit der Wurst vom Schlitten aus vor die Nase, gerade so weit vor die Nase, dass er die Wurst nicht erreichen konnte. Sofort galoppierte Rolf auf der leicht abschüssigen Straße mit uns los und wenig später landeten wir mit etlichen Überschlägen im Straßengraben. Rolf hatte wohl mehr auf die Wurst als auf den Weg geschaut. Die Wurst haben wir drei danach gemeinsam verzehrt.
"Weißt du noch, wie wir die Rösser immer heimlich vom Hof geführt haben?"
"Na klar. Wenn uns dein Vater dabei erwischt hätte, hätts vermutlich Dresch gegeben."
Zwei Haflinger waren einen Sommer über am Hof bei Dietrichs Eltern eingestellt, ein Bekannter hatte die Pferde dorthin vermittelt. Max und Gretel, so hießen die Jungtiere, sollten an Gewicht zunehmen, um im Winter genügend Kraft zum Holzziehen zu besitzen. Uns Buben war das egal, wir hatten nur eins im Sinn: Wir wollten reiten. Cowboy und Indianer hatten wir schon immer gerne gespielt, und jetzt war die Gelegenheit günstig, einmal richtig auf den Gäulen dahinzugaloppieren. Weil Dietrichs Vater das nie und nimmer erlaubt hätte, deshalb mussten wir alles heimlich machen und die Pferde außer Sichtweite vom Hof bringen. Das machte den Reiz für uns noch größer und wir fühlten uns wie im Wilden Westen, wenn wir ohne Sattel durch die Gegend galoppierten, nur den Strick vom Zaumzeug in den Händen. Auch den Pferden schienen die wilden Ritte Spaß zu machen, denn sie jagten mit uns über Stock und Stein, schnaubten wild und ihre Leiber dampften. Manchmal landeten Dietrich und ich bei diesen Ritten auf dem Boden. Wir rappelten uns hoch, klopften den Staub von unseren Klamotten, fingen die Pferde ein und schwangen uns wieder auf den Rücken der Rösser ...