und auf ging's ins Vergnügen. Im September und vielleicht auch im Oktober blieben uns nach dem Heimkommen mit dem Bus noch vielleicht zwei, drei Stunden, um unsere karge Freizeit zu genießen. Wir Fahrschüler waren da echt im Nachteil zu den Eisenerzer Schülern, die waren oft schon daheim, wenn wir noch nicht einmal im Zug Richtung Hieflau saßen. Dann noch an die zwanzig Minuten warten auf den Bus und erst nach 3 Uhr stand ich an Mutters Herd, um zu sehen, was es wohl heute wieder zu essen geben würde. Sehr oft Erdäpfelgulasch. Irgendwann hatte ich mich ganz einfach davon sattgegessen, schüttelte nur den Kopf und ließ lieber meinen Magen knurren.
"Jetzt iss aber schnell etwas, du wirst ja immer dünner!"
Meine Mutter versuchte mich zum Essen zu bewegen, als ich das Gulasch verweigerte, was aber wenig half. Ich schnitt mir eine Scheibe Brot ab und holte mir eine Schale Milch aus der Speisekammer. Schon wollte ich losrennen.
"Was ist mit der Aufgabe?"
"Haben wir heute keine auf! Nur ein paar Zeilen in Englisch. Die mach ich später!"
"Nix da später, das kenn ich schon. Kommst erst wieder todmüde heim, wenn's schon finster ist. Machs nur gleich!"
"Wir spielen heute ein Match. Ich muss mich beeilen, sonst fangens ohne mich an!"
Schon war ich draußen auf der Stiege und irgendetwas rief sie mir noch nach. Die Stiege runter, das Rad aus der Holzhütte und weg war ich.
Ich kann mich an keinen einzigen richtig Dicken erinnern. Höchstens an ein, zwei Mitschüler, die ein bisschen Babyspeck mit sich herumtrugen. Und das auch nur, weil sie lesen, lernen und zu Hause sitzen jeder Art von Bewegung vorzogen. Vielleicht haben sie auch mehr gegessen als wir anderen, das mag schon sein. Bei mir stand "essen" weit hinten in der Reihe, gleich weit weg vielleicht wie ich im ersten Jahr als Fahrschüler beim Anstellen zum Einsteigen in den Bus gestanden hatte. Da hatten die Großen Vorrang. Bei mir stand das Fußballspielen an erster Stelle, dann kam das Fischen und danach die größeren oder kleineren Vergnügungen rund um Haus und Hof. Zum Essen blieb da nicht viel Zeit und so darf es nicht verwundern, wenn ich beinahe so dünn war wie der Dackel vom Oberförster Erber, nachdem der Kurzbeiner einmal über eine Woche lang nicht heimgekommen war und alle schon glaubten, dass er irgendwo umgekommen wäre. War der dünn nach dieser Woche, doch er fraß dann auch wieder gehörig.
Ganz zum Unterschied von mir, ich blieb dünn. Nicht einmal die Ziegenmilch konnte das ändern, der man ja nachsagt, dass sie besonders nahrhaft sein soll. Am liebsten aß ich noch Polenta, den mein Vater relativ oft in einer schwarzen Eisenpfanne über dem Herdfeuer brutzeln ließ. Oder Sterz und Kaffee, wobei der Kaffee allerdings mit meiner heutigen Vorstellung von Kaffee ungefähr zu vergleichen war wie eine Amsel mit einer Krähe. Beide sind zwar schwarz und auch die Kaffees sind beide von brauner Farbe - der uns zum Tisch gestellte Malzkaffee hatte allerdings den Vorteil, dass man davon ganz bestimmt kein Herzklopfen bekommen konnte und auch meine Eltern hätten wohl gut und gerne je einen Liter zu sich nehmen können und wären dennoch am Abend selig eingeschlafen. Doch wenn einen dürstet, dann trinkt man ihn eben. Ich vor allem auch, weil ich ja gar keinen anderen kannte. Bohnen kannte ich schon. Aber nur die, die im Garten an den Stangen wuchsen.
Wenn ich heute hin und wieder ein Fußballmatch im Fernsehen anschaue, dann darf ich mich auf keinen Fall zu gemütlich irgendwo hin lümmeln, sonst fallen mir die Augen ganz sicher zu. Zumindest in den allermeisten Fällen. Doch damals im zarten Knabenalter von vielleicht elf, zwölf Jahren? Was konnte es Schöneres geben, als dem Leder nachzujagen und dann wieder einmal kräftig drauflos zu ballern. Einfach herrlich. Ich war ja ein sehr beweglicher Typ, schlank, klein und wendig und war dazu noch mit einem großen Kämpferherzen ausgestattet. Ich ließ mir den Ball nicht so schnell abjagen, wenn ich ihn einmal ergattert hatte, und wenn ihn mir einer abjagte, dann setzte ich nach, um ihn mir wieder zu holen. Das machte mich als Mitspieler irgendwie begehrt und so durfte ich oft bereits mit den Größeren mitmachen, wenn meine gleich alten Freunde schon froh sein konnten, wenigstens zuschauen zu dürfen. Fürs Mitspielen waren sie noch zu grün hinter den Ohren. Was blieb ihnen auch anderes übrig, denn keiner von uns hatte einen eigenen Ball und dem Strasser Siegi war seiner beinahe so heilig wie einem Inder seine Kuh am Ganges.
Wir kennen doch alle das Lied: "Am Tag, als der Regen kam ..." Von heißersehnt ist da die Rede und vom Erblühen und vom Grünen. Auch für uns kam dieser Tag, und auch wir Kleinen blühten förmlich auf. Doch zu uns kam nicht der Regen, zu uns kamen Onkel Jörg und Tante Linde mit dem Abendbus. Auto hatten sie damals ja noch keines. Mit Zug und Bus reisten sie von Frankfurt am Main bis zu uns nach Radmer und nach einer netten Begrüßung griff der Onkel in seine Reisetasche und zog dieses Ding daraus hervor: "Da, für dich, du Fußballkünstler!"
Ich stand da und schaute auf das zusammengefaltete Etwas.
"Hab die Luft ausgelassen für den Transport. Brauchst den Ball nur aufzupumpen."
Mein Bruder Herbert bekam eine Taschenlampe, eine sogenannte Stablampe mit drei Batterien. Er war ja am Fußballspielen ungefähr so interessiert wie unser Kater am Mäusefangen in seiner Mittagspause, wenn er angefressen sein Schläfchen irgendwo im schattigen Heustadl abhielt. Da hätte vermutlich auch die fetteste Maus gemütlich an ihm vorbeispazieren können. Aber ich. Ich sprang vor Freude in die Luft und jauchzte wie der Jäger auf der Alm, wenn er die Sennerin nach zwei Wochen wieder aus der Almhütte kommen sah und er in Gedanken bereits den einen oder anderen Schuss (bei ihr) abfeuerte. Endlich hatten wir einen Ball für uns. Und was für einen. Besser und schöner als der vom Siegerl. Jetzt durften auch meine Freunde nach Herzenslust drauflos ballern. Doch genau das sollte uns den Tag noch richtig versauen.
Heute hat Radmer einen wunderschönen Fußballplatz am Ortseingang und was mich besonders freut, ist die Tatsache, dass einer der etliche Jahrzehnte nach diesem Ereignis in Radmer aufgewachsenen Jungs sein Debüt im Nationalteam feiern konnte. Also durchaus eine fußballträchtige Gegend. Fußball kann man ja beinahe überall spielen und jedes noch so kleine Bauerndorf hat heute einen Fußballplatz wo die Jungs und ab und zu sogar die Mädels dem Ball nachlaufen. Doch damals bei uns in Radmer?
Wir hatten auch unseren Fußballplatz. Beim Depot der Feuerwehr war eine Wiese durch die in der Mitte ein Bächlein rann. Winzig zwar und doch - es musste da durch, denn der Bach war auf der anderen Seite der Wiese und dahin wollte das Nass ganz einfach fließen. Damit es jedoch nicht zu sehr aus seinem Graben rinnen und die Wiese vor allem nach stärkeren Regenfällen zu sehr überfluten konnte, deshalb wurde mit Krampen und Schaufeln ein kleines Bett fürs Wasser gegraben. Da hieß es nun drüberspringen, sofern man in die Gegenrichtung unterwegs war. Kein Problem an und für sich, doch mit dem Ball am Fuß sah die Sache schon anders aus und nicht selten landete das Leder im Bächlein. Blitzschnell wieder herausgefischt und weiter ging das Match. Würde ich irgendwo diese Geschichte von unserem damaligen Fußballplatz erzählen, so bekäme ich wahrscheinlich Folgendes zu hören: "Das G'schichterl kannst wem anderen auf die Nase binden, vielleicht probierst du's einmal bei irgendwem am 1. April!"
Und doch, es stimmt. Wort für Wort ist wahr und nichts auch nur ein bisschen erfunden oder gar erlogen. Der Wassergraben rann tatsächlich quer über den Fußballplatz. Nicht seitlich dahin, sondern richtig quer von einem Ende zum anderen darüber. Nicht ganz genau in der Mitte, aber er teilte das Spielfeld etwa in zwei gleich große Teile. So ein Fußballplatz ist eine Rarität und vielleicht hat irgendein Mensch sogar noch ein Foto davon. Ich leider nicht. Doch das ist beileibe nicht alles und ich muss ehrlich gestehen, auch ich könnte kaum glauben, würde mir jemand erzählen, dass zudem noch ein A-Masten auf dieser Wiese in die Höhe ragte, an dessen oberem Ende zwei Stromkabel befestigt waren, und diese bis zu ihm hin und von dort wieder weg über den Platz führten bzw. in der Luft hingen. Es machte beinahe schon Spaß mit dem Ball durch diesen Mast aus geteertem Holz zu sausen. Nur ja nicht dagegen prallen, denn diese Holzbloche waren dicker als die Torpfosten und so mancher Schuss verirrte sich hinauf zur Stromleitung und es funkte nicht selten, wenn die Kabel aneinander stießen.
Doch zurück zu meiner Story mit dem neuen Fußball: Obwohl es bereits leicht dunkel geworden war, konnten wir ganz einfach nicht aufhören zu spielen. Und jetzt hatte einer meiner Freunde meinen neuen Ball schlecht getroffen und der war über die Straße zum angrenzenden Bach geflogen. Sofort hatten wir zu suchen begonnen. Nichts! Wir suchten und suchten, doch dann war es bereits zu dunkel dazu. Auf die Räder und ab nach Hause. Die Taschenlampen geholt und weitergesucht. Wieder nichts! Mein schöner Ball. Keine drei Tage alt. Eine Katastrophe! Der Ball von meinem Lieblingsonkel.
Von unseren eher kleinen Taschenlampen leuchtete mittlerweile nur noch eine ganz schwach. Die zwei anderen hatten das lange Suchen nicht überstanden. Die Batterien waren vermutlich schon zu alt. Vor Zorn wollte ich meine schon in den Bach werfen. Kein Funken war mehr herauszubringen. Würde so nichts mehr nützen. Der Ball war weg! Keine Frage. Er schwamm wahrscheinlich bereits irgendwo weit weg im Bach dahin oder war vielleicht schon im Erzbach gelandet. Und würde in Hieflau in die Enns ...
Da kam mein Bruder angeradelt. Schwach brannte die Lampe an seinem Rad. Was wollte der eigentlich hier, der hat doch nie mit uns Fußball gespielt. Jetzt stand mein Bruder neben uns, irgendetwas hatte er in seiner Hand. Nicht genau zu erkennen, was. Plötzlich ein heller Strahl und seine Stablampe leuchtete gewaltig durch die Gegend. Gezielt leuchtete er die Büsche der Reihe nach ab. Dann der Aufschrei vom Günter: "Da, ich seh' ihn. Da hängt er in den Stauden!"
Freud und Leid. Wie nah die manchmal beisammen liegen. Meine Freude von damals kann ich beim besten Willen nicht beschreiben. Ein Wahnsinn! Und noch etwas: Manchmal ist es wunderschön einen Bruder zu haben. Auch wenn er nicht Fußball spielt ...