Wir hatten drei Ziegen in unserem Stall stehen. Eine weiße ohne Hörner, eher klein und gedrungen von Wuchs oder nur momentan rundlich, weil sie anscheinend geschwängert und satt und zufrieden von der Seekaralm in den heimatlichen Stall zurückgekehrt war und der Nachwuchs in ihrem Inneren bereits merklich an Gewicht und Größe zugenommen hatte. Dann noch eine schwarze, sehr friedliebende Ziege mit großen Kulleraugen und einem sich an ihrem Rücken entlangziehenden weißen Streifen. Etwas größer als die weiße, und jedes Mal freudig meckernd, wenn irgend jemand von uns in den Stall kam. Wie die Weiße von gutmütigem Wesen, wie die Weiße mit gutem Appetit am hingestreuten Heu oder an anderen Köstlichkeiten kauend. An Rübenscheiben zum Beispiel oder an frischem Grünfutter, von meinem Vater oder von uns Buben irgendwo vor dem Stall mit der Sense abgemäht. Meine Mutter hatte die weiße Ziege vor allem deshalb besonders in ihr Herz geschlossen, weil sie mehr als die beiden anderen an täglicher Milch produzierte. Eine gute Rasse eben. Jährlich zumindest zwei bis drei Kitze gebärend, auch nicht in der geringsten Weise störrisch, ruhig und beinahe möchte ich sagen gottergeben. Irgendwie glich sie da meinem Bruder, der war ja auch von friedlichem Wesen, zurückhaltend und folgsam und außer Tomatensuppe stopfte er alles von der Mutter zum Essen hingereichte brav und unwidersprochen in seinen Bubenmund. Auch sonst bereitete er meinen Eltern kaum jemals in irgendeiner Weise Sorgen. Ganz so wie die Weiße eben.
Doch da stand noch eine dritte Ziege im Kuhstall. Im ehemaligen Kuhstall, denn Kuh gab es zwar bei unseren Vorgängern in der herrschaftlichen Dienstwohnung, doch seit mein Vater den Sägemeisterposten angetreten hatte und wir dort wohnten, da lebten eben Ziegen darin. Vielleicht wollte meine alles andere als mit dem Prädikat "wuchtig" zu bezeichnende Mutter kein so großes Vieh, unter das sie sich täglich zweimal bücken und die Milch aus den Eutern pressen musste. Eine Kuh mit womöglich Riesenhörnern konnte nämlich ganz schön mit ihren Beinen austreten, beinahe wie ein Pferd, vielleicht konnte meine Mutter deshalb unseren Vater dazu bewegen, Geißen zu halten. Vielleicht wollte jedoch auch mein Vater lieber Ziegen im Stall als eine Kuh. Was weiß ich. Einmal hat er jedenfalls auf die Frage, warum er sich keine Kuh halten würde, zu einem bei uns wohnenden Sommerfrischler-Ehepaar gesagt, dass Geißen weniger als Kühe fressen und auch Milch geben würden. Vielleicht war dies der Grund oder er liebte ganz einfach die Ziegenmilch, die ja noch nahrhafter als Kuhmilch sein soll. Jedenfalls gab es noch eine dritte Geiß bei uns. Eine etwas größer gewachsene und mit durchaus ansehnlichen Hörnern versehene Ziege. Vielleicht war dies der Grund, dass sie ob ihrer Größe und Stärke sich dann und wann an der weißen Geiß sozusagen "vergriff" und dieser ihr Gehörn, vielleicht aus angeborener Bosheit oder vielleicht auch nur aus purer Lust am Zuschlagen, kräftig in die Flanken stieß. Die Weiße meckerte dazu nur schmerzvoll und versuchte sich untertänig zu verdrücken und irgendwohin zu flüchten.
Weil ich mit der Evi, der Enkeltochter des Sommerfrischler-Ehepaars soeben im Stall war und wir in einer dunklen Ecke in kindhafter Weise ein wenig an uns geforscht hatten, deshalb hörte ich das klagende Meckern und Trampeln der Hufe. Mit wenigen Schritten war ich an der Tür, hinter der sich die Geißen befanden, öffnete sie und sah die große Braune gerade wieder zustoßen. Ich verpasste ihr einen ordentlichen Tritt und hängte sie an eine Kette. Luder, blödes und der an der Wand lehnende Besen musste auch noch für einen ordentlichen Hieb herhalten. Sie sollte ruhig auch einmal spüren, wie sich Schläge anfühlten.
Was ich hier jedoch erzählen will, das hat mit den Geißen überhaupt nichts zu tun, am ehesten noch damit, dass auch die Ziegen anscheinend von verschiedenartigstem Charakter sind. Ganz so wie dies bei uns Buben der Fall war. Mein Bruder, wie gesagt, vorbildlich in seinem Wesen, der Rudi und der Günter in etwa gleich. Keineswegs Muttersöhne und durchaus zu überreden, irgendwo mitzumachen. Auch wenn das "Produkt" nicht gerade Lob und Freude bei den Eltern hervorgerufen hätte. Dann gab es bei meinen engeren Spezeln noch den Toni. Der Sohn des Mesners stammte zwar aus frommem Hause, damit hatte es sich aber schon. Dann kam noch ich. Ich war zwar nicht so boshaft wie die dritte Ziege, herumgeprügelt hab ich mich mit allen möglichen anderen Buben liebend gern, doch kaum jemals mit schwächeren. Und der Durst nach Taten schrie aus meiner kleinen Brust wie dies bei einem Beduinen der Fall sein mochte, der auch Durst verspürt, wenn er bereits tagelang durch die Wüste stolpert und fieberhaft nach einer Oase Ausschau hält, um endlich zu einem Schluck Wasser zu kommen. Und wer tatendurstig durch sein Leben geht, bei dem wird nicht nur das eine oder andere Abenteuer zu bestehen sein, der wird hin und wieder auch ganz schön in die Patsche treten. Wie dies bei mir immer wieder der Fall war. Vor allem in letzter Zeit hatte es einige eher unliebsame Vorfälle mit mir gegeben, was mein Verweilen an der Hauptschule betraf.
Irgendwann hatten wir in der Pause wieder gehörig herumgerauft. Vor allem mein Erzfeind Kassin und ich kamen uns dabei eher unsanft in die Haare. Bis er reiß aus nahm und zur Klassenzimmertür hinausstürmte. Doch ich wartete auf ihn, er würde ja zurückkommen. Allerdings wartete ich nicht mit Blumen oder einem netten Lächeln auf ihn, ich wartete mit erhobenem Sessel und wäre durchaus bereit gewesen, mich damit auf ihn zu stürzen und ihm diesen, wenn schon nicht auf den Kopf, so doch zumindest an den Rücken klatschen zu lassen. Zur Tür herein kam allerdings der Leitner, unser Musiklehrer. Der war mir nie besonders hold gewesen und auch ich konnte ihn durchaus nicht zu meinen Lieblingslehrern zählen. Unangenehm, äußerst unangenehm.
Er hat mir nicht abgenommen, dass ich den Sessel nur zu meinem Vergnügen mit mir herumgetragen hätte. Fazit: auf zum Direktor und danach ein ernstes Gespräch mit dem Klassenvorstand. Einige Zeit zuvor hatte sich die Englischlehrerin über den Frosch in der Katheterlade erschreckt und irgendein Petzer hatte natürlich nicht stillgehalten. Vielleicht wollte er auf diese Weise seine Note in Englisch aufbessern. Erfahren hätte ich es nicht dürfen, wer da zum Verräter wurde. Bald danach erwischte es mich in unglücklicher Weise wieder. Vom Schwarzl kam eine Meldung an die Direktion, dass er mir soeben den zehnten roten Punkt verpassen musste. Diesmal wegen wiederholten Lärmens und Herumtollens am Bahnhofgelände. Dieser von ihm selbst angefertigte Strafenkatalog für uns Fahrschüler war ihm besonders ans Herz gewachsen und "rote Punkte" vergab er anscheinend noch lieber als seinem Hund etwas zu fressen. Erreichte einer von uns den zehnten Punkt, dann gab es eine Meldung an die Schule mit der dringlichen Bitte, die Schulleitung möge umgehend erzieherische Maßnahmen ergreifen.
Von der Direktion ging die Meldung weiter an den Klassenvorstand. Der "Fritz" mochte mich zwar ganz sicher irgendwie. Nicht nur wegen der Marken, die ich ihm immer wieder von zu Hause mitbrachte. Er mochte vielleicht sogar meine aufgeweckte Art und konnte die eine oder andere daraus entstehende Tat vielleicht sogar irgendwie verstehen. Doch irgendwann hatte auch er die Nase voll, weil sich die Vorfälle in letzter Zeit häuften. Deshalb beordnete er mich in einer der großen Pausen zu sich in den Physiksaal, hieß mich ihm gegenüber Platz nehmen und begann mit seiner Standpauke. In durchaus netter und ruhiger Form. Am Ende dieser Unterredung musste ich ihm hoch und heilig versprechen mich in nächster Zeit wie jeder normale Schüler zu benehmen und meine Finger tunlichst von allen möglichen Streichen fern zu halten.
Meine christliche und durchaus unseren gesellschaftlichen Normen entsprechende Erziehung ließ zwar dann und wann meinen Übermut mit mir durchgaloppieren wie das eventuell bei allzu feurigen Rossen hin und wieder vorkommen mag, doch sie bewirkte zumindest, dass ich mich keinesfalls zu irgendwelchen kriminellen Taten hinreißen ließ. Sofern man unerlaubtes Fischen, Zündeln im Wald oder das Rauchen von Zigaretten im Heustadl noch als Lausbubenstreiche einstufen kann. Doch diese jetzt vom Klassenvorstand in freundschaftlicher Form ausgesprochenen Belehrungen und Ermahnungen bezüglich meines Benehmens gaben mir echt zu denken und ich schwor in meinem tiefsten Inneren, mich an mein Versprechen zu halten.
Es handelte sich um einen dieser ganz gewöhnlichen Schultage, an denen wir die Schulbank drückten. Und doch irgendetwas hatte sich in letzter Zeit bei mir verändert. Das fiel natürlich etlichen aus meiner Klasse auf.
"Warum sitzt du denn in der Pause beinahe nur noch auf deinem Platz und liest?"
Mein Freund Franzerl schaute mich entgeistert an.
"Was ist los mit dir, Hermann, bist du krank?", tönte es von einem anderen an mein Ohr.
"Na du kleiner Hosenscheißer, bist wohl zu feige, um mit mir ein wenig zu raufen!"
Die Stimme kannte ich nur zu gut. Der Kassin wollte mich wohl wieder einmal provozieren, aber ich tat so, als hätte ich nichts gehört, dachte vielmehr an das Versprechen, das ich meinem Klassenvorstand vor kurzem gegeben hatte und blieb ruhig auf meinem Platz sitzen.
Am nächsten Tag saß ich in der großen Pause wieder ruhig an meinem Platz. Ein beliebtes Spiel war rundherum in gang. Schießen mit dem Tafelschwamm. Zweimal flog er an mir vorbei und einmal lag er sogar vor mir am Schreibpult. Ich ließ Schwamm Schwamm sein und sah, wie ihn der Kassin wegnahm, damit zum Waschbecken ging, den Schwamm ins Nass tauchte, dann anhob und schon klatschte er an meine Brust. Da konnte ich ganz einfach nicht anders. Ich nahm den Schwamm, erhob mich und zielte. Der Kassin stand genau vor der Eingangstür. Ich war ein geübter Werfer und mein Schuss saß bestens. Aber leider nicht am Körper vom Kassin. Der hatte sich geduckt und hinter ihm war exakt zur selben Zeit die Tür aufgegangen ...
War es nicht außerordentliches Pech, dass der Tafelschwamm mitten im Gesicht meines Klassenvorstandes landete, als dieser genau in diesem Moment zur Tür hereintrat? Der "Fritz" war durch und durch Pädagoge und ein äußerst friedliebender und gutmütiger Mann. Und irgendwie konnte ich ihn sogar verstehen, als auch er anscheinend nicht anders konnte und kurz darauf einen ganz gewaltigen Schuss losließ. Und meine Wange? Die brannte noch etliche Tage. Und was mir am meisten weh tat: Keiner der Lehrer wollte mir glauben, dass es sich beim Schuss ins Gesicht unseres Klassenvorstandes doch nur um einen ganz saublöden "Zufall" gehandelt hatte.
Zufall hin, Pech her. Es war eine ganz verflixte Angelegenheit und mir tat nicht ich, mir tat vor allem der Fritz leid, musste er doch annehmen, dass all sein Bemühen, all sein gutes Zureden und all meine Versprechungen auf fruchtlosen Boden gefallen wären. Behandelt uns das Leben nicht oft in unfairster Art und Weise und werden wir manchmal nicht für Sachen bestraft, für die wir wirklich und beim besten Willen nichts können?
Geht vielleicht schicksalhaft in unserem Leben so mancher abgegebene Schuss von uns in ungünstigster Art und Weise und sehr zu unserem Leidwesen nach hinten los ...?