Ein bisschen will ich auch von den Beamten bei der Bahn berichten, nachdem ich ja bereits von unseren Bus-Chauffeuren erzählt hab. Vielfach ist das Wort "Beamter" im Volksmund ein wenig grau gefärbt, bewirkt vielleicht da und dort sogar ein wenig gähnen, weil sich mancher unserer Mitbürger damit womöglich einen mit stattlichem Bauch versehenen Herrn vorstellen mag, der dösend hinter seinem Schreibtisch hockt, gelegentlich an einer Tasse Kaffee nippt und gelangweilt in die vor sich liegende Tageszeitung starrt. Bei meinen zwei Bundesbahnbeamten handelt es sich jedoch keineswegs um Staatsdiener, die uns Fahrschüler zum Gähnen brachten. Ganz im Gegenteil, beide waren durchaus dienstbeflissene Männer mit allerdings gänzlich gegensätzlichem Erscheinungsbild.
Der erste hieß Schwarzl, wie er allerdings wirklich geheißen haben mag, weiß ich nicht. Für uns war er eben der "Schwarzl". Vielleicht deshalb, weil er beinahe zu jeder Jahreszeit einen schwarzen Umhängmantel an sich flattern hatte, welcher sein eher mageres Gestell verdeckte. Überdies zierte sein graues, eingefallenes Gesicht ein schwarzer Schnauzbart und seine stechend schwarzen Augen taten das ihre, um seinem Namen gerecht zu werden. Gelacht hat dieser Bahnhofvorsteher oder Fahrdienstleiter oder eventuell beides in ein und derselben Person am niedlich kleinen Bahnhof Radmer natürlich auch dann und wann. Allerdings sah ich das bei ihm nur, wenn er einen roten Punkt in den von ihm extra angefertigten "Katalog" eintragen konnte, sofern sich einer von uns Fahrschülern disziplinär einen Ausrutscher geleistet hatte, was nicht allzu selten vorkam.
Gelegenheiten dafür gab es ja vielfältig. Allzu lautes Herumtollen zum Beispiel im oder rund ums Bahnhofgebäude oder Bahnhofgelände, schießen mit Steinen oder Schneebällen auf Ziele, die ganz und gar nicht das Einverständnis dieses gestrengen Mannes enthielten, ärgern der Mädels mit anschließendem Verpetzen durch die Geärgerten bei ihm, Raufen untereinander oder Bekritzeln mancher Wand. Auch dann setzte es sofort Maßnahmen und sorgte mit Sicherheit für einen Schlechtpunkt, wenn man seinem Hund nicht diejenige Sorgfalt entgegenbrachte, die einem Beamten-Hund entgegenzubringen sich sein Herrl vorstellte. Sprich, wenn wir den eher kleingewachsenen Hund wieder einmal mit Schneebällen bewarfen oder ein Steinchen an sein Fell klatschen ließen. Aber wirklich nur ein kleines, versteht sich! Schließlich waren wir keine Tierquäler. Aber der Köter hatte eben dieses negative Vorzeichen an sich, dass er der Hund vom Schwarzl war. Und den liebten wir ja nicht gerade sonderlich.
Was dieses "nicht gerade Lieben" mit sich bringt, ist leicht zu erraten. Wir fühlten uns zu oft von ihm nicht allzu gut behandelt und das wiederum bewirkte bei uns Buben, dass wir nach Dingen suchten, womit wir diesen Mann ein wenig ärgern konnten. Uns Buben sage ich bewusst, weil der Schwarzl auch eine durchaus gute Eigenschaft an sich hatte: Er war überaus höflich und zuvorkommend jenen Menschen gegenüber, die an ihrem Körper Kittel oder Ähnliches trugen. So, wie das damals noch bei Mädchen und Frauen durchaus üblich war. Die Mädels hatten bei ihm sozusagen einen Stein im Brett. An frostigen Wintertagen durften sie ganz allein im mit Hilfe eines kleinen Öfchens warm geheizten Warteraum verbringen, während er uns Buben sofort wieder zur Tür hinausjagte, sofern es auch nur ein einziger wagte, seinen schneebehafteten Schuh ins Hausinnere zu setzen. Den Mädels zeigte er Bilder, lud die eine oder andere zu sich in seine Stube ein und las ihnen dort manchmal sogar aus dem einen oder anderen Buch vor. Uns las er vornehmlich die Leviten und überhäufte uns dabei keinesfalls mit Kosenamen, sofern wir uns nicht strikt nach seinen Vorstellungen verhielten. Mich schien er ganz besonders zu mögen, wobei dieses "Mögen" durchaus so zu verstehen ist, wie sein Hund uns mochte, wenn wir ihn wieder einmal ordentlich um die dem Bahnhofgebäude vorgebaute Veranda hetzten. Mich störte vor allem seine schleimige Art den Mädels gegenüber und dass er damit bei diesen sogar mehr als nur gut ankam. Uns ließen sie sozusagen links liegen, ihm jedoch machten sie schöne Augen. Das schrie ja geradezu nach Rache, und eines Tages wussten wir, wie wir ihm die Laune wieder einmal ein wenig verderben könnten.
Für den Bus mussten wir eine sogenannte Wochenkarte lösen. Diese wurde bei jeder Fahrt vorgezeigt und vom Fahrer mittels einer Zange gelöchert. Exakt an dem auf der Karte aufscheinenden Wochentag. Für die Fahrt mit dem Zug gab es eine andere Lösung. Hier waren Monatskarten vorgesehen, und diese Monatskarten gab der Schwarzl am Beginn jeden Monats an seiner Kassa aus, kassierte das uns von den Eltern mitgegebene Geld, um nach vollzogener Amtshandlung seinen Schalter wieder zu schließen.
Artig stellten sich die Mädels am Monatsbeginn vor seinem Schalter an. Dahinter der Schwarzl mit den bereits vor sich auf dem Tisch liegenden Monatskarten. Natürlich hatten die Mädels auch hier den Vortritt, das störte uns in keiner Weise. Wir waren zwar keine Kavaliere im üblichen Sinn und doch dass die Mädels zuerst ihre Karten erhielten, das fanden wir durchaus in Ordnung. Dem Mann mit der roten Kappe auf dem Kopf muss irgendetwas nicht ganz richtig vorgekommen sein, weil sich nur einer von uns Buben anstellte und der war ausgerechnet ich. Von etwa zehn an der Zahl heute nur einer und fragend blickte der Schwarzl in mein Gesicht, ehe er sagte: "Was ist, wo bleibt ihr alle? Hol sofort die anderen! Der Zug kommt schon bald." Ich, mit Unschuldsmiene: "Ich wollt nur sagen, dass wir unsere Monatskarten bereits gestern am Bahnhof Eisenerz gelöst haben." Sprach's und flugs war ich wieder zur Tür hinausgeeilt.
Noch um eine Spur grauer als sonst war sein Gesicht und mehr als nur laut das Geschrei des guten Mannes, als er wenig später in seinem schwarzen Umhängmantel vor uns auf der Veranda stand und es kaum fassen konnte, dass wir uns diese Unverschämtheit, wie er zu sagen pflegte, geleistet hatten. Die Karten ganz einfach in Eisenerz zu lösen, wo wir doch wissen müssten, dass er sie immer schon am Vortag für uns vorbereiten und mit den notwendigen Vermerken versehen würde. Das hier wäre doch ein abgekartetes Spiel und hätte noch ein schlimmes Nachspiel, und wenn er dahinter kommen würde, wer hinter dieser Schweinerei steckt und diese Aktion angezettelt hätte, dem würde es schlecht ergehen, drohte er mit geballter Faust. Seine Augen rollten im Zorn und beinahe schien es mir, als würde ihm der Schaum vor dem Mund stehen.
Unser Plan oder soll ich besser sagen, mein Plan war voll aufgegangen, denn der Mann, der uns schon so oft mit seinen Maßnahmen verärgert hatte, der ärgerte sich tatsächlich grün und blau und sein schmaler Oberlippenbart zitterte bei seinem Geschrei. Auch wir Buben zitterten irgendwie und standen mit hochgezogenen Schultern und betreten dreinblickend vor dem Tobenden. Was hatten wir schon gar so Schlimmes gemacht? Unsere Monatskarten ganz reell in Eisenerz gelöst.
Seine für uns vorbereiteten waren damit allerdings unbrauchbar geworden ...
Wie es nun mal so ist, wenn zu viele von etwas wissen: Irgendeiner der Knaben hat nicht dichtgehalten und eines schönen oder vielleicht sogar nicht allzu schönen Tages stand der Mann in schwarz plötzlich vor mir auf der Veranda. Zornig funkelten seine Augen und ich ahnte nichts Gutes. Wortlos ließ er seine Hand in Richtung meines Gesichtes vorschnellen, ich duckte mich und rannte. Er hinter mir drein. Rund um die Veranda ging die Hetzjagd. Hätte er mich gefasst, so hätte er mir höchstwahrscheinlich eine ordentlich hineingehauen. Was zu damaligen Zeiten durchaus nicht unüblich war. Ein eigenartiges Schauspiel muss es nach Berichten meiner Mitschüler gewesen sein. Voran ich mit dem Schulranzen auf dem Rücken und er in seinem wallenden Überhang hinter mir drein. An die zehn Mal rund um die Veranda. Mit mehrmaligem Richtungswechsel, wenn er der Meinung war, dass er mich damit eventuell leichter fassen könnte. Bis er keuchend aufgab.
Böse Zungen behaupten noch heute, ich hätte ihm bei diesem "Fangen-Spielen" sogar einmal: "Kriegst mich eh nicht, schwarzer Hund!" zugerufen. Das dürfte dann ja doch etwas weit hergeholt sein. Oder? Und noch etwas: Beliebter hab ich mich durch diese Aktion bei ihm ganz sicher nicht gemacht, und ich kam in den nächsten Wochen und Monaten noch wesentlich leichter zu "roten Punkten", was eine Meldung an die Schule zur Folge hatte und natürlich auch die Eltern auf den Plan rief. Was wiederum handfeste Sanktionen vor allem von Seiten meines Vaters mit sich brachte ...
Erfreulicher ist da die Geschichte vom anderen Bundesbahnbeamten, und zwar die von unserem Lieblingsschaffner. Natürlich hatten wir auch andere Schaffner abwechselnd im Zug, ich will aber nur von diesem einen erzählen. Er hieß Turnhofer oder so ähnlich. Ganz genau weiß ich das nicht mehr, wir nannten ihn ganz einfach den "Turni". Ein bereits etwas älteres Semester von kleiner Statur, schütterem Haar, etlichen Falten in seinem hageren Gesicht und einer rötlich-blau gefärbten Nase. Ein Mann von gutmütigem Charakter, zumindest was sein Verhalten uns Fahrschülern gegenüber anlangte. Wir mochten ihn alle und wenn er Dienst versah, dann brauchten wir nicht unnötig in unseren Schultaschen nach unseren Monatskarten zu kramen, denn der Turni schaute im Vorbeigehen nur lächelnd zu uns her, forderte jedoch keinen auf, seine Monatskarte vorzuweisen. Zu gut wusste er wahrscheinlich, dass wohl so jeder von uns seine Karte am Monatsbeginn gelöst hatte. Wozu also die ständige Kontrolle? So oder ähnlich mag er wohl gedacht haben und wir bemühten uns stets nett zu diesem älteren Herrn zu sein.
Er verhielt sich in etwa so, wie das ein guter Schiedsrichter beim Fußballspielen macht. Auch der pfeift nicht bei jeder Kleinigkeit in seine Trillerpfeife und ärgert damit Spieler und Zuseher. Bei ihm konnten wir uns ein bisschen mehr erlauben, er ermahnte uns nicht ständig, wenn es wieder einmal etwas lauter im Zug herging oder wenn wir, nicht gerade zur ungeteilten Freude mit anderen im Zug mitfahrenden Fahrgästen, während der Fahrt die Fenster aufrissen, über Bänke kletterten oder mit unseren U-Hakerln durch die Gegend schossen. Der Turni war eben abgeklärt, tolerant und Herr seiner Gefühle, und er ließ sich niemals zu Schimpfkanonaden uns gegenüber hinreißen. Trieben wir es allerdings zu bunt, dann hob er im Vorbeigehen seine Hand mit dem Zeigefinger, und weil wir ihn tatsächlich mochten, deshalb bremsten wir daraufhin unser übermütiges Tun sofort ein.
An manchen Tagen wankte er bedenklich durch die Waggons. Höchstwahrscheinlich, weil der Zug ja doch nicht ganz ohne Erschütterungen am vielfach neben der Bahnstrecke dahinfließenden Erzbach vorbeirumpelte. Doch dieses merkliche Torkeln des Schaffners wird ganz allein doch nicht die etwas unruhige Fahrt hervorgerufen haben, vielleicht neigte der Turni dazu, hin und wieder etwas tiefer ins Glas zu blicken. Könnte durchaus so gewesen sein, wie der Farbe seiner Nase zu entnehmen war, und worauf auch das folgende Ereignis schließen lässt.
Heiß brannte die Sonne vom Himmel, die Ferien waren nicht mehr allzu fern und die Stimmung aller im Zug Weilenden in etwa so wie das Wetter. Wie gewöhnlich hielten wir unsere Köpfe vor der Abfahrt des Zuges zum Fenster hinaus, da kam bereits der Mann mit der roten Kappe auf dem Kopf und der Signalkelle aus seinem Büro, der Schaffner ging von hinten nach vorne an der Zugsgarnitur vorbei, schloss die noch nicht zugemachten Gitter an den Trittbrettern und deutete mit erhobener Hand, dass alles o.k. sei. Daraufhin hob der Fahrdienstleiter seine Kelle, achtete, dass das Grün zum Lokführer hin zeigte und winkte mit seinem Arm. Abfahrt! Gemächlich setzte sich der Zug in Bewegung. Ziemlich in der Mitte der Garnitur stand der Schaffner und ließ einen Waggon nach dem anderen an sich vorbeigleiten. Wir Buben schauten aus dem Fenster und wussten, dass der Schaffner irgendwann aufspringen würde.
Alle Waggons waren mit sogenannten Trittbrettern versehen, eine Tür führte am Anfang und Ende jedes Waggons in der Mitte hinaus auf eine Plattform und von dieser konnte man mittels der fix montierten Trittbretter an zwei, drei Stufen und der zugehörigen Haltestangen zum Festhalten aus- oder zusteigen. Langsam rollte der Zug dahin und schon bald näherte sich der letzte Waggon der Stelle, wo der Schaffner noch immer wartete, um aufzusteigen oder besser gesagt, aufzuspringen. Denn es erforderte einiges an Geschick, auf einen fahrenden Waggon zuzusteigen. Doch die Schaffner hatten das ja schon Tausende Male praktiziert. Manchmal stiegen sie sofort nach dem Anfahren auf, dann wieder ließen sie zwei, drei Waggons vorübergleiten, um sich erst danach hinaufzuschwingen. Diesmal war der allerletzte Waggon Ziel des Mannes in Blau.
Laut quietschten die Bremsen des Zuges, ehe er am Ausfahrtssignal zum Stillstand kam. Dieses hatte der Fahrdienstleiter etwa hundert Meter vom Bahnhof entfernt kurzentschlossen von "grün" auf "rot" gestellt. Der Schaffner humpelte mit der Tasche um seine Schultern und sich den Schmutz von der Uniform klopfend, dem Zug hinterdrein.
Warum immer es auch passiert war - es war nun einmal so: Der Turni hatte sein Ziel verfehlt und war danebengesprungen ...