Mai, die vielleicht schönste Zeit des Jahres. Blütenpracht, wohin man schaut. Auch in unserem Tal standen die Apfelbäume mit ihren zartrosa Blüten an manchem Wegrand, die Kirschbäume ließen ihr Weiß erstrahlen und an der Scheune zeigten die Marillenbäume, dass auch sie keinesfalls zurückstehen wollten. Aber ich will ja nicht von Obstbäumen berichten, sondern von einem Abenteuer, bei dem es auch um eine Blütenpracht ging. Um gelbe Blüten mit einem ganz besonders intensiven Duft. Einem Duft, von dem auch wir Buben nicht genug in unsere Nasen bekommen konnten, und immer wieder rochen wir an diesen Blüten, sofern wir es schafften, diese Blümlein aus irgendeiner Felswand zu entwenden.
Wie jedes Jahr um diese Jahreszeit warfen wir den Schulranzen ins Eck, schwangen uns auf unsere Stahlrösser und schon sah man uns durch die Gegend flitzen. Vorbei am kaiserlichen Jagdschloss, momentan ohne darin lebende Prinzen, die kamen in der Schweiz ihrer schulischen Ausbildung nach, und in dessen Innerem die Fürstin womöglich soeben ihren Mittagsschlaf hielt oder sich an einer Schale Kaffee und an einer von ihrer Köchin fabrizierten Mehlspeise labte. Wir Buben genossen auch etwas - den wunderschönen Tag, brausten auf der Schotterstraße den Hang hinunter und ließen uns den Fahrtwind um die Ohren pfeifen, strampelten weiter auf dem Weg zum Sulzerbauer, dem letzten Gehöft, bevor es aus dem Ort hinausging. Links der rauschende Gebirgsbach, rechts die Geleise der Schmalspurbahn und zu beiden Seiten mit Bäumen bewachsene Steilhänge. Bei diesen Ausflügen hatten wir oft unsere halblangen Lederhosen an, weil sie uns vor mancher Schramme bewahrten, wenn wir bei den wilden Ritten auf unseren aus alten Teilen zusammengebauten Rädern wieder einmal irgendwo stürzten oder im Wald über manchen Abhang rutschten und so auf unserem Allerwertesten durch die Gegend sausten. Eine normale Stoffhose wäre da längst in Fransen aufgegangen.
Es war dies die Normalstrecke, auf der wir für gewöhnlich hinaus ins Weißenbachl fuhren um, draußen angekommen, unsere Räder in die Büsche zu werfen und den steilen Pfad durch den Wald zur zehn Minuten entfernten Felswand hinaufzuhasten. Unter uns der Bach mit dem schäumenden Weiß, von dem das Bächlein wohl seinen Namen hatte. Weißenbachl, das war ein kleiner Gebirgsbach, der in einer Schlucht von den Bergen rauschte, aber auch die Gegend hatte diesen Namen. Für uns Buben das Paradies zum Herumkraxeln im Bachbecken bzw. auf den riesigen Felsblöcken im Bach, die von den steilen Felswänden wohl irgendwann in die Tiefe gestürzt waren. In den Sommermonaten stauten wir da und dort das Wasser oder wateten durch die von der Natur selbst angelegten Tümpel. Sehr schnell durch, weil das Wasser sogar im Sommer mehr als nur erfrischend kalt war. Aber nicht nur im Bachbett kletterten wir herum, auch die Felswände luden uns ein, unsere Kletterkünste auszuprobieren.
So mancher Strauch zeigte sich von seiner schönsten Seite, es duftete von den vielen Blüten und etliche Bienen und der eine oder andere Schmetterling labten sich an dieser Pracht. Von den Bergen leuchtete das Weiß des Schnees noch von manchem Gipfel und noch etwas leuchtete: das Gelb des Petergstamms aus der Felswand über dem Weißenbachl. Und von dort holten wir uns diese Blüten. Dazu mussten wir jedoch in die Wand einsteigen, doch die allerschönsten "Trauben" hingen an kaum erreichbaren Stellen. Strahlen konnte am Ende vor allem derjenige von uns, der die größten Stücke dieser wohlduftenden Blüten aus der Wand geholt hatte, um sie danach in seinem Rucksack zu verstauen.
Diesmal waren wir allerdings nicht zum Weissenbachl unterwegs, heute hatten wir ein anderes Ziel vor Augen. Die Sulzerkögel mit ihren Zacken und Spitzen und auch mit steilen Wänden versehen. Direkt am Tal-Eingang und durch den Wald leicht zu erreichen. Heute waren wir zu dritt unterwegs. Der Rudi, ich und der Sohn vom Totengräber, der Frantschgerl. Zwei, drei Jahre älter als wir und bei manchem Lausbubenstreich ein absolutes Vorbild für uns Jüngere. Morgen war Muttertag und wenn wir schon unseren Müttern keine besonderen Geschenke darbringen konnten, ein Büscherl mit selbstgepflücktem Petergstamm gehörte zu diesem Tag wie das sprichwörtliche Amen zum Gebet. Alle drei waren wir christlich erzogen, der Franzi womöglich um eine Spur weniger als der Rudi und ich - deshalb konnten wir natürlich auch beten. Vor allem das "Vater unser" oder ein "Gegrüßt seiest Du, Maria" und den einen oder anderen lateinischen Spruch beim Ministrieren. Dass wir heute zu solch einem Gebet Zuflucht suchen würden, das hätten wir uns beim Aufstieg zu den Felswänden wohl doch nicht träumen lassen.
Schon hatten wir den Wald hinter uns gelassen, vorbei ging es an der Wildfütterung, die vor allem in den Wintermonaten, wenn der Schnee oft meterhoch alles Fressbare für die Tiere des Waldes verdeckte, regen Zuspruch bei Rehgeißen und Böcken und bei so mancher Hirschkuh fand, und an der nicht selten in der anbrechenden Dämmerung der eine oder andere Hirsch sein Geweih stolz in die Luft streckte und sich am vom Jäger eingestreuten Futter labte. Jetzt? Keine Spur von Schnee, die Wildfütterung verwaist und nirgendwo auch nur ein einziges Stück dieser scheuen Waldbewohner zu erspähen. Stille ringsum, nur das Krächzen eines Raben und unsere Tritte waren zu hören und das leise Krachen, wenn wir im Wald auf den einen oder anderen dürren Ast stiegen.
Nach einigen Minuten des bergan Laufens sahen wir es schon aus der Wand leuchten.
"Das gibt's ja gar nicht, alles gelb."
"Die ersten hol ich mir gleich."
"Es ist genug da für uns alle."
Sofort machten wir uns daran, vorsichtig in die Wand zu kraxeln und die ersten Stängel abzupflücken. Natürlich mussten wir dabei sehr darauf achten, nicht abzurutschen und uns auch nicht allzu weit in die Wand hinaufzuwagen. Denn hinauf ging es irgendwie beinahe immer weiter, doch wenn man einmal mitten in der Felswand mehr hing als stand, und sich krampfhaft mit allen Vieren gerade noch irgendwie weiterbewegte, dann kam irgendwo der Moment, wo man ans Umdrehen dachte. Und das war das Problem schlechthin, denn die Wand zurück hinunter zu kommen war doppelt so schwierig wie das Hinaufklettern.
Ich selbst bin einmal im Weißenbachl in der Wand gehängt, wollte unbedingt eine Traube mit vielen Blüten erreichen und hab das tatsächlich irgendwie geschafft. Nur - zurück konnte ich nicht mehr. Sosehr ich mich auch abmühte, ich fand die kleinen Ritzen nicht mehr, an denen ich mich hinaufbewegt hatte. Meine Füße fanden keinen Halt und nach vielen vergeblichen Versuchen stand ich in der Wand und getraute mich kaum, die etwa 20 Meter hinunterzuschauen. Das gelbe Büscherl hatte ich längst die Wand hinunterfallen lassen und plötzlich übermannte mich so etwas wie Panik. Es schien, als gäbe es kein Zurück mehr und irgendwie drohten mich auch die Kräfte und vor allem der Mut zu verlassen. Und noch etwas: Ich war allein ins Weißenbachl gefahren, meine Freunde hatten alle irgendetwas anderes vorgehabt an diesem Nachmittag. Keiner war da, der mir helfen konnte. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf und blickte die Wand hinunter. Da stand doch dieses Bäumchen auf einem Vorsprung in der Wand. Mutterseelen allein in der Felswand. So allein wie ich, mit dem Unterschied, dass es fest verwurzelt war und ich bereits abzurutschen drohte. Da fasste ich den Entschluss: Ich musste zu diesem Bäumchen hinunter. Vielleicht acht, zehn Meter stand es beinahe direkt unter mir, ich war ja beim Heraufkraxeln an ihm vorbeigekommen, hatte es aber kaum beachtet, zu sehr hatten sich meine Augen bereits auf das Gelb geheftet gehabt, zu dem ich unbedingt gelangen wollte. Ganz sanft ließ ich los, ganz langsam glitt ich an der Wand entlang ...
Die Sache war damals glimpflich für mich ausgegangen, die kleine Fichte hatte mich tatsächlich vor Schlimmerem bewahrt, weil ich mich an ihr sozusagen im Vorbeigleiten abgefangen hatte und wenig später mit blutenden Händen und kreidebleich wieder am Fuß der Felswand saß und mein Herz bis zum Hals klopfte. Stehen hätte ich momentan vermutlich nicht können, zu weich waren meine Knie und zu wackelig meine Beine.
Und jetzt?
Jeder von uns hatte bereits einige Stängel Petergstamm abgepflückt und eigentlich genug, um unseren Müttern damit eine kleine Freude zu bereiten. Nur der Franzi wollte noch mehr und dazu wollte er um einen Felsvorsprung klettern, um aus der steilen Rinne, die von unserem Platz aus jedoch nicht einsehbar war, einige Blüten zu holen.
"Bleibt da, ich bin gleich wieder zurück!"
Sprach's und machte sich auf den Weg. Rudi und ich hätten uns ganz sicher nicht getraut, dort hinüberzuklettern. Aber er war größer und stärker als wir und ein gewandter Kletterer. Schon sehr bald war er hinter dem Felsvorsprung verschwunden. Die Sonne blinzelte vom Himmel und warf ihre letzten Strahlen wärmend auf uns. Der Petergstamm duftete herrlich und Rudi und ich saßen in unseren Lederhosen auf einer Wurzel und streckten unsere Beine von uns. Plötzlich ein Rumpeln und ein Aufschrei. Grell und laut und dann das Geräusch in die Tiefe stürzender Steine. Ruhe, Stille - Totenstille. Beide saßen wir wie gelähmt auf der Wurzel. Mit offenem Mund und sprachlos. Und beide dachten wir wohl nur an das eine: Unser Freund war abgestürzt und jetzt würde er mit zerschmettertem Körper am Fuß der Felswand liegen, das Blut würde aus seinem Kopf rinnen und seine Knochen würden zerbrochen sein.
"Vater unser im Himmel ..."
Wir haben tatsächlich gebetet, denn wir wussten von unseren Eltern, dass dann, wenn etwas ganz Schreckliches passiert war, nur noch das Beten helfen konnte, um mit einer schrecklichen Situation irgendwie fertig zu werden. Nachdem wir ein "Vater unser" vor uns hingemurmelt hatten, erhoben wir uns vorsichtig und wussten nicht, was wir machen sollten. Hilfe holen? Da gab es keine Hilfe mehr, das wussten wir nur zu gut. Wer diese Wand hinunterstürzt, der braucht nur noch eines: einen Sarg und den Totengräber, der die Grube am Friedhof aushebt. Und noch während mir diese Gedanken durch den Kopf schossen und ich mich kaum zu atmen getraute, hörte ich ein Geräusch hinter mir. Da stand der anscheinend zu Tode Gestürzte und lachte über das ganze Gesicht.
"Hab nur ein paar Steine runtergelassen, um euch ein wenig zu erschrecken."
Irgendwie war ich froh, dass er wieder da war, aber ich verspürte auch eine gewaltige Welle Zorn in mir aufsteigen. Uns so zu erschrecken. Arschloch blödes! Wäre er nicht um einen ganzen Kopf größer als ich gewesen und beim Raufen zumindest ebenso versiert, dann hätte ich ihm vermutlich eine gescheuert ...