Zwei Erlebnisse von meinem Bruder und von mir fallen mir ganz spontan ein. Meine Großmütter mochte ich beide gerne, obwohl sie aus zwei grundverschiedenen Welten stammten. Die Mutter meiner Mutter war eine echte Dame, mit eigener Gouvernante in ihren Kinderjahren. Sie spielte vorzüglich Klavier, stammte aus vornehmem Haus und ihre Eltern waren wohlhabende Geschäftsleute mit eigenem Gut gewesen. Ich liebte vor allem ihre gewählte Art zu sprechen, ich bewunderte ihre hübsche Erscheinung und ich war richtig stolz darauf, so eine Großmutter zu haben. Die Mutter meines Vaters war aus gröberem Holz geschnitzt. Von kleiner gedrungener Statur, rotgesichtig mit einem bäuerlichen Aussehen und einer ländlichen Umgangssprache. Doch sie hatte trotz ihres oft recht - pardon - beschissenen Lebens ihren Humor nie ganz verloren. An jenem Tag allerdings, an dem sie aus dem Nachbardorf zu uns kam, um auf meinen Bruder und auf mich zu schauen, weil unsere Eltern mit der Orts-Blasmusik einen Ausflug machten, an diesem Tag zeigte sie sich weniger von der humorvollen Seite. Schuld war ich und mein Reagieren auf ein mir zugestoßenes Unrecht.
Am Nachmittag hatte mir meine Großmutter eine geklebt, weil die Nachbarstochter weinend durchs Haus gelaufen war und auf die Frage meiner Großmutter, warum sie denn weine, stammelte: "Er hat mich an den Zöpfen gerissen!"
Weil mein damals achtjähriger Bruder das Liebkind dieser Großmutter war und wie mir jedenfalls schien eher den Hang zum Muttersohn in sich hatte, als dass er jemals auch nur irgendwie ungut in Erscheinung trat, deshalb nahm meine Großmutter an, dass mit dem "Er" nur ich gemeint sein konnte. Deshalb ließ sie ihre Hand kräftig in mein Gesicht klatschen, sobald sie mich erblickte. Mein Erstaunen war groß und noch größer der Zorn, der sich in meiner fünfjährigen Brust breit machte. Diese Ungerechtigkeit konnte ich mir nicht bieten lassen, noch dazu, wo meine Beteuerungen, dass ich nicht der Zöpfereißer wäre, von der Großmutter mit den Worten: "Du bist ein arger Lümmel!" abgetan wurden. Meine Wange brannte und auch das Verlangen in mir brannte plötzlich lichterloh: Irgendetwas musste ich dieser Frau heute noch antun! So durfte man mit mir nicht verfahren!
Mit von der Hitze des Herdes gerötetem Gesicht stand die Großmutter am Herd und bereitete für uns Buben einen Grießbrei zu. Dann war es soweit, sie füllte zwei Teller randvoll damit und stellte sie vor uns auf den Tisch. Ganz augenscheinlich hatte sich die Großmutter bemüht, uns etwas Schmackhaftes zu kochen, sie zuckerte den Brei und streute zu guter Letzt noch Zimt über jeden Teller. Ruhig sah ich der Großmutter zu. Dann, als sie mit dem Streuen fertig war, und ein: "Lasst es euch schmecken!" aus ihrem Mund kam, da wusste ich, dass jetzt genau der richtige Zeitpunkt gekommen war. Ich öffnete das Fenster unserer Wohnung im ersten Stock, nahm meinen Teller und leerte das Grießkoch vor den Augen der entsetzten Großmutter in den Hof. Das war meine Rache!
Die Prügel, die ich dafür von meinem Vater einstecken musste, konnten meinen Stolz nicht brechen. Ich hatte trotz allem gesiegt. Obwohl ich an einem Dienstag geboren worden war, wie ich irgendwann einmal recherchierte. Mein Bruder? Der war an einem Freitag zur Welt gekommen. Also auch alles andere als ein Sonntagskind. Doch meine Großmutter mütterlicherseits, die war exakt das Gegenteil von der Großmutter meines Vaters. Gebildet, künstlerisch begabt und eine wahre Seele von Mensch. Ein Sonntagskind? Höchstwahrscheinlich.
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Am Palmsonntag marschierten mein neunjähriger Bruder und ich sechsjähriger Dreikäsehoch auf dem Weg von unserem Elternhaus über einen Feldweg. Jeder von uns trug etliche mit bunten Bändern geschmückte Palmzweige, die unser Vater an einem abgesägten Besenstiel befestigt hatte, zur Palmweihe in die Ortskirche. Die Bänder flatterten im Frühlingswind und die Sonne schickte nach einem langen, schneereichen Winter ihre wärmenden Strahlen auf die mit den letzten Schneeflecken versehene Landschaft. In meinem Palmbuschen befanden sich in der Mitte der zusammengebundenen Palmzweige vier rote Äpfel, auch sie sollten nach altem Brauch zuerst geweiht und danach gemeinsam von der Familie aufgegessen werden und für Gesundheit sorgen.
Dann kam die Messe und die Palmweihe. Bereits in der Kirche hatte mich mein Bruder geärgert, weil er ständig mit mir herumkommandierte, was ich zu tun und zu lassen hätte. Befehle hab ich nie gerne ausgeführt und es war mir stets ein Gräuel, das tun oder lassen zu müssen, was andere wollten und ich nicht. In der Kirche blieb ich eben manchmal sitzen, wenn sich andere hinknieten und erst ein Schupfer meines Bruders brachte mich auch diesmal in die richtige Position, in der alle Gläubigen für einige Zeit verharrten.
Später, auf dem Nachhause-Weg. Er zu mir: "Geh doch endlich schneller!"
Wir gingen einen schmalen Weg entlang, an dessen einer Seite eine Wiese hinunter zu einem Bach führte. Meinem Bruder ging ich zu langsam, ich wollte jedoch nicht schneller gehen, blieb sogar hin und wieder stehen und beobachtete die bunten Bänder an meinem Palmbuschen wie sie vom Wind durch die Luft gewirbelt wurden, während ich die geweihten Palmzweige hoch in die Luft hielt und weit von mir streckte.
"Du sollst weitergehen!"
Mit diesen Worten schubste mich mein Bruder von hinten an, so dass mir der Hut vom Kopf fiel und ich in meinem Sonntagsanzug beinahe hingefallen wäre. Gewaltig regte sich in mir der Zorn, ich drehte mich um und drosch ihm den Palmbuschen über den Rücken. Leider ging der Palmbuschen dabei in Brüche und die Äpfel kollerten die Wiese hinunter. Einer blieb noch kurz an einem Zweig hängen, doch dann kollerte auch er weiter und gleich darauf schwammen alle vier Äpfel im Bach auf und davon.
Mein Vater war im Grunde seines Herzens ein guter Mensch und ganz bestimmt hätte er auch sein letztes Hemd für uns Buben hergegeben und er hätte uns niemals im Stich gelassen. In manchen Dingen verstand er jedoch keinen Spaß. Sich mit geweihten Palmzweigen herumzuprügeln und dann auch noch ohne die Äpfel heimzukommen. Da lernte ich sie wieder einmal kennen, seine handfesten Erziehungsmethoden. Und dennoch: Alles konnte ich mir nicht gefallen lassen - ob die Palmzweige und die Äpfel nun geweiht waren oder nicht ...