Da, wo wir bis zu meinem siebten Lebensjahr wohnten, gab es noch jede Menge anderer Kinder und auch die Gegend war wunderschön und wildromantisch. Mit dem Sägewerk, den kleinen Wägelchen, auf denen wir so gerne saßen und uns gegenseitig damit herumschoben, sofern nicht gerade dicke Baumstämme darauf lagen, um damit zum auf- und abratternden Sägegatter geführt zu werden, das diese Bloche zerschnitt und wo dabei die Sägespäne in hohem Bogen davonflogen. Mit riesigen Gabeln schaufelten die Männer hin und wieder diese Sagscharten auf Holzwagen, vor die ein Ochse oder eine Kuh, eher selten ein Pferd gespannt war, um den Wagen zu irgendeinem Stall zu ziehen, wo die Sägespäne dann als Streu für die im Stall angebundenen Tiere dienten. Das Herzstück war für mich aber die Waldbahn, eine Schmalspurbahn, die dampfend des Weges fuhr. Mit meinem Onkel als Lokführer, dem zerdrückten Hut auf dem Kopf und den dunklen Augen, die immer lächelten. Seine Mutter war ja aus unserer Gegend, doch sein Vater war ein echter Sizilianer, dessen Charme seine Mutter anscheinend nicht widerstehen konnte und deshalb hatte mein Onkel diese Glutaugen und sein südländisches Aussehen.
Wie elektrisiert saß ich auf meinem Schlitten und mein Herz klopfte. Ich lauschte angestrengt in den Wintermorgen. Da - wieder gellte der Pfiff vom Tal herauf an mein Ohr und meine Augen begannen zu leuchten. Heute würde ich wieder einmal mitfahren dürfen. Was konnte es für einen Fünfjährigen Schöneres geben? Ich tauchte kräftig an und der Schlitten setzte sich auf dem Weg ins Tal in Bewegung. Gleich würde ich es geschafft haben, gleich würde ich unten sein.
"Onkel Ferdl, stehen bleiben!"
Ich winkte mit meinen Armen und lief dem anfahrenden Zug nach, dessen Wägelchen wenige Meter vor mir dahinrumpelten.
"Onkel Ferdl, anhalten!, ich bin's, der Hermann."
Doch der Onkel hatte mich anscheinend nicht gesehen und dampfend näherte sich die Lok einer Wegbiegung, während ich der Waldbahn nachlief. Da kippte der Schlitten, den ich hinter mir herzog um, ich stolperte und fiel hin. Tränen kollerten über meine Wangen, als ich neben meiner Rodel am Bahndamm saß und die Waldbahn aus meinen Augen verschwand. Langsam rappelte ich mich hoch, sah den umgestürzten Schlitten und war wütend. Ich stellte den Schlitten an die Böschung und versetzte ihm einen ordentlichen Tritt. Er war schuld. Wäre er nicht umgestürzt, dann hätte ich die Bahn vielleicht noch erreicht.
Der Schlitten hing an der Böschung zum Bach, doch ich ging weiter, immer am Bahndamm entlang, irgendwann würde der Onkel ja wieder mit der Waldbahn auftauchen, mit der er Holzstämme aus dem Radmertal zum Sägewerk lieferte. Ich erfreute mich an den vom Himmel segelnden Flocken, schoss Schneebälle in den vorbeifließenden Bach und rutschte schließlich die Böschung hinunter, weil der Bach an dieser Stelle zugefroren war. Mein Bubenherz lachte, als ich wenig später auf dem Eis stand.
Mein Vater arbeitete nicht nur auf dem Sägewerk, er ging auch täglich zumindest einmal zum hölzernen, quer über den Bach angebrachten Rechen, um daran hängende Äste oder anderes angeschwemmtes Material zu entfernen. Das Sägewerk wurde zum Großteil mit Wasserkraft angetrieben und das Wasser wurde vom Rechen aus zum Sägewerk geleitet. Als er diesmal zum Rechen kam, sah er einen Schlitten daran hängen. Er nahm den Schlitten vom Rechen und erstarrte. Sofort hatte er ihn erkannt. So schnell er konnte, lief er damit zum Sägewerk, sagte seinen Kollegen Bescheid und rannte den Weg hinauf zu unserem Haus. Gemeinsam mit meiner Mutter suchten sie nach mir. Vergeblich - alles Rufen nützte nichts, ich war verschwunden. Meine Eltern ahnten Schlimmes. Sie liefen zurück zum Sägewerk, stellten das Gatter ab und gemeinsam mit den anderen Sägewerksarbeitern suchten sie den Bach ab.
"Ich glaub nicht, dass wir ihn noch lebend finden, jetzt suchen wir schon über eine Stunde", sagte mein Vater und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, so als wollte er diesen Gedanken sofort wieder verscheuchen. "Der Hermann ist doch ein geschickter Kerl, der wird doch nicht so ohne weiteres in den Bach gefallen sein." "Ich glaubs auch nicht. Wirst sehen, er taucht irgendwo auf." "Aber sein Schlitten im Bach, ich hab ihn doch selber für ihn zu Weihnachten gemacht. Wahrscheinlich ist der Hermann damit in den Bach gerutscht und womöglich ertrunken."
Mit steinerner Miene stand meine Mutter neben meinem Vater, während die zwei Männer meine Eltern aufzumuntern versuchten. Sie fühlte sich schuldig, sie hätte wohl besser auf mich acht geben müssen.
Ziemlich lange war ich den Schienen der Bahn nachgegangen, spielte am zum Teil zugefrorenen Bach, warf Steine ins Wasser, rollte Schneekugeln übers Eis, um mich daran zu erfreuen, wenn sie ins Nass plumpsten und vergaß ganz, warum ich eigentlich hier war.
Plötzlich hörte ich sie pfeifen, die schwarze Lok, die ich so sehr liebte. Rasch krabbelte ich die Böschung zum Bahndamm hinauf und schon sah ich sie daherrattern. Ich stellte mich aufs Geleise und winkte mit beiden Armen, so musste mich mein Onkel bestimmt sehen und mitnehmen. Da quietschen auch bereits die Bremsen und sie stand vor mir. Der Onkel lachte, als er mich zu sich in die Lok hob.
"Wo kommst du denn her?"
"Bin dir nachgelaufen, hab dich aber nicht mehr erwischt, weil der Schlitten umgestürzt ist."
"Welcher Schlitten? Hast ja gar keinen mit."
"Dem hab ich einen Tritt versetzt, der hängt bei der Säge an der Böschung."
Mein Onkel sah mich mit großen Augen an und schüttelte den Kopf, doch sein vom Ruß schwarzes Gesicht war gutmütig wie immer, und er setzte die Waldbahn wieder in Bewegung.
"Werden dich wohl schon suchen, fürchte ich."
Mir war es egal, ich liebte es, in dieser Lok zu stehen, sah, wie der Onkel die Tür zum Feuerkessel aufklappte und einige Schaufeln Kohle in den Schlund warf, in dem das Feuer prasselte und ich schaute mit leuchtenden Augen in dieses Flammenmeer. Dann stand ich neben dem Onkel und der Zug ratterte durch die schneebedeckte Landschaft. Vor der nächsten Bahnübersetzung hob mich mein Onkel hoch, ich durfte an dieser Stange ziehen und ein greller Pfiff war zu hören. Ich riss gleich nochmals daran, doch der Onkel stellte mich wieder auf den Boden. Dampfend näherten wir uns dem Sägewerk und wenig später hielt die Waldbahn quietschend vor der Säge. Ruhig stieg mein Onkel vor mir aus der Lok und hob mich zu sich auf den Boden.
Der Krieg und eine schwere Verwundung hatten meinem Vater ziemlich zugesetzt. Wen wundert es, dass es mit seinen Nerven nicht gerade zum besten stand und er meiner Mutter heftige Vorwürfe machte. Wo er doch meinte, mich nie mehr lebend wiedersehen zu können. Als er mich jetzt neben meinem Onkel stehen sah, lief er einige Schritte zu mir her und hob mich zu sich hoch. Er sagte nichts, drückte mich nur fest an sich.
Meine Mutter? Die reagierte nicht so angenehm für mich. Anscheinend war sie der Meinung, dass ich für mein Davonlaufen bestraft gehörte ...