Meine Mutter lernte bei ihrem Arbeitsdienst eine Frau kennen, bei der sie nach ihrer Gymnasialzeit im Haushalt mithelfen musste. Diese Frau hatte etwas, was früher öfters, heute jedoch so gut wie nie mehr Frauen ihr Eigen nennen dürfen: Sie hatte einen "Ritter" zum Mann. Einen Ritter "von" sozusagen, denn mein Taufpate war tatsächlich ein Dr. Hermann Ritter von Ullrich. Das war exakt sein Name und seine Frau hieß Hedwig und wurde durch die Heirat auch eine "von". Onkel Hermann war ein gestandener Mann von stattlicher Figur, einem riesenlangen weißen Bart, einer gepflegten Aussprache und stets ging er mit festen Schritten durch sein tierärztliches Leben. All seine Freude galt den Tieren und wahrscheinlich hielt er sich auch aus diesem Grund etliche solcher Lebewesen im Haus, in dem auch seine Ordination untergebracht war. Nicht weniger als sieben Dackel hatte er einmal rund um sich geschart, weil ihm eine Dackeldame diesen Segen beschert hatte und er keinen der jungen Kerle weggeben wollte.
Ich hatte das Glück, zumindest ein-, zweimal im Jahr zu Tante und Onkel in die weit von uns entfernte Weststeiermark fahren zu dürfen und noch heute kann ich mich ganz genau daran erinnern wie ich mit offenem Mund in diesen Dingern gesessen bin, die sich roter und blauer Blitz nannten und von Graz aus in die Weststeiermark brausten. In ihnen saßen zumeist meine Mutter und ich, einmal jedoch war mein Vater für einige Tage mit mir eingeladen, während meine Mutter mit meinem Bruder bei meiner Großmutter in Unterach am Attersee weilte. Wir waren in Köflach angekommen, standen vor der Wohnung meines ritterlichen Taufpaten und mein Vater zog an der Türglocke, einer mittelgroßen Glocke mit Eisenstiel. Er zog daran, die Tür ging auf, ich drängte mich freudig erregt ins Innere, streckte der Tante meine Patschhand entgegen und schon brannte es in meiner Wade. Einer der Sieben hatte seine Zähne exakt dorthin gestreckt und ich schrie schmerzvoll auf. Keine Angst, die Dackel waren später sogar meine Freunde, doch irgendwie hatte ich seit dieser Zeit ein wenig Angst vor Hunden. Warum, das weiß ich nicht. Mit dem Biss kann es doch nichts zu tun haben, oder? Wie auch immer. Aber niemals würde ich zu einem Haus hingehen, vor dem ein Hund mit gefletschten Zähnen sitzt. Auch nicht, wenn er die Zähne nicht fletschen würde. Hunde sind mir irgendwie ungeheuerlich. Vor allem größere Hunde. Und mein Sohn Gerald sieht sich auch immer ängstlich um, wenn ihm ein Hund zu nahe kommt. Kann so etwas womöglich vererbbar sein?
Aber weiter: Ich liebte den Geruch aus der Ordination meines Taufpaten, alles duftete so anders als in meinem bisherigen Leben, und ich liebte wohl auch meinen Onkel, der so wunderschöne Geschichten zu erzählen wusste und an manchen Abenden, wenn wir alle im riesigen Wohnzimmer versammelt saßen, ich am Boden inmitten der Dackelschar sitzend, der Onkel mit einer riesiglangen Pfeife bewaffnet, aus der der Rauch hervorquoll wie aus den Dampflokomotiven, denen ich immer bewundernd nachschaute, wenn sie qualmend durch Hieflau ratterten. An solchen Abenden also saß ich Knirps beim Onkel und er erzählte aus seinem Leben. Vom Krieg, von seinen Erlebnissen als Tierarzt, von den Stieren, denen er Nasenringe eingezogen hatte, von tollwütigen Hunden, von denen ihn einer einmal beinahe gebissen hätte, von gewaltigen Zuchtschweinen mit einer Unmenge an Ferkeln, und ich fühlte mich wie im Paradies, wenn ich bei ihm am Kutschbock sitzen durfte und wir in seiner Kutsche zu irgendwelchen Bauern fuhren. Und der "Pubi" und der "Pradl", so hießen die beiden vor die Kutsche gespannten Pferde, zogen uns durch die Landschaft. Ich durfte die Zügel halten und lenken, bergab bremsen und wenn mein Onkel viel zu tun hatte und wir erst bei Dunkelheit zurückfuhren, dann brannten zwei Laternen an der Kutsche und wir mussten uns beeilen, damit es nicht zu finster für die Pferde wurde. Daheim angekommen, reichte ihm die Tante seine Pfeife, die er allerdings nicht selbst entzünden konnte, weil sie zu lang dazu war und er ja beim Anzünden ordentlich daran ziehen musste. Da durfte ich das machen und gezündelt hab ich als Bub ja für mein Leben gern.
Diese Tante kam eines Tages zu uns zu Besuch nach Hieflau. Mein Bruder fuhr bereits täglich mit dem Zug nach Eisenerz und ging dort in die erste Klasse der Hauptschule, ich war Schüler der zweiten Klasse Volksschule. Meine Tante wollte mich noch vor Unterrichts-Ende aus der Schule abholen, sie hatte vor, mit mir mit dem Zug nach Eisenerz zu fahren, meinen Bruder von der Schule abzuholen und gemeinsam wollten wir einen Ausflug zum Leopoldsteiner See machen. Doch die Sache ging kräftig in die Hose. Einer meiner Mitschüler hatte meinen Zorn erregt, ich weiß zwar heute nicht mehr warum, doch an eines kann ich mich noch gut erinnern: In den Schulbänken steckten vasenartige Gefäße voll mit Tinte. Ich zog das Tintenfass aus der Schulbank, lief meinem Schulkollegen einige Schritte nach, zielte - und das Fass landete auf dem Rücken meines Kontrahenten. Schuld war die Pause, in der wir gern ein wenig herumrauften, johlten und lärmten. Vor allem, wenn die Lehrerin kurz das Klassenzimmer verließ. Doch sie kam zurück und sah die Bescherung. Den weinenden Buben, die Tinte verspritzt, und als mich meine Tante an diesem Vormittag abholen wollte, hörte sie: "Tut mir leid, der muss hier bleiben" von der Lehrerin. Und sie erklärte meiner Tante auch, warum. Dabei hatte ich mich schon sehr auf die Fahrt mit dem Zug nach Eisenerz gefreut. Zugfahren war ja damals noch etwas ganz Besonderes für uns Buben und traurig schaute ich aus dem Fenster der Schule, als die Lok nicht weit von unserem Schulgebäude vorbei dampfte. Hinten dran einige Waggons, und in einem davon saß meine Tante.
Was soll ich dazu sagen? Nicht immer beschert einem das Leben eben nur Schönes. Ich war echt traurig und auch wütend. Wegen so einer Kleinigkeit mir den Tag so zu versauen. Schuld war ganz allein die Lehrerin. Zumindest dachte ich in meiner kindlichen Einfalt in diese Richtung. Das Tintenfass war doch ganz geblieben und die paar Flecken auf dem Boden hatten wir gemeinsam weggewischt. Mein Kontrahent und ich. Eigentlich war der ja an der ganzen Misere schuld. Oder vielleicht doch ich? Mit meinem mir angeborenen Temperamentsüberschuss, der mich auch später immer wieder einmal in diese oder jene missliche Situation brachte, wie wir noch sehen werden, wenn ich von der Zeit bis zum Ende meiner Kindheit aus diesem engen Gebirgs-Tal berichte, in das wir bereits kurze Zeit nach diesem Vorfall übersiedelt waren.