Mein Freund Adolf wusste anscheinend nicht recht, was er sagen sollte, als ich mich auf den Lastwagen schwang. Er stand nur da und schüttelte den Kopf, aber er konnte es wahrscheinlich ebenso wenig fassen wie ich. Keiner von uns wusste, dass wir uns so gut wie nie mehr wiedersehen sollten. Wir, die wir so viele Stunden gemeinsam durch unser Leben gegangen waren. Ich hatte zum ersten Mal echt verloren in meinem Leben: Die so lieb gewonnene Gegend, meine Spielgefährten und ich hatte auch meinen besten Freund verloren.
Die Übersiedlung war perfekt, mein Bruder und ich saßen bei einem Teil unserer Möbel auf dem Lkw, unsere Eltern in der Kabine beim Fahrer. Die Sonne schien hell an diesem Spätfrühlingstag und allein die Freude, auf der Ladefläche des Lastwagens sitzen und mitfahren zu dürfen, überwog den Abschiedsschmerz, wenn ich das heute so richtig bedenke. Wie kann so eine Kleinigkeit diese einschneidende Trennung von all dem Lieben und Gewohnten ausgleichen, ja beinahe schon wegwischen? Wahrscheinlich nur deshalb, weil ich nicht wusste, was ich tatsächlich in diesen Minuten verloren hab. Und doch, mein Freund Adolf und unsere anderen Freunde aus der Nachbarschaft verloren wahrscheinlich mehr als mein Bruder und ich. Weil sie keinen Ersatz für uns bekamen und keine Familie mit Kindern nachkam. Wir verloren zwar unsere Spielgefährten, wir verloren unser vertrautes Heim mit all dem Drumherum, doch wir bekamen nach einer halben Stunde Fahrzeit ja etwas Neues. Wir näherten uns mit jedem Kilometer einer neuen Welt, einem lieblichen Bergdorf. Wir näherten uns unserer neuen Heimat und damit auch neuen Spielgefährten und dem Haus, in dem mein Bruder und ich bis zu unserem Schulabgang bleiben sollten.
Von weitem sah ich schon die Kirche mit ihren beiden Zwiebeltürmen und schon tauchten die ersten Häuser links und rechts vor uns auf, bevor der Lkw von der Straße abbog, einen schmalen Weg entlang fuhr und schließlich vor einem Holzhaus stehen blieb. Der Lastwagen war noch nicht einmal richtig zum Stillstand gekommen, da liefen bereits drei Kinder zum Auto und winkten uns zu. Zwei Mädels und ein Bub. Unsere neuen Nachbarn und mit ihnen begann auch für mich ein neues Leben. Alles werde ich hier nicht erzählen können aus diesem Radmer-Tal, in dem die Blaublütler am Beginn des 20. Jahrhunderts im prunkvoll errichteten Jagdschloss sich die Türklinken in die Hand gegeben haben, das der Kaiser für sich und die feine Jagd-Gesellschaft errichten ließ. Jetzt waren wir in dieses Tal übersiedelt, wo der Kaiser oftmals selbst die Flinte gelüftet hatte und so mancher Hirsch oder der eine oder andere Reh- oder Gamsbock von seiner Kugel getroffen ihr Leben ausgehaucht hatten. Wenn mich in meinem späteren Leben manchmal die Leute fragten, woher ich denn käme und sie nicht wussten, wo Radmer eigentlich wäre und etwas abwertend lächelten, weil sie meinten, dass es sich wohl nur um ein unbedeutendes Nest handeln würde, dann wurde ich immer irgendwie ungehalten und sagte, dass Radmer eben so etwas wie ein Edelstein wäre, den nicht jeder finden würde und, sofern es sich dabei um Stadtmenschen handelte, dann sagte ich ihnen noch, dass in diesem Tal die Menschen genau wie die Gegend selbst wären: natürlich, ohne Falsch, verlässlich und treu. Ein bisschen wortkarg vielleicht, aber stolz und verwegen.
Der Lastwagen hielt also vor diesem alten Holzhaus in unmittelbarer Nähe des Jagdschlosses und nicht nur die drei Kinder standen im Hof und schauten, wer da wohl in die freigewordene Wohnung im Obergeschoss einziehen würde. In diese Wohnung, aus der der Kammerdiener des vor kurzem verstorbenen Fürsten, einem Sohn des in Sarajevo ermordeten Kronprinzen-Ehepaares, soeben ausgezogen war und die damit für unsere Familie frei geworden war. Auch die Nachbarn traten aus den Türen und begrüßten uns freundlich. Der Bub war etwa in meinem Alter, die zwei Mädels etwas jünger. Liebliche Mädels, das dachte ich mir wohl schon damals. Und sie wuchsen tatsächlich zu hübschen Mädchen heran und eine von ihnen sorgte dafür, dass etliche Jahre später mein Herz schneller schlug, wenn ich sie sah, und wir einige wunderschöne Jahre miteinander verbrachten.
Doch jetzt war ich gerade sechseinhalb Jahre alt, besuchte die zweite Klasse der Volksschule und mein Bruder die erste Klasse der Hauptschule in Eisenerz. Rudi, der Nachbarbub, die erste Klasse Volksschule und die Mädels durften an den Vormittagen noch zu Hause bei ihren Müttern verbringen und Puppenspielen. Und, was das Schöne an der Sache war, mir gefiel meine neue Umgebung auf Anhieb. Am Haus führte ein Weg vorbei hinauf zum Bäcker und weiter zur gut zu sehenden Wallfahrtskirche, deren Glocken wunderschön läuten konnten. Gegenüber dem Haus war ein Garten angelegt, für jede Familie ein relativ großer Fleck mit Blumen und einem Beet für verschiedene Kräuter und allem möglichen Grünzeug, einem kleinen Acker für Kartoffeln und Gemüse, zudem etlichen Sträuchern mit Beeren. Aber der Garten war für mich weniger interessant als die Hütten vor dem Haus mit der riesigen Scheune, in der das Futter für Kühe und Geißen eingelagert war und sich darunter die Stallungen für etliche Tiere befanden.
Rudis Eltern hatten eine Kuh, wir zwei Ziegen, den Geißbock hatte mein Vater verkauft, die beiden anderen Familien hatten ebenfalls je eine Kuh und jede Familie fütterte dazu noch je ein Schwein. Die Schweine lebten vor allem von Küchenabfällen und, wenn sie noch klein waren bekamen sie außerdem verdünnte Milch und wohl auch etwas Mischfutter aus dem Kaufladen. Wir Kinder fütterten die Tiere gern, indem wir ihnen Grünfutter pflückten, das rund um die Stallungen in Hülle und Fülle wuchs. "Bärentatzen" hatten die Säue besonders gern und auch die Hasen, von denen auch einige im Stall herumhoppelten. Dann gab es noch jede Menge gackernder Hühner und mancher Hahn krähte stolz von den vier Misthäufen und scharrte nach Würmern für seine Hennen, um sie zu sich herzulocken und danach auf die Hennen aufzureiten.
Ein wunderschönes Fleckchen Erde für uns Kinder und oft schlichen wir zu den Tieren in den Stall, spielten Verstecken oder hüpften vom Dachgiebel der Tenne ins Heu. In der Nähe des Stalles standen zwei gewaltige Kastanienbäume und umrandeten eine kleine Kapelle, in der manchmal Kerzen vor dem Marienbild brannten, und vor allem wir Buben erfreuten uns an diesen Lichtern. Nicht etwa, um andächtig davor zu stehen, unsere Hände zum Gebet zu falten und womöglich ein Vaterunser über unsere Lippen kommen zu lassen. Nein, wir erfreuten uns an diesen Kerzenlichtern, weil wir uns dort das Feuer holten für alle möglichen Sachen zum anzünden. Ein Häufchen Laub etwa, dazu ein paar abgefallene Äste oder eine handvoll Heu. Ein Feuer zu entzünden war immer irgendwie erregend, und in dieses Feuer legten wir im Herbst Kastanien, die dann laut explodierten. Natürlich mussten wir alles heimlich machen, denn Zündeln war uns Kindern streng verboten. "Lasst ja die Finger von Zündhölzern!", lautete die oberste Devise unserer Eltern und diesen Spruch hörten wir beinahe täglich von neuem. Umso interessanter war natürlich alles, was mit Zündhölzern zu tun hatte und manchmal hätte uns sicherlich der Rauch verraten, wenn wir ihn nicht schnell wieder irgendwie eingedämmt hätten.
Manchmal durften wir ganz offiziell ein Feuer anzünden. Im Frühjahr etwa, wenn der Garten saubergemacht wurde, da sammelten wir alles mögliche Brennbare und steckten es in Brand. Da qualmte es dann gewaltig, weil wir in dieses Feuer noch Zweige und Äste legten, die wir von umstehenden Bäumen rissen und die noch grün waren und mehr rauchten als brannten.
Etwa zweihundert Meter von unserem Wohnhaus entfernt stand, leicht erhöht und von riesigen Rotbuchen und Blautannen umgeben, das kaiserliche Jagdschloss, in dem die seit kurzem verwitwete Fürstin mit ihren beiden Söhnen lebte. Mit ein bisschen Dienerschaft, versteht sich. Es handelte sich um die Besitzer beinahe aller Häuser und Stallungen in unserem Ort und unsere Väter waren im herrschaftlichen Forstbetrieb beschäftigt. Mein Vater hatte gute Chancen Chef des Sägebetriebes zu werden, das war ja der Grund, warum wir von Hieflau nach Radmer umgezogen waren. Doch nicht von uns will ich vorerst erzählen, sondern von der Fürstin und den beiden Prinzen.
Jedes Kind träumt bestimmt manchmal von Prinzen, Schlössern und darin wohnenden Königen, Prinzessinnen, träumt von Hexen, Geistern und Kobolden. Vor allem dann werden solche Figuren in seinen Gedanken vorkommen, wenn Märchenbücher nicht nur auf den Nachtkästchen liegen, sondern die Mutter oder der Vater, die Tante oder das Kindermädchen die eine oder andere Geschichte daraus den lieben Kleinen vorliest. Einfach herrlich, diese Märchen von Hänsel und Gretel, vom Froschkönig, dem Wolf und den sieben Geißlein, Schneewittchen, Aschenputtel, Dornröschen, dem gestiefelten Kater, Frau Holle - und wie sie noch alle heißen mögen. Wir hatten das Glück nicht nur hin und wieder Geschichten aus Märchenbüchern von unseren Müttern vorgelesen zu bekommen, wir hatten sogar das Glück, ein echtes Schloss in unserer Nachbarschaft zu haben. Weil es jedoch ganz und gar nicht alltäglich ist, echte Prinzen als Nachbarn und Spielgefährten zu haben, deshalb will ich ein bisschen vom Schloss, der Fürstin und den darin lebenden Prinzen berichten.
In diesem Jagdschloss aus der Kaiserzeit wohnten zwei Enkelsöhne des einstigen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand. Den Vater hatten die Prinzen in jungen Jahren verloren und so lebte nur die Fürstin mit ein bisschen Dienerschaft und ihren beiden Söhnen in diesem herrlichen Schloss. Weil die Prinzen ebenso wie wir gerne Spielkameraden um sich hatten, deshalb luden sie uns sehr oft zu sich ins Schloss ein. Riesige Räume gab es da ebenso zu bestaunen wie prunkvolle Vorhänge oder Teppiche und jedes Zimmer der Prinzen war wohl größer als alle Räume unserer Wohnung zusammen. Auf den Gängen und auch in manchen Räumen hingen riesige Luster mit funkelnden Leuchten daran und die Wände waren übersät von Trophäen erlegter Tiere. Riesige Hirschgeweihe hingen an den Wänden, aber auch sehr viele Gamskrickel, ausgestopfte Fuchs- und Dachsschädel, präparierte Steinadler, Bussarde und Geier. Dazu auch mächtige Hirschköpfe mit Geweihen und ausgestopfte Rehbockschädel mit dem dazugehörigen Gehörn. Und ebenso voll waren die Zimmer der Prinzen mit Spielzeug aller Art. Am liebsten haben wir immer mit den elektrischen Eisenbahnen gespielt. Herrliche Loks gab es da mit allerlei Lichtern dran, natürlich jede Menge an Schienen, die wir in alle Richtungen legten und worauf wir später die verschiedenen Zuggarnituren fahren ließen. Mit Bahnhöfen, Brücken, Tunnels, kreuzenden Autostraßen und den dazugehörigen Autos. Autos mit Batterie-Motoren, Autos zum Anschieben und größere Autos, auf die wir uns sogar hin und wieder setzen konnten, wenn wir vorsichtig damit umgingen. Natürlich gab es Brettspiele aller Art, Quartetts, Kartenspiele, Würfel in allen Variationen, Kreisel und die buntesten Murmeln. Der ältere der Prinzen bevorzugte Kriegsspielzeug. Es rollten feuerspeiende Panzer durch sein Zimmer, es knatterte manches Spielzeuggewehr aus vollem Rohr, Spielzeug-Revolver gab es ebenso und auch die Jagdmesser durften nicht fehlen. Vornehmlich mit Gummi-Schneiden versehen und die Jagdlust seiner Vorfahren schien dem Ferdinand im Blut zu stecken. Nicht selten schnappte er sein Luftgewehr und machte sich davon. Dann hatten es die Katzen eilig, sich zu verstecken, und so manche Henne humpelte gackernd des Weges oder hatte womöglich bereits am Vortag ihr letztes Ei gelegt.
Mein Spielgefährte war der jüngere der beiden Prinzen. Er hieß Ernst und außer, dass er ein echtes Kindermädchen zur Betreuung rufbereit zur Seite stehen hatte, war er ein Junge wie wir. Übermütig, hin und wieder ein wenig frech zu den Erwachsenen, tatendurstig und verspielt. Mit seiner Mutter unterhielt er sich vornehmlich in Englischer Sprache, außer "yesv und "no" verstand ich allerdings niemals allzu viel davon. Sofern ich zuhören konnte.
Natürlich spielten wir nicht immer im Schloss, sehr oft waren wir dazu auch im Freien, schossen mit Pfeil und Bogen durch die Gegend, ließen Bagger und Lkw durch die riesige Sandkiste beim Lusthäuschen hinter dem Schloss kurven, hantierten an Spielzeugkränen, spielten Verstecken und Fangen, Indianer und Cowboy - wozu wir uns mit der dazugehörigen Ausrüstung verkleideten und auch die passenden Waffen mit uns trugen. Eines war dem Ernst jedoch streng verboten: Er durfte nicht auf Bäume klettern. Wahrscheinlich fürchtete die Fürstin zu sehr um sein Leben. Da stand er dann meistens etwas bedrückt unten, wenn wir auf den Ästen dieser Riesen herumturnten, und weil er nicht mit hinaufsteigen durfte, deshalb ließ er nicht selten verlauten, dass eigentlich nur Affen auf Bäumen herumturnen würden. Solche Sprüche konnten unsere Freude am Erklettern der Bäume jedoch nicht schmälern und irgendwie waren wir vielleicht sogar ein wenig schadenfroh, dass er nicht auf die Bäume durfte, wussten wir doch, dass er uns deswegen echt beneidete und hatten damit auch etwas, wovon er nur träumen konnte. Trotz all seinem vielen Spielzeug.
Sehr oft spielten wir mit den verschiedensten Indianer- und Cowboy-Figuren. Da gab es viele berühmte Häuptlinge und Krieger in allen Variationen. Zudem Büffel und Mustangs, Wigwams und Squaws. Alle Figuren in Mini-Ausführung und doch so echt, dass wir damit kämpfen konnten. Zumindest in unserer kindlichen Phantasie. Irgendwann hab ich mit meinen Cowboys die Indianer besiegt und etliche davon gefangen genommen. "Kannst sie alle haben, ich hab so noch genug davon!". Der Ernst war großzügig und hatte mir meine Beute geschenkt. Herrlich.
Am nächsten Tag werkte ich in unserem Garten beim Gemüsebeet. Ich sollte für die Suppe etwas Schnittlauch abschneiden und auch Petersilie mit aus dem Garten bringen. Da kam der Ernst vorbeispaziert: "Ich habs mir überlegt und die Indianerfiguren wieder geholt von deiner Mutter!"
Die folgende Nacht verbrachte ich in der Tenne im Heu. Zur Strafe und um mich zu besinnen hatte mich mein Vater dort eingesperrt. Schrecklich diese Nacht mit totaler Finsternis und gespenstischen Geräuschen. Ab und zu hörte ich eine Fledermaus irgendwo vorbeischwirren. Mir klapperten die Zähne vor Angst und die eine oder andere Träne ist wohl über meine Backen gerollt. Da - ein Waldkauz, schaurig seine Rufe. Und hin und wieder die Geräusche der Tiere unter mir im Stall mit dem Bimmeln der Glocke, wenn sich eine Kuh bewegte.
Es war vielleicht doch nicht die allerbeste Idee, den soeben abgeschnittenen Schnittlauch wegzulegen und dem Prinzen nachzulaufen, um ihm meine Meinung zu dieser "Schweinerei" nahe zu bringen. Bald darauf stand nämlich die Fürstin vor meinem Vater und stellte ihn zur Rede. Er solle gefälligst erzieherische Maßnahmen setzen! Einen Tritt hätte ich ihrem Sohn versetzt, ihn an den Haaren gezogen und dazu auch noch ein Messer in der Hand gehabt.
Irgendwann haben wir uns ja doch wieder versöhnt - der Ernst und ich, die Fürstin mit mir und auch meinem Vater hab ich letztlich verziehen. Und doch - mich ganz einfach eine Nacht lang in der Tenne einzusperren! Und so musste wohl ein bisschen Rache in mir bleiben und ich griff auch danach noch zu einigen Lausbübereien, die meinen Vater nicht eben erfreuten, und auch der Prinz sollte nicht ganz ungeschoren davonkommen. Was ihn jedes Mal besonders ärgerte: Ich bin noch viel öfter vor seiner Nase auf irgendeinen Baum geklettert.