"Stell dich doch nicht so an, Mädel! Oder hast du noch nie etwas mit einem Mann gehabt?" "Lassen Sie mich los! Es ist schon spät, ich muss nach Haus!" Rauchschwaden hängen im Lokal, aus dem soeben der letzte Gast gegangen ist. Der Mann lässt Linda los, geht zur Tür, steckt seinen Schlüssel ins Schloss, sperrt von innen ab und geht die paar Schritte zu dem Mädchen zurück. Lindas Herz pocht und irgendwie spürt sie plötzlich Angst in sich aufsteigen. Er erfasst ihren Arm, zieht sie an sich und drückt sie an seine Brust. "Lassen Sie mich sofort los!" Doch der bullige Mann presst sie nur noch stärker an sich. "Jetzt hab ich dich endlich", keucht er und die ersten Schweißperlen treten auf seine Stirn. Schon hat er seine wulstigen Lippen auf die ihren gepresst, er dreht ihr einen Arm auf den Rücken und greift mit der anderen Hand in ihr dichtes, langes Haar. Dann zieht er ihren Kopf nach hinten, stellt ein Bein zwischen die Ihren und drückt das Mädchen an die Wand. Brutal reißt er ihr die Kleider vom Leib.
Schluchzend sucht Linda ihre Kleider zusammen. "Dafür wird man Sie einsperren! Sich an einer Aushilfskraft zu vergreifen." "Bist selber schuld, hättest mich nicht so scharf machen dürfen", stößt der Mann zwischen seinen Zähnen hervor, lacht und fummelt an seiner Hose herum. "Ich werde alles ..." "Nichts wirst du!" Sein Blick wird stechend und seine Stimme klingt drohend. Mit dem Handrücken wischt er sich über seine schweißnasse Stirn und sein Gesicht nimmt einen noch brutaleren Ausdruck an. Er beugt sich vor, stützt sich mit beiden Fäusten auf den Tisch und starrt Linda an. "Das war die Gegenleistung für die restlichen Dreihundert. Jetzt sind wir quitt! O.k.?" "Hätte ich Sie doch nie darum gebeten. Ich hasse Sie!"
Mit Tränen in den Augen steht Linda wenig später auf der Straße. Sie ist fest entschlossen, Georg alles zu sagen und auch zur Polizei würde sie gehen. Schwer hängen die Nebelschwaden in den Gassen, es hat zu regnen begonnen und das Nass rinnt ihr vom Kopf in den Nacken. Das Licht der Straßenlaternen wirf seinen Schein auf Lindas Gesicht, ihre Lippen zucken und sie schluchzt leise vor sich hin. Kein Mensch ist zu sehen. Linda fühlt sich verlassen und hilflos.
"Dieser Dreckskerl! Georg wird mich rächen!"
Doch je näher sie dem Ort kommt, an dem sie mit ihrem Freund wohnt, desto langsamer werden ihre Schritte. Plötzlich hat sie Angst, Georg den Vorfall zu schildern, denn sie kennt seine Eifersucht und sein Misstrauen in vielen Dingen. Kurz darauf steht Linda vor der Haustür. Mit zitternden Händen sperrt sie auf, steigt die Treppe in den dritten Stock empor und steckt den Schlüssel ins Loch. Leise betritt sie den Vorraum, knipst das Licht an und schaut in den Spiegel. Ihr Gesicht ist blass und rotgerändert ihre Augen. So darf er mich nicht sehen! Linda geht ins Bad, streift ihre Kleider vom Körper. Gern hätte sie sich unter die Dusche gestellt, doch sie will Georg nicht wecken und dreht das Wasser nur wenig auf. Jetzt erst verspürt sie die Schmerzen, wo sie der Wüstling brutal angefasst hat. Linda friert trotz des warmen Wassers und zittert am ganzen Körper. Dieser Dreckskerl. Nie wieder würde sie dieses Lokal betreten! Auf Zehenspitzen schleicht Linda aus dem Bad und steht wenig später vor dem Bett, in dem Georg friedlich zu schlafen scheint. Durch die halboffenen Jalousien dringt schwach das Licht von der Straße ins Zimmer. Linda schlüpft ins Nachthemd, hebt die Decke vorsichtig hoch und kriecht zu Georg ins Bett. Vom nahen Kirchturm schlägt es zweimal, sie schmiegt sich an ihren Geliebten, will ihn wecken, will ihm alles sagen, sich bei ihm ausweinen und sehnt sich nach tröstenden Worten.
"Wo steckst du so lang?" "Ich - wir hatten heute viel Betrieb, Georg und ..." "Du wolltest doch immer spätestens um Mitternacht zu Hause sein. Mir scheint, dir gefällt die Arbeit als Serviererin besser als du immer vorgibst." "Nein, Georg, ich hasse ..." "Wenn jemand hasst, dann bin das ich. Ich hasse es, wenn du dort arbeitest und dich die Männer anstarren. Oder gefällt dir womöglich bereits einer eurer Stammgäste? Mir scheint, du bleibst in letzter Zeit immer länger aus." "Du weißt ganz genau, dass ich nur wegen dir dort hingehe. Du hast mir schließlich diesen Vorschlag gemacht, du hast doch gesagt, dass ich möglichst viel Geld verdienen soll. Du hast doch gestohlen. Ich hasse dich! Und noch etwas: Ich war heute zum letzten Mal dort. Ich hab deine Vorwürfe satt." "Entschuldige, Linda! Ich weiß, dass du es für mich machst. Aber es ist bereits zwei Uhr und ich mach mir eben Sorgen um dich. Komm her und gib mir einen Kuss." Georg zieht Linda an sich und sein Mund sucht ihre Lippen. "Du zitterst ja am ganzen Körper." Georg hält Linda fest im Arm und er verspürt plötzlich ein heftiges Verlangen nach ihr. "Georg, bitte lass das!" "Was ist los mit Dir? Warum darf ich dich nicht anfassen?" " Ach, Georg, es ist so schrecklich...", und sie beginnt zu schluchzen. "Was ist los?, du weinst ja." "Georg - es ist etwas Furchtbares passiert." "Was ist passiert?" "Der Chef", schluchzt Linda, "der Chef hat mich ..." "Was ist mit dem Chef? Was hat er mit dir gemacht? Sag schon! Du sollst es mir sagen! Sofort!" "Es ist so schrecklich Georg, so schrecklich! O Gott, o Gott! "Er hat dich doch nicht ...?", und seine Stimme bekommt einen drohenden Unterton. "Ja, er hat es getan"! Sie windet sich aus seinen Armen und vergräbt ihr Gesicht unter dem Polster. Eine unheimliche Stille herrscht für einige Augenblicke im Zimmer, nur eine Fliege surrt am Fenster. Linda schluchzt und atmet schwer, sagt jedoch kein Wort. Dann dreht sie sich zu ihm hin. "Georg, du liebst mich doch?" "Du Schlampe! Ich hätte es mir ja denken können." "Aber - ich kann doch nichts dafür, ich ..." "Halt den Mund!" unterbricht er sie wütend, "sich mit diesem Kerl einzulassen." "Er hat zugesperrt, mich festgehalten, mir die Bluse herabgerissen ..."
Stille.
Linda rückt ganz nah zu ihm hin, er aber stößt sie weg, zieht die Decke über seinen Körper und dreht ihr den Rücken zu. "Georg, Liebling", schluchzt Linda, "du glaubst doch nicht wirklich, dass ich ..." "Lass mich in Ruh! Den werd' ich mir morgen vorknöpfen!" Linda ist verzweifelt und sie versteht die Welt nicht mehr. Hat sie doch gehofft, dass er ihr beistehen und sie trösten würde, dass er seine Hand um sie legen und ihr sagen würde, dass er sie trotzdem liebt und dass er sie in Zukunft beschützen würde. Eine riesige Mauer scheint plötzlich zwischen ihnen zu stehen. Linda dreht sich zur Seite und weint in ihr Kopfkissen.
Plötzlich hasst sie den Mann neben sich. Mit seinem Misstrauen und seiner Eifersucht mit der er sie in letzter Zeit immer öfter grundlos verletzte, seit sie diesen Job angenommen hatte. Linda fühlt sich einsam und verraten und sie sehnt sich nach ihrer Mutter. In ihren Armen hatte sie sich immer ausweinen können, wenn sie etwas geschmerzt hatte. Vor Lindas Augen ziehen Bilder aus ihrer Kindheit vorbei. Sie sieht sich mit ihren Eltern auf dem Gutshof, sie spürt die Geborgenheit innerhalb der dicken Mauern des Wohnhauses, sie riecht das Heu aus der Tenne, in das sie und Grete immer gesprungen waren, wenn ihr Vater es mit dem Pferdegespann von den umliegenden Wiesen brachte. Sie hört das Muhen der Kühe, das Grunzen der Ferkel, sie sieht die Enten hinter dem Stall, wie sie durch den Teich schwimmen, sie sieht die Hühner nach Futter scharren und hört das Krähen des Hahnes ...
Mit diesen Gedanken fühlt sich Linda plötzlich geborgen wie in den ersten Jahren ihrer Kindheit und sie lächelt, als sie daran denkt, wie Vater sie und Grete immer zu sich auf den Kutschbock gehoben hatte und sie in den Ort zum Einkaufen mitfahren durften. Vorbei am Bach, vorbei an duftenden Sommerwiesen, in denen sich Schmetterlinge tummelten und Bienen von Blume zu Blume schwirrten. Sie sieht sich mit ihrer um zwei Jahre jüngeren Schwester über den Hof laufen, hin zur Koppel, in der die Schafe mit ihren Lämmern weiden. Linda sehnt sich nach dieser Insel der Ruhe und Harmonie, nach der Geborgenheit und Wärme ihres Elternhauses, wenn die Mutter am Abend an ihren Betten saß, den Mädchen einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn drückte und mit dem Finger ein Kreuz auf die Stirn zeichnete. Linda sehnt sich nach den Händen ihrer Mutter, mit denen diese ihr und Grete immer vor dem Einschlafen übers Haar strich, bevor sie leise die Tür zu ihrem Schlafzimmer schloss.
In Gedanken versunken liegt sie im Bett, und plötzlich verfinstert sich ihr Gesicht. Sie denkt an den Mann, mit dem sich ihre glückliche Kindheit ins Gegenteil verwandelt hatte. Linda war zwar erst zehn Jahre alt gewesen, als der Verwalter auf den Gutshof gekommen war, doch sie hatte schon sehr bald gemerkt, dass dieser Mann ihrer Mutter nachstellte. Einmal hatte sie durchs Küchenfenster gespäht und gesehen, wie der Verwalter ihre Mutter an sich zu drücken und zu küssen versucht hatte und wie diese ihn von sich gestoßen hatte. Linda war dieser Mann vom ersten Tag an unsympathisch gewesen und sie hasste die Art, mit der dieser Mensch stets mit ihrem Vater herumkommandierte. Dann dieser schreckliche Tag, an dem ihr Vater aus dem Teich gezogen wurde. Es hieß, er wäre beim Füttern der Fische ins Wasser gefallen und ertrunken. Der Verwalter gab an, den Vorfall beobachtet zu haben, er hätte aber nicht helfen können, weil er selbst Nichtschwimmer wäre. Alle Bediensteten auf dem Gut und auch die Gutsherrschaft waren entsetzt über diesen Unglücksfall und niemand konnte sich erklären, warum der Mann in den Teich gestürzt sei, wo er doch bereits seit vielen Jahren die Fischzucht betreute und es nicht den geringsten Vorfall in dieser Zeit gegeben hätte. Als der Sarg ihres Vaters im Erdreich verschwand, veränderte sich ihr Leben grundlegend und eine schlimme Zeit begann.
Die Uhr schlug halb vier, Linda lag noch immer wach in ihrem Bett. Würde Georg sich doch jetzt zu ihr drehen, würde er sie in seine Arme schließen, würde er doch einige tröstende Worte zu ihr sagen. Wie nett war er doch gewesen, als sie ihn vor zwei Jahren kennen gelernt hatte. Damals, bei ihrem Job als Aushilfsserviererin, bei dem sie sich ein wenig Geld für das kommende Schuljahr verdienen wollte, um ihre Mutter finanziell zu entlasten, weil die Internatskosten das Familienbudget bereits über die Maßen belasteten. Deshalb hatte Linda in den Ferien zuerst immer in der Küche eines Gastbetriebes mitgeholfen. Mit 16 durfte sie ins Service, wo sie mehr verdiente, und wenn sie nett zu den Gästen war, dann bekam sie auch öfters ein wenig Trinkgeld zugesteckt. Georg hatte damals Reparaturen am Hausdach mit seiner Firma durchgeführt, und weil diese Männer für etliche Tage bei ihnen arbeiteten, hatte sie sich schließlich in ihn verliebt.
"Ach, Georg, du warst doch früher immer so lieb zu mir!" Linda legte ihre Hand auf seine Schulter. Doch er blieb stumm und irgendwie hatte Linda Angst, ihn aufzuwecken. Morgen würde er sich ganz bestimmt beruhigt haben, dann würde er ihr wieder Mut machen und sie würden gemeinsam die weiteren Schritte überlegen. Sie würde bei der Polizei gegen den Lokalbesitzer aussagen und dieser Mann würde zur Rechenschaft gezogen werden. In der Hoffnung, dass alles wieder gut werden und dass dieser Unhold seine gerechte Strafe bekommen würde, fielen Linda schließlich die Augen zu und sie schlief ein. Die Schatten der Nacht wichen allmählich dem Grau des anbrechenden Morgens und der Regen klatschte schwer auf die ruhende Stadt. Nur die Fliege am Fenster surrte noch immer an der Scheibe, während Linda und Georg in ihrem Doppelbett lagen und dem Morgen entgegenschliefen. Plötzlich bewegte sich Linda, sie krümmte sich zusammen und undefinierbare Laute kamen über ihre Lippen. Sie träumte.
Linda ritt in einer lieblichen Landschaft dahin, im leichten Galopp trug sie das Pferd über duftende Wiesen, vorbei an einem sprudelnden Bach und ihr Haar flatterte im Wind. Das Gelände war hügelig, der Boden weich wie Samt. Linda fühlte sich frei und gelöst und sie genoss diesen Ritt sehr. Nach einer Weile sah sie einige Häuser vor sich auftauchen. Das war ja der Gutshof mit den Nebengebäuden. Im Hof spielte ein Kind. Dann ging die Tür des Haupthauses auf und Lindas Eltern traten heraus. Jetzt erkannte sie auch das Mädchen: es war Grete. Linda war freudig erregt, wollte stehen bleiben und absitzen, wollte die Schwester, Mutter und Vater begrüßen, doch der Schimmel reagierte nicht auf ihr Kommando und lief unbeirrt weiter. Linda drehte sich im Sattel um und hörte ihre Mutter rufen: "Hallo, Linda, bleib doch stehen!" Linda zog kräftig am Zügel, doch der Hengst wieherte nur, schüttelte den Kopf und galoppierte weiter. Linda drehte sich auf dem Pferd um und sah, wie ihr Vater mit den Armen winkte, die Mutter auf die Knie sank und die Hände gegen den Himmel streckte. Nur Grete stand ruhig daneben. Linda war verzweifelt, weil der Schimmel nicht anzuhalten war, sie schaute zurück, bis sie nur noch zwei dunkle und ein weißes Pünktchen sah.
Hinter einer Baumgruppe tauchte plötzlich ein großes Gebäude auf. Es war das Internat, in dem sie seit ihrem 14. Lebensjahr ihre Schulzeit verbracht hatte. Vor dem Haus standen ihre Schulkolleginnen, winkten ihr zu, lachten und tollten herum. Nur ein Mädchen saß auf einer Bank und weinte. Das war sie doch selbst. Wieder wollte Linda anhalten, doch die Hufe des Hengstes flogen unaufhaltsam dahin, so sehr sie auch an den Zügeln riss. Sie war noch ganz verwirrt, als plötzlich eine Gestalt vor ihnen auftauchte. Als Linda den Mann erkannte, erschrak sie. Es war Georg, doch wie sah er aus: Sein Gesicht war von tiefen Falten überzogen. Tief gebückt stand er da, er breitete seine Arme aus und versuchte, sich dem Pferd in den Weg zu stellen und es anzuhalten, doch der Schimmel machte eine jähe Bewegung zur Seite und trabte weiter. Linda sah noch, wie Georg ihnen nachlief, wie er taumelte und schließlich stürzte. Er rappelte sich hoch, fiel jedoch sofort wieder hin und schon sehr bald war er aus Lindas Blickfeld verschwunden.
Der Boden wurde steiniger, das Gelände unwegsamer, die Wiesen spärlicher. Dafür gab es jetzt mehr Gestrüpp und Unterholz und auch der Schimmel lief nicht mehr so ruhig dahin. Dann kamen sie zu einer Schlucht, in der das Wasser über schroffe Felsen zu Tal stürzte. Linda trieb das Pferd an, sie wollte so schnell als möglich heraus aus dieser beklemmenden Enge. Endlich hatten sie es geschafft. Hinter einer Wegbiegung tauchte ein Gebäude auf, Linda erkannte es sofort, es war das Lokal, in dem sie als Serviererin tätig war. Die Tür ging auf und eine Gestalt trat aus dem Haus. Linda zuckte zusammen - es war der Tod. Die Sense hatte er über der Schulter hängen und gelblich schimmerten seine Knochen. Jetzt erkannte sie sein Gesicht, es war der Lokalbesitzer. Er grinste, dann streckte er die Arme hoch, ballte seine Hände zur Faust und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Wie von Furien gehetzt jagte der Hengst los. Linda flog im Sattel hin und her, während das Pferd dahingaloppierte, wild schnaubte und wieherte. In panischer Angst krallte sich Linda in der Mähne fest, nach vor gebeugt hing sie auf dem Rücken des Schimmels. Die Landschaft schien förmlich an ihnen vorbeizufliegen, die Hufe donnerten über den steinigen Boden, und der Schaum tropfte aus dem Maul des Pferdes. Lindas Puls raste. Ein glühender Windstoß fuhr ihr entgegen, brannte in ihrem Gesicht und an ihren Händen. Linda blickte nach vorne und sah, dass der Hengst auf einen Abgrund zugaloppierte. Wild riss Linda mit einer Hand am Zügel, während die andere Hand noch immer in die Mähne gekrallt war. Funken stoben unter den Hufen des Rosses hervor, als es auf den Abgrund zuhetzte. "Nein! Bleib stehen! Nein!" Wie gelähmt starrte Linda nach vorne. Schon waren sie am Abgrund angelangt und mit einem Riesensatz katapultierte sich der Hengst vom Felsrand ab. "Aaaaaaaaaaahhhhh" Gellend hallte ihr Schrei durchs Zimmer. "Um Himmels Willen, was ist los?" Georg fuhr im Bett hoch und knipste das Licht an. Er sah, wie Linda mit weitaufgerissenen Augen dalag, den Ausdruck des Entsetzens im Gesicht. Ihre Wangen glühten und sie atmete heftig. Georg beugte sich über Linda. Jetzt erst schien sie ihn zu bemerken. "Ach, Georg. Es war schrecklich - dieser Sprung", und sie lehnte sich schluchzend an ihn. "Ist ja gut, alles ist wieder gut. Ich bin ja bei dir."
Einige Zeit später bei Gericht
Richter: "Sie bleiben dabei, dass Sie dieser Mann vergewaltigt hat?" Linda: "Ja! Kaum war der letzte Gast gegangen, hat er abgesperrt, ist zu mir hergegangen, hat mich festgehalten und zu küssen versucht." Verteidiger: "Einspruch, Euer Ehren. Mein Mandant hat das Mädchen keinesfalls festgehalten. Er hat sie zu küssen versucht, das stimmt. Aber nur, weil sie ihn schon seit Tagen durch ihr Verhalten regelrecht dazu aufgefordert hat." Linda: "Eine Gemeinheit, so etwas zu behaupten! Ich hab schon längere Zeit bemerkt, wie er mich immer angestarrt hat, und bei jeder Gelegenheit hat er mich angefasst." Richter: "Der Angeklagte behauptet, Sie hätten ihn durch ihre aufreizende Kleidung erregt und seien bis zur Sperrstunde geblieben, obwohl er Ihnen angeboten hatte, bereits vorher aus dem Dienst gehen zu können." Linda: "Das ist unerhört! Beinahe täglich wollte er mich überreden, länger zu bleiben." Richter: "Wie waren Sie am Tatabend bekleidet?" Linda: "Mit einem dunklen Rock und einer hellen Bluse." Richter: "Angeklagter, Sie haben behauptet, die Zeugin hätte Sie durch ihre aufreizende Kleidung erregt. Wie ist das zu verstehen?" Angeklagter: "Sie hat einen sehr kurzen Rock angehabt, und die Knöpfe ihrer Bluse hat sie auch aufgemacht." Linda: "Das stimmt nicht. Ich hab einen ganz normalen Mini-Rock angehabt und die Bluse war nicht aufgeknöpft. Dieser Mann hat mich brutal vergewaltigt." Verteidiger: "Einspruch. Mein Mandant ist ein angesehener Geschäftsmann, der so etwas nicht nötig hat. Er muss sich nicht an einer Serviererin vergreifen, wenn er Sex haben will. Das ist doch lächerlich." Richter: "Angeklagter, schildern Sie nochmals den Hergang aus Ihrer Sicht!" Angeklagter: "Gerne, Herr Rat. An diesem Abend war das Lokal voll wie immer. Etliche Pärchen saßen an den Tischen, schmusten und knutschten im dämmrigen Licht. Ich stand hinter der Theke und schenkte ein, während Linda die Getränke servierte und kassierte. Kurz vor Mitternacht waren nur noch zwei Paare im Lokal, so dass ich Linda anbot, nach Hause gehen zu können. Sie lehnte jedoch ab und sagte, dass sie noch bleiben wolle, wo die Atmosphäre doch gerade jetzt so gemütlich wäre. Bei diesen Worten lächelte sie mich auffordernd an. Schöne Augen hat sie mir ja schon immer gemacht und auch einmal erwähnt, dass ihr Freund am Abend bereits immer so müde wäre ..." Linda: "Eine verdammte Lüge ist das! Alles erlogen und ..." Der Richter unterbricht Linda: "Angeklagter, erzählen Sie weiter!" Angeklagter: "Na, ja, da dachte ich mir, dass sie es mit mir machen wolle. Wenig später ließ ich die letzten Gäste raus, sie hat zugeschaut, wie ich von innen abgeschlossen hab, und dann bin ich zu ihr hingegangen, hab einen Arm um ihre Schulter gelegt und mit der zweiten Hand an ihre Schenkel gegriffen. Dabei hat sie ihren Busen fest an meine Brust gedrückt und ..." Linda: "Das ist doch die Höhe! Festgehalten hat er mich, und küssen wollte er mich. Dann hat er mich an die Wand gedrückt, dass ich kaum noch Luft bekam und hat mir den Arm verdreht. Den Rock hat er mir vom Körper gezerrt und den Slip zerfetzt." Verteidiger: "Einspruch, Euer Ehren. Die Zeugin spricht die Unwahrheit. Sie hat sich meinem Mandanten freiwillig hingegeben. Die Zeugin ist unglaubwürdig, sie ist eine Gestrandete. Triste Kindheit, ohne Vater aufgewachsen, aus dem Internat gesegelt, schulisch gescheitert. Und jetzt will sie sich dafür an einem seriösen Menschen rächen." Richter: "Einspruch abgelehnt! Stimmt es, dass Sie eine triste Kindheit verbracht haben?" Linda: "Nein, Herr Rat. Wir lebten auf einem Gutshof und waren eine glückliche Familie." Richter: "Was ist mit Ihren Eltern?" Linda: "Als ich zehn war, ist mein Vater ertunken." Richter: "Und Ihre Mutter?" Linda: "Sie ist voriges Jahr plötzlich gestorben." Richter: "Wie war das mit dem Internat, und warum haben Sie die Schule nicht beendet?" Linda: "Was sollen diese Fragen? Ich bin vergewaltigt worden und will, dass der Täter bestraft wird!" Richter: "Ich muss mir ein Bild von Ihnen machen, dazu gehört auch Ihre Vergangenheit. Der Angeklagte ist ein Geschäftsmann ohne Vorstrafen, und Ihre Aussage steht gegen seine. Das Gericht will wissen, wem es glauben kann. Also beantworten Sie bitte meine Fragen!" Linda: "Wenn ich gewusst hätte, wie hier gegen mich vorgegangen wird, hätte ich keine Anzeige erstattet. Manchmal meine ich bereits, ich wäre hier angeklagt." Richter: "Bitte beruhigen Sie sich! Seit ihrem zehnten Lebensjahr wuchsen Sie also ohne Vater auf. Womit hat Ihre Mutter den Lebensunterhalt verdient?" Linda: "Sie war auf einem Gutshof in der Küche beschäftigt." Richter: "Wer hat sich in der Zeit, wo Ihre Mutter gearbeitet hat, um Sie und Ihre Schwester gekümmert?" Linda: "Vormittag gingen wir zur Schule und am Nachmittag spielten wir auf dem Gutshof." Richter: "Ohne Aufsicht also?" Linda: "Unsere Mutter hat uns ja so durchs Küchenfenster gesehen." Richter: "Und am Abend war die Mutter wieder bei euch?" Linda schluckte, bevor zögernd ihr "Ja" zu dieser Frage aus ihrem Mund kam. Sie war froh, dass sie dem Richter nicht sagen musste, dass sie und ihre Schwester in vielen Nächten allein waren, weil doch ihre Mutter immer zum Verwalter musste. Diese schrecklichen Nächte - allein und voll Angst. Linda sah sich mit ihrer Schwester im Bett sitzen, während der Sturm ums Haus pfiff. Diese langen, kalten Winternächte und keine Mutter weit und breit. Und sie sah ihre Mutter am Morgen mit rotgeränderten Augen heimkommen und hörte sie sagen: "Ich mach es für euch, Kinder. Ohne ihn würden wir längst auf der Straße stehen." Richter: "Ich hab Sie etwas gefragt." Linda schreckte aus ihren Gedanken hoch: "Was haben Sie gefragt?" Richter: "Wann Sie ins Internat gekommen sind, und warum man Sie später ausgeschlossen hat, wie der Verteidiger anführte." Linda: "Mit 14 Jahren bin ich von zu Hause weggekommen. Mutter wollte, dass ich weiter zur Schule gehen sollte, sie hat immer gesagt, dass ich ihre ganze Hoffnung wäre, und dass ich es einmal weiter als zu Hilfsdiensten bringen sollte!" Richter: "Aber Sie sind doch auch in der Schule gescheitert. Oder nicht?" Linda zögerte, und in Sekundenbruchteilen zog die Vergangenheit an ihrem geistigen Auge vorüber. Sie sah sich verliebt mit Georg in den Ferien. Er war der erste Mann in ihrem Leben gewesen. Dann die unerwünschte Schwangerschaft und der Gang zu dieser Frau, um heimlich abzutreiben. Daraufhin die schlechten schulischen Leistungen und die Schwierigkeiten im Heim, weil sie zweimal unerlaubt an den Wochenenden zu Georg gefahren war. Schließlich die Entlassung aus dem Internat und der überraschende Tod der Mutter. Die Flucht zu Georg und später noch das schulische Versagen, nachdem das mit dem Lokalbesitzer passiert war. Richter: "Warum antworten Sie nicht?" Linda schluchzte: "Ja, ich hab versagt ..." Verteidiger: "Sehen Sie, Euer Ehren. Das spricht doch eindeutig für meinen Mandanten!" Richter: "Sie habe ich nicht gefragt." Richter zum Angeklagten: "Welche Art von Lokal führen Sie?" Angeklagter: "Ein kleines Abend-Lokal." Richter: "Seit wann führen Sie es?" Angeklagter: "Seit über zehn Jahren, und es hat noch niemals eine Beanstandung gegeben." Richter: "Sie bleiben bei Ihrer Aussage?" Angeklagter: "Ich würde sogar alles beschwören!" Richter: "Das Gericht zieht sich zur Urteilsfindung zurück."
In der gemeinsamen Wohnung
Die Wanduhr schlug neunmal. Grete lag seit einiger Zeit wach im Bett, sie hatteie Vorhänge aufgezogen, so dass die Sonne ihre Strahlen ins Zimmer werfen konnte. Sie beobachtete die neben ihr Schlafende und war froh, dass sie jetzt zusammenwohnten. Grete war achtzehn, hatte den Beruf einer Schneiderin erlernt und arbeitete seit einigen Monaten am Fließband in einer Schuhfabrik. Genau seit jener Zeit, als dieser unerfreuliche Vorfall mit Georg war, an dem Linda beinahe zerbrochen wäre. Damals hatte sie kurzentschlossen der Schneiderei ade gesagt, weil sie wusste, wie sehr Linda sie brauchte. Zum Glück hatte sie diese Arbeit bekommen und zum Glück hatte ihr die Firma eine Zwei-Zimmer-Wohnung vermittelt, in der auch genügend Platz für Linda war. Damals hatte Linda noch keine Arbeit gehabt und die meiste Zeit zu Hause verbracht. Grete arbeitete im Schichtwechsel, tauschte ihre Arbeitszeit jedoch sehr oft mit irgendwelchen Kolleginnen und meldete sich für die Nachtarbeit, weil sie Linda tagsüber nicht allein lassen wollte.
Grete verstand es, Linda über diesen Schicksalsschlag hinwegzutrösten und ihr neuen Lebensmut einzuflößen. Zusammen suchten die Schwestern nach einer geeigneten Arbeit für Linda, und schon bald hatten sie eine Stelle im Büro eines Klein-Unternehmers gefunden. Grete wusste, dass Linda dieser Job einigermaßen gut gefiel, und dass sie allmählich die Sache mit Georg verkraften gelernt hatte. Doch die ersten Tage und Wochen, nachdem Georg Linda vor die Tür gesetzt hatte, waren schrecklich für Linda gewesen, und mehrmals hatte sie zu Grete gesagt, dass sie eigentlich nicht mehr leben wolle. Noch während Grete diesen Gedanken nachhing, schlug Linda die Augen auf.
"Warum schaust du mich so an?", fragt sie und gähnt herzhaft. "Ich hab über uns nachgedacht und mach mir Sorgen um dich. Du isst in letzter Zeit kaum etwas und wirkst manchmal so nachdenklich. Sag mir, bedrückt dich etwas?" "Die Sache mit Georg geht mir ganz einfach nicht aus dem Kopf." "Linda, es gibt auch andere Männer. Bei uns in der Firma haben wir einige ausgesprochen nette Arbeitskollegen. Es ist nicht jeder so wie Georg oder dieser Lokalbesitzer." "Erwähne diese zwei besser nie mehr. Du weißt ja, was sie mir angetan haben. Und vor allem der Georg. Wie ich den hasse!" "Entschuldige. Aber du kannst doch deswegen nicht ewig ..." "Und ob ich kann!", faucht Linda, und in ihren Augen blitzt es zornig auf. "Dieser Dreckskerl - setzt mich einfach vor die Tür." "Ich kanns noch immer nicht verstehen, wo ihr euch doch so wahnsinnig geliebt habt." "Weil er leicht zu beeinflussen ist und zudem labil und misstrauisch. Am Anfang hat er mich umworben, da war er nett, höflich, aufmerksam. Aber als ich dann fix bei ihm gewohnt hab, als ich die Stelle als Serviererin annahm, da hat er mich immer wieder mit seinem Misstrauen und seiner Eifersucht verärgert. Und dann glaubt dieser Narr auch noch, ich hätte mich dem Kerl freiwillig hingegeben." "Bis zur Gerichtsverhandlung hat Georg dir doch geglaubt." "Zweifel hatte er schon immer, doch dann hat er bei der Verhandlung alles mitangehört und wie der Richter dem Lokalbesitzer mehr geglaubt als mir. Als dieser miese Typ dann auch noch freigesprochen wurde, da hat er mich nicht einmal mehr richtig angeschaut. Ich sags dir: die Männer sind alles Schweine!" Grete liegt stumm im Bett, und auch Linda blickt eine ganze Weile still vor sich hin. Linda weiter: "Zuerst greift er sogar in die Firmenkassa, um die Abtreibung zu finanzieren, und ich blöde Kuh gehe am Abend servieren, damit wir das Geld möglichst schnell zurückzahlen können, das uns der Lokalbesitzer vorgestreckt hatte. "Das konnte nicht gut gehen, Linda. Am Tag in der Schule, die halbe Nacht arbeiten. Du hast für ihn deine Ausbildung geopfert. Wenn Mutter noch gelebt hätte, dann wäre alles sicher nicht passiert und ..." "Hätte ich nicht versagt, würde sie bestimmt noch leben!" "Linda, ich glaube fest daran, dass alles irgendwann wieder gut wird. Du wirst sehen!"
Im Büro, in dem Linda seit einigen Wochen arbeitet
Rosa: "Findest du nicht auch, dass sich Linda in letzter Zeit verändert hat?" Eva: "Mich stört vor allem ihr Benehmen. Sie macht ja schon, was sie will!" Rosa: "Das kannst du nicht sagen. Es stimmt zwar, dass sie öfters zu spät zur Arbeit kommt, und dass sie sich deswegen nicht weiter entschuldigt." Eva: "Ja siehst du denn nicht, wie sie mit dem Chef umspringt? Und wie er sie immer anschaut?" Rosa: "Aus dir spricht der Neid." Rosa war einige Jahre älter als ihre Kollegin und sie wusste, dass sich Eva nur zu gerne an ihren Chef herangemacht hätte, dieser sich jedoch in letzter Zeit mehr für Linda interessierte. Eva: "Da tut sich doch was. Das merkt doch jeder Mensch." Rosa: "Sie gefällt ihm eben, doch ob er bei ihr landen kann, weiß ich nicht. Linda scheint sich nicht viel aus Männern zu machen. Nein, nein, meine Liebe, da irrst du dich. Aber ich weiß von ihr ..."
Die Tür geht auf und Linda kommt herein. Ihr dunkles, langes Haar glänzt im Schein der Neonröhren und in ihren blauen Augen scheint ein seltsames Licht zu brennen. Blass ist ihr zartes, in letzter Zeit schmal gewordenes Gesicht und ihre Lippen zucken. "Warum starrt ihr mich an, wie ein Weltwunder? Gibt es etwas Besonderes an mir?" Ein Schatten der Angst huscht über ihr Gesicht und sie stockt mitten im Gehen durchs Büro und krümmt sich unmerklich zusammen, während sie in sich horcht, um irgendwelche Signale von ihrem Körper zu vernehmen.
"Darf man dich nicht mehr anschaun?" stößt Eva schnippisch zwischen ihren schmalen Lippen hervor, doch Linda scheint nicht hinzuhören und gleich darauf steht sie mit ihren langen, wohlgeformten Beinen beim Spiegel. Prüfend blickt sie hinein. Irgendetwas geht in ihr vor, das spürt sie ganz deutlich. Sie ist beunruhigt, denn seit einigen Wochen fühlt sie sich manchmal so elend und schwach. Ihre Seele hatte Schaden genommen im Verlauf ihres noch so jungen Lebens und seit Georg sie auf die Straße gesetzt hatte, klaffte eine tiefe Wunde in ihr. Linda fühlt sich müde und ausgelaugt und ihr inneres Feuer brennt auf Sparflamme. Sie setzt sich in ihren Sessel und vertieft sich in ihre Arbeit. Doch sie kann sich nicht darauf konzentrieren und ihre Gedanken kreisen ...
Wie damals sieht sie sich am Steg des Teiches sitzen. An diesem Sommerabend, als sie in den Ferien zum Teich gegangen war. Sie hatte sich nach ihrem Vater gesehnt, der an dieser Stelle ins Wasser gestürzt war. Sie hatte ihren Vater geliebt und sie dachte an die schönen Tage in ihrer Kindheit zurück. Und während sie an ihn dachte stand plötzlich dieser Mann neben ihr.
"Schau mal einer an. Das ist ja die Linda. Was machst du hier am Teich?" Linda antwortete nicht. Zu sehr hasste sie diesen Menschen. "Magst mich wohl noch immer nicht. Dabei solltest du froh sein, dass es mich gibt, und dass ich mich seit dem Tod deines Vaters um deine Mutter kümmere." Linda drehte sich um und sah den feisten Kerl vor sich stehen. Sie roch die Alkoholfahne, als sich der Mann zu ihr herabbeugte. "Fassen Sie mich nicht an!" "Sei doch nicht so, Mädchen! Du bist ja richtig hübsch geworden, seit du im Internat bist." Linda sah wie sie der Mann anstarrte mit seinem stechenden Blick. Sie erhob sich und wollte weg. Möglichst schnell weg. "Halt! So eilig wirst du es wohl doch nicht haben!" Der große kräftige Mann versperrte Linda den Weg. "Ich hasse Sie! Lassen Sie mich sofort vorbei!" Doch der anscheinend Betrunkene lachte nur. "Das hat dein Vater damals auch gesagt, als er mir hier wegen deiner Mutter Vorwürfe machte und sagte, ich solle nur ja die Finger von ihr lassen." Linda stand vor ihm am Steg und ihr Herz pochte in ihrer Brust. Sie wich einige Schritte zurück, doch der Verwalter breitete seine Arme aus und ging auf sie zu. Linda überlegte, ob sie nicht ins Wasser springen sollte, als sie die Hände des Mannes am Arm packten. "Hier geblieben, du kleines Luder!" "Loslassen!" "Will dir nur was sagen. Dein Vater hätte sich besser nicht mit mir an dieser Stelle angelegt und ..." Weiter kam er nicht, denn Linda trat kräftig ans Schienbein des Verwalters und versuchte, sich loszureißen. Der Betrunkene schrie auf, krümmte sich zusammen, verlor das Gleichgewicht, torkelte einige Schritte über den Steg und stürzte kopfüber ins Wasser.
Linda schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie ihren Chef vor sich am Schreibtisch stehen sah.
"Guten Morgen, Linda." "Guten Morgen." "Ich hab schon gedacht, Sie hätten schlechte Laune, weil Sie mir keine Antwort gegeben haben." "Nein, nein. Ich dachte nur an ..." "Ist schon gut, Linda. Kommen Sie bitte in einer viertel Stunde zum Diktat." "Ja, Chef."
Linda wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, sie atmete heftig und irgendwie verspürte sie eine Erleichterung in sich. Sosehr sie damals zuerst darüber erschrocken war, als der Verwalter ins Wasser stürzte, so sehr hatte sie jedoch den Todeskampf dieses verhassten Menschen genossen und mit Genugtuung zugeschaut, wie er vergeblich versuchte, sich an der Wasseroberfläche zu halten. Wild schlug der Mann mit Armen und Beinen um sich, verzweifelt streckte er Linda seine Arme entgegen und sie sah auch, wie er sich am Steg anzuhalten versuchte, bevor er wenig später röchelnd im Teich versank. Und es war ihr klar, dass sie niemals versucht hätte, ihn zu retten und dass sie ihm vielleicht sogar einen weiteren Tritt versetzt hätte, wenn es ihm tatsächlich gelungen wäre, sich am Steg anzuhalten oder sich womöglich sogar daran hochzuziehen. Oder hatte sie das vielleicht sogar getan? Nein, nein! Er war von selbst abgerutscht! Ja, ja! So war das damals! Es war wohl die Sühne dafür, dass er ihren Vater in den Teich gestoßen hatte.
Am nächsten Morgen fand man den Verwalter leblos am Abfluss des Teiches im Wasser hängen und man vermutete, dass er auf dem Heimweg vom Gasthaus betrunken in den Teich gestürzt und ertrunken wäre. Die Angst vor einer möglichen Bestrafung hatte Linda damals schweigen lassen. Die Angst, man würde ihr nicht glauben, dass sie sich nur zur Wehr gesetzt hatte, als sie der Betrunkene am Steg mit seinen Armen gefasst hatte. Es war bis heute ihr Geheimnis geblieben und nicht einmal Grete hatte sie jemals von diesem Vorfall erzählt. Wenn sie daran dachte, dann verspürte sie zumeist ein Gefühl von Genugtuung, doch hin und wieder überfielen sie auch Schuldgefühle. Auch jetzt fühlte sie sich mit einem Mal genauso elend wie damals, als sie nach dem ersten Glücksgefühl die Angst überfiel und sie sich vom Teich schlich und mit klopfendem Herzen in ihrem Bett lag und lange nicht einschlafen konnte.
"Linda, du sollst doch zum Diktat zum Chef", hört sie Rosa sagen. "Könntest du nicht für mich gehen, Eva? Ich fühl mich heute so schlecht." "Na, hör dir die an, fühlt sich schlecht. Ist die bevorzugte Person beim Chef und fühlt sich schlecht." "Ich geh ja schon", sagt Linda, erhebt sich müde, ergreift Notizblock und Schreiber und betritt das Chefbüro. Gleich darauf steht sie vor ihrem Chef. Sein Gesicht strotzt vor Zuversicht und Energie, die breiten Schultern stecken in einem modischen Sakko, elegante Lackschuhe schauen unter einer tadellos gebügelten Hose hervor. Seine Lippen sind zusammen gepresst und der Duft eines herben Männerparfums umweht ihn.
"Nehmen Sie doch Platz, Linda!" Der schmeichelnde Tonfall macht Linda stutzig. "Ich muss mit Ihnen etwas besprechen." "Ich dachte, ich sollte zum Diktat kommen?" "Ja, ja - stimmt. Aber ..." Der Chef sitzt hinter seinem Schreibtisch in einem wuchtigen Lederfauteuil, hantiert an einer Pfeife und versucht, Lindas Blick festzuhalten. Linda schaut in seine blaugrauen Augen. Was mag sich hinter diesen kalten Lichtern verbergen, denkt sie sich, und ein Schauer läuft ihr über den Rücken. "Darf ich Sie etwas Privates fragen?" "Fragen Sie!" Linda fühlt sich irgendwie bedrängt und eine Welle des Unmuts steigt in ihr hoch, die sie nicht verbergen kann. "Na, na - schaun's doch nicht so! Ich tu Ihnen ja nichts!" Der Mann versucht einen väterlichen Ton anzuschlagen. "Ich will doch wirklich nur das Beste für Sie." Doch seine Worte können sie nicht umstimmen und es widert sie an, wie er sie von Kopf bis Fuß mustert, bevor sein Blick an ihrem Busen hängen bleibt. "Wie alt sind Sie, Linda?" "Zwanzig." "Ja, stimmt. Und - na ja, wie soll ich sagen - in festen Händen?" Lauernd kommt es aus seinem Mund. "Ich mach mir nichts aus Männern!" antwortet Linda heftig und ihr Blick wird finster. "Halt!", unterbricht er sie jäh. "Sagen's das nicht. Bei Ihrem Aussehen könnten Sie nicht nur einen glücklich machen." Paffend entzündet er seine Pfeife und der Rauch stiebt in alle Richtungen davon. Könnte ich doch auch so davon schweben, denkt sich Linda und hustet heftig. Rauch hat sie noch nie gut vertragen, der Gestank ist ihr zuwider. Der Chef, im Lehnstuhl zurückgelehnt und seine Beine überschlagen: "Sie sollen wissen, dass ich Sie sehr schätze! Nicht nur als Schreibkraft", und er lächelt ihr zu. Doch Linda ist nicht bei der Sache, sie spürt plötzlich wieder dieses merkwürdige Gefühl in sich. "Linda - ich hab Sie etwas gefragt." "Entschuldigung. Aber ich hab heute so schreckliche Kopfschmerzen." Abweisend dreht Linda ihren Kopf zur Seite. "Ich fragte Sie, ob Sie nicht Lust hätten, nächste Woche mit mir ..."
Er sieht Lindas finsteres Gesicht, stockt mitten im Satz und fährt ärgerlich fort: "Ach, lassen wir das. Ich diktiere: Bezugnehmend auf Ihr Schreiben ..."
Linda und Grete
Mit steinerner Miene liegt Linda im Bett und aller Glanz ist aus ihren Augen gewichen. Ihr Gesicht ist noch um eine Spur blasser als sonst und sie hat ihre Lippen fest zusammengepresst. Wenn Grete nicht gewesen wäre, dann würde sie wohl nicht mehr leben. Dann hätte sie sich schon längst von dieser Brücke gestürzt und manchmal - wie gerade jetzt wieder - verspürte sie ein starkes Verlangen danach, es zu tun. Vor allem die Schuldgefühle, die sie seit dem Tod ihrer Mutter mit sich herumschleppte, machten ihr zu schaffen. Mutter würde noch leben, wenn sie ihr nicht diese Sorgen bereitet hätte. Und wie so oft bei solchen trüben Gedanken rief ihr auch jetzt wieder eine innere Stimme zu: "Linda, du hast auch den Verwalter auf dem Gewissen!"
Linda wälzt sich von einer Seite zur anderen und atmet schwer. Hatte sich womöglich seit dieser Zeit ein böser Fluch über sie und ihr Leben gebreitet? War es nicht ihr gutes Recht gewesen, sich zu wehren, sich loszureißen und zuzutreten, als sie der Betrunkene an sich reißen wollte? Doch dann wurde die Stimme lauter, eindringlicher: "Er hat dich doch gar nicht bedrängt, du hast ihn hineingestoßen, als er dir das mit deinem Vater erzählt hat. Du hast es aus Rache getan, Linda! Einzig und allein aus Rache! Du hast einem torkelnden Betrunkenen einen Stoß versetzt, als er auf dich zuging! Und du hast ihm nicht geholfen, als er sich am Steg anklammern wollte!"
Auf Lindas Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet, ihre Wangen glühten, und sie atmete schwer. Sie fühlte wieder diese Glut in ihrem Inneren und am liebsten hätte sie laut geschrieen: "Ich hab's nicht getan! Er ist von selbst hineingefallen!" Linda drehte sich wieder auf die andere Seite, sie fror plötzlich und das Nachthemd klebte schweißnass an ihrem Körper. Dann setzte sie sich im Bett auf, streifte das Nachthemd ab, legte sich auf den Rücken und zog die Decke über ihren Körper.
Grete war bereits vor einiger Zeit aufgestanden, zuerst ins Bad und dann in die Küche gegangen, jetzt legte sie drei Zeitschriften neben Linda aufs Bett. "Hier - ich bin gleich soweit mit dem Frühstück." Für Linda eine willkommene Abwechslung, um von ihren quälenden Gedanken wegzukommen. Sie nahm eine Illustrierte zur Hand, setzte sich im Bett auf und sah die Schlagzeile: "AIDS - nimmt diese Geißel der Menschheit auch bei uns wieder zu?" Interessiert suchte Linda nach dem Bericht im Blattinneren. "Diese heimtückische Krankheit wird zu einer immer bedrohlicheren Gefahr vor allem in der dritten Welt. In Afrika sind in manchen Gebieten schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung von dem Todesvirus befallen und es gibt noch immer keine Rettung für die Infizierten. Und auch bei uns mehren sich in letzter Zeit wieder Fälle von HIV-Infizierten. Vor allem Schwarze aus den Entwicklungsländern aber auch Urlauber scheinen diese Seuche einzuschleppen und der ursprüngliche Optimismus, dass die Gefahr bei uns durch vermehrte Aufklärung beinahe gebannt wäre, weicht wieder der Sorge um diese todbringende Infektion. Wenn auch die Todesrate bei uns in den letzten Jahren kaum zugenommen hat, so ist die Tatsache doch sehr bedenklich, dass scheinbar bereits zig Millionen Menschen infiziert sind und diese Infizierten unhörbar tickende Zeitbomben darstellen, die jederzeit explodieren können. Was nützen die besten Kondome, wenn sie nur spärlich verwendet werden, was bringt die beste Aufklärung, wenn immer mehr Virusträger aus der dritten Welt einreisen und damit mitten unter uns leben. Sitzt womöglich auf jeder Zahnbürste und in jedem ausgespuckten Speichel eines Infizierten bereits der Todesvirus? Experten verneinen dies zwar und meinen, blutsaugende Insekten könnten die Krankheit nicht übertragen. Pessimisten befürchten allerdings, dass ein einziger Stich einer Stechmücke genügt, um sich anzustecken! Zuerst saugt so eine Stechmücke Blut aus einem Infizierten, dann steckt sie ihren Stachel in einen noch Gesunden. Ein einziger solcher Stich könnte also bereits genügen! Stechmücken gibt es weltweit, sie lauern überall, und kein Mensch kann sich vor diesen Biestern schützen. Und das Schlimme an der ganzen Sache, wie wir ja mittlerweile wissen: Ein HIV-Infizierter ist rein äußerlich nicht von einem Gesunden zu unterscheiden, zumindest so lange nicht, bis die Infektion die ersten Beschwerden verursacht. Was Wochen, Monate, ja sogar Jahre dauern kann. Wenn die Krankheit allerdings einmal voll ausgebrochen ist, dann helfen oft auch die besten Medikamente kaum noch und der Befallene kann seinen Sarg bestellen ..."
Linda hatte schon öfters von dieser unheilbringenden Infektion gehört und sie hatte bis heute weiter kein Problem damit. Doch auf einmal wurde sie hellhörig, als sie zu den Symptomen kam. Und noch während sie weiterlas, schoss ihr eine schreckliche Ahnung durch den Kopf. Regungslos lag sie da, den Blick starr auf die Zeilen gerichtet. Dann suchte sie erneut die Stelle mit den Krankheitssymptomen: Übelkeit, Appetitlosigkeit, Durchfall, Fieberschübe, Nachtschweiß, Gewichtsverlust. Sie war doch oft so schrecklich müde, sie musste sich manchmal förmlich zum Essen zwingen, weil sie keinen Appetit verspürte, sie wachte doch öfters schweißgebadet mitten in der Nacht auf und konnte nicht mehr einschlafen. Und sie dachte an die Hitzeschübe, die in letzter Zeit immer wieder durch ihren Körper jagten. "Linda, komm, sonst wird der Kaffee kalt!" Linda ließ die Zeitschrift fallen, so als ob sie sich soeben damit verbrannt hätte. Ihre Gedanken rasten, Fragen über Fragen stürzten plötzlich auf sie ein. Warum sollte ich Aids haben? Wo hätte ich mich angesteckt? Nein, nein - das alles ist bestimmt nur ein Zufall! Ganz bestimmt sogar. Wenn es aber tatsächlich ...? "Linda, kommst du endlich?" Linda schlüpfte in ihren Bademantel, ging zur Küche und setzte sich an den Tisch. Der Duft des Kaffees tat ihr gut und sie atmete wieder ruhiger. Nach dem ersten Schluck war ihr bereits wieder wohler zumute. "Wir sollten den schönen Herbsttag zu einem Ausflug nützen. Was hältst du davon, Linda?" "Wenn du meinst." "Du brauchst dringend eine Luftveränderung. Und auch ich will wieder einmal raus aus der Großstadt. Fahren wir zu Tante Luise aufs Land."
Der Ausflug zur Tante
Der Kleinwagen rumpelte über die Landstraße, während sich die Schwestern ihrem Ziel näherten. Grete hatte erst vor kurzem den Führerschein gemacht und die beiden hatten sich zusammen einen Gebrauchtwagen zugelegt. Grete saß am Steuer, hielt das Lenkrad fest umklammert und suchte mit ihren Blicken jeden Meter des Weges ab. Ihr hübsches Gesicht mit den dunklen, ausdrucksstarken Augen war angespannt, das halblange, dunkle Haar war hinten zu einer Masche zusammengebunden und aus ihrem Mund schauten zwei Reihen weißer Zähne hervor. Ihre zart geschwungenen Lippen leuchteten wie frisch geerntete Kirschen. Grete war etwas kleiner als Linda, sie war ruhiger, gefestigter und ließ sich nicht so leicht vom Augenblick bestimmen wie das bei Linda der Fall war. Was Grete anpackte, das hatte Hand und Fuß und tatkräftig stand sie mit beiden Füßen im Leben. Linda war sensibler, mehr der momentanen Stimmung unterworfen, ihr Verhalten war eher zögernd und sie war leichter zu beeinflussen. Doch hübsch waren beide.
"Fährt wirklich gut, unser Auto. Die Steigung hab ich beinahe nicht bemerkt." Linda schwieg. Sie hatte bis jetzt wenig Anteil genommen an der Fahrt. Auf Gretes gelegentliche Fragen antwortete sie nur kurz. Grete hatte wie immer Verständnis und erfreute sich an der Fahrt durch die Herbstlandschaft. "Linda, schau wie schön!" Linda murmelte beifällig. Doch sie war innerlich nicht dabei, sie dachte an den Artikel in der Zeitschrift und sie klammerte sich an das Wort Durchfall. Sie wusste ganz genau, dass Durchfall bei den Symptomen war und darauf setzte sie ihre Hoffnung. Sie konnte sich nicht erinnern, irgendwann in letzter Zeit Durchfall gehabt zu haben. Was sagt schon ein bisschen Müdigkeit und die Übelkeit am Morgen aus? Und große Hungergefühle hatte sie schon als Kind nie gehabt, ihre Mutter musste sie immer zum Essen auffordern. Und dass man, wenn man wenig isst, nicht zu-, sondern eher abnimmt, das war ja klar. Linda versuchte, die Gedanken an diese Krankheit weit von sich zu schieben. Sie sah sich im Geiste wieder mehr essen und mehr für ihre Gesundheit tun. Die habe ich in letzter Zeit zu sehr vernachlässigt. Ihr Gesichtsausdruck wurde zuversichtlicher, ihre Augen bekamen wieder einen optimistischen Ausdruck und sie lächelte, als sie sich Grete zuwandte. "Willst du mir helfen? Ich hab soeben neue Vorsätze gefasst." Grete blickte kurz zu ihrer Schwester. "Wobei soll ich dir helfen? Welche Vorsätze hast du gefasst?" "Ich will in Zukunft gesünder leben, ganz einfach gesünder, weißt du!" Heftig kamen diese Worte über ihre Lippen. Grete war erfreut, als sie das hörte. Wie optimistisch das klang, wo Linda doch in letzter Zeit eher depressiv und freudlos wirkte, und sie lächelte ihrer Schwester zu, während sie sich dem Ziel ihrer Fahrt näherten.
***
"Selbstverständlich müsst ihr bleiben. Platz hab ich genug." Tante Luise war ganz aus dem Häuschen, so sehr freute sie sich über den Besuch ihrer Nichten. Vor Aufregung war ihr Gesicht gerötet und sie fuchtelte mit ihren kleinen, dicklichen Händen in der Luft herum. "Bist du uns wirklich nicht böse, dass wir dich so überfallen haben? Aber wir dachten uns ..." "Wo denkst du hin, Grete, die größte Freude habt ihr mir damit gemacht." Wohlgefällig schweifte ihr Blick über die beiden Mädchen. "Ihr werdet immer hübscher. Setzt euch und erzählt mir ein wenig. Wie geht es euch und was macht ihr so? Habt ihr schon Freunde oder seid ihr womöglich gar schon verlobt? Wie geht's euch bei der Arbeit und wie gefällt euch das Leben in der Großstadt?"
Die drei hatten sich viel zu erzählen, wo sie sich doch bereits längere Zeit nicht mehr gesehen hatten. Tante Luise lief mit ihren kurzen Beinen emsig in der kleinen, einfach eingerichteten Küche herum und richtete für ihren Besuch eine Kleinigkeit zu essen. Linda war froh wie schon lange nicht. Das Knistern der brennenden Scheiter, die behagliche Wärme, die der alte gemauerte Herd ausstrahlte, die auf ihrem Schoß schnurrende Katze, das Ticken der Wanduhr, der gemütliche Diwan, auf dem man so gut saß - kurzum, die ganze heimelige Atmosphäre tat ihr gut. Die einfachen Möbel, der leicht federnde Holzboden, das Herdschiff, aus dem der Dampf leicht hervorquoll und sich gleich darauf in nichts verwandelte. All das war Balsam für ihre Seele und strahlte behagliche Geborgenheit aus und als sie der Tante zusah, wie sie eifrig werkte, da verspürte sie plötzlich Sehnsucht nach ihrer Mutter und wehmütig erinnerte sie sich an die Zeit zurück, als die Welt noch in Ordnung für sie war und sie noch eine glückliche Familie waren. Auch sie hatten auf dem Gutshof eine Wohnküche, in der sich alles Leben abspielte. Ein Stück glücklicher Kindheitserinnerung stieg in ihr hoch. "Du erinnerst mich an unsere Mutter", sagte Linda mit leiser Stimme. Sie wollte die Stimmung nicht durch ein lautes Wort stören und dieses Gefühl ganz in ihrem Inneren einfangen. "Ja, eure Mutter. Der Herr halte sie selig! Wenn die euch noch so erleben könnte, welche Freude hätte sie doch an ihren Kindern. Sie starb leider viel zu früh, die Gute."
Die drei plauderten, tranken Tee und ließen sich Tante Luises selbstgebackenen Kuchen schmecken. Genussvoll wühlten sie in ihren Erinnerungen und so manches Erlebnis aus vergangenen Tagen wurde wieder ans Tageslicht geholt.
Erste Begegnung mit Peter
"Darf ich bitten?" Der junge Mann war an den Tisch gekommen und stand vor Linda. Vom Podium erklang die Musik einer sechsköpfigen Band. Linda wusste nicht, was sie machen sollte, blickte zu Grete und Tante Luise und als diese ihr aufmunternd zunickten, erhob sie sich zögernd von ihrem Platz und ließ sich zur Tanzfläche führen. Sie war überrascht, dass gerade sie zum Tanz aufgefordert wurde, wo doch noch etliche andere junge Frauen und Mädchen im Saal saßen. Gleichzeitig war sie von sich selbst überrascht, nicht nein gesagt zu haben, hatte sie doch wirklich nicht vorgehabt, mit irgendjemandem hier zu tanzen. Doch bevor sie sich noch recht besinnen konnte, stand sie bereits mit ihrem Begleiter auf der Tanzfläche. Er: "Sie sind nicht aus der Gegend, oder?" Linda: "Nein, ich bin nur zu Besuch hier." Mit starken Armen führt er Linda über die Tanzfläche. Er: "Wie gefällt Ihnen die Musik?" Sie: "Klingt gut", und sie sieht in seine dunklen Augen. Flüchtig huscht ihr Blick über sein junges und doch sehr ausdrucksstarkes Gesicht. Er ist etwas größer als sie, hat dichtes, gewelltes blondes Haar und wirkt sehr sympathisch. Linda merkt, dass auch er sie ansieht. Sein Blick ist offen und er lächelt. Er: "Ich bin froh, dass Sie mir keinen Korb gegeben haben. Das kommt auch öfters vor." Sie: "Wirklich?" Dabei war sie ja selbst drauf und dran gewesen, ihn abblitzen zu lassen, doch irgendetwas war an ihm, das sie daran gehindert hatte. Er: "Sie tanzen gut, stehen wohl öfters auf einer Tanzfläche?" Sie: "Danke für das Kompliment. Aber, ehrlich gesagt, ich tanze eher selten." Wortlos tanzen sie weiter, schauen sich ab und zu in die Augen und bewegen ihre Körper im Rhythmus der Musik. Er: "Bleiben wir noch?" Sie: "Nein, danke. Ich möchte lieber zurück an unseren Tisch." Er: "Schade, das war viel zu kurz. Darf ich Sie später nochmals holen?" Sie: "Wenn Sie unbedingt meinen. Doch bitte nichts allzu Schnelles!" Linda ist etwas schwindlig, als er sie zurückbringt. Mit einer leichten Verbeugung verabschiedet er sich. Linda wischt sich einige Schweißperlen von der Stirn und schaut ihm nach wie er mit wiegenden Schritten in der Menge verschwindet. "Da schau mal einer an." Tante Luise sagt es nicht ohne Bewunderung. "Weißt du, wer dich da zum Tanzen geholt hat?" "Keine Ahnung." "Es ist der Sohn von unserem Arzt. Er studiert Medizin und müsste demnächst mit seinem Studium fertig sein. Nur weiß ich im Moment nicht, wo er studiert." Für Linda ist dies nicht so beeindruckend wie für die gute Tante. Linda: "Wo ist Grete?" Tante Luise: "Hast du sie denn nicht gesehen? Habt ja nebeneinander getanzt." Linda: "Seltsam, ich hab sie gar nicht bemerkt." Die Tante schüttelt leicht den Kopf: "So vertieft also. Kein Wunder bei seinem Aussehen." "Aber Tante, ich mach mir nichts aus Männern." "Das kann sich schnell ändern - wenn der Richtige kommt."
Einige Zeit später war auch Grete wieder bei ihnen. Sie war noch etwas außer Atem und sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas zu sich. "Dachte mir doch gleich, dass es euch hier gefallen würde. Bei eurem Aussehen solltet ihr öfters ausgehen, zu schnell vergehen die jungen Jahre." Die Tante seufzte. Womöglich dachte sie an ihre jungen Jahre zurück.
Die Musik machte eine Pause. Linda, Grete und Tante Luise saßen in einer Nische im prall gefüllten Saal des Dorfwirtshauses. Es herrschte reger Betrieb, man lachte, trank und die Stimmung war dementsprechend ausgelassen. Vor allem die Dorfjugend amüsierte sich scheinbar köstlich. An der Schnaps-Bar war das Gedränge am größten und der Alkohol zeigte bei einigen schon eine deutliche Wirkung. Linda war nur mit Widerwillen und einzig allein Grete zuliebe zu dieser Tanzveranstaltung mitgekommen. Seit diesem schrecklichen Erlebnis mit dem Lokalbesitzer war ihre Beziehung zu solch ausgelassenem Tun eine andere geworden. Der Lärm, der Rauch und der Rummel setzten ihr plötzlich zu, sie bekam Kopfschmerzen und sie fühlte sich nicht mehr wohl in dieser Menschenmenge, die der Alkohol zunehmend enthemmte. Sie hasste diese Atmosphäre und vor allem Menschen, die nichts anderes im Kopf zu haben schienen, als sich zu betrinken und anzügliche Witze zu erzählen.
Plötzlich stand er wieder vor ihr am Tisch, verneigte sich und sah ihr erwartungsvoll in die Augen. Die Musik hatte wieder eingesetzt und die Pärchen drängten zur Tanzfläche Obwohl Linda nicht nach Tanzen zumute war, brachte sie es nicht übers Herz, ihm eine Absage zu erteilen. Sie stand auf und ließ sich zur Tanzfläche führen. Die Musik war einschmeichelnd langsam, und eng umschlungen wälzten sich die Körper der Tanzenden an ihnen vorbei. "Ich hab ganz vergessen, Sie um Ihren Namen zu fragen. Ich bin der Peter." "Linda", hauchte sie. Der Geruch von Schweiß, Parfum, die Hitze - Linda wurde plötzlich übel. Peter merkte nichts von Lindas Schwächeanfall, er hielt es für Anschmiegsamkeit, weil sie beinahe schon in seinen Armen hing und drückte sie an sich. Es rauschte und dröhnte in ihren Ohren, kalter Schweiß brach aus ihren Poren und Sterne flimmerten vor ihren Augen. "Bitte bringen Sie mich zurück! Schnell!" hauchte sie. "Aber Linda, warum? Was ist los mit Ihnen?" "Schnell bitte! Mir ist übel!" Linda musste ihre ganze Willenskraft aufbieten, um nicht zusammenzusacken. Peter bahnte sich einen Weg durch die Masse der Tanzenden, während sich Linda an ihm festhielt. "Linda, um Himmels Willen, du bist ja leichenblass." Tante Luise war ganz aufgeregt. Erschöpft ließ sich Linda in einen Stuhl fallen und sie atmete schwer. "Sie brauchen frische Luft. Ich bring Sie hinaus", sagte Peter besorgt. "Nein, nein, lassen Sie, Peter! Ich will vorerst einmal hier sitzen bleiben - es geht mir schon wieder etwas besser", und sie versuchte zuversichtlich zu lächeln.. "Der Kreislauf ist's. Ich hol' schnell etwas. Bitte geben Sie inzwischen acht auf sie", und er eilte davon ....
Abschied von der Tante und die Fahrt zurück
"Ihr müsst bald wieder einmal kommen, versprecht mir das!" "Gern, und danke nochmals für alles! Bleib gesund und lass bald etwas von dir hören!" Grete umarmte die alte Tante und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. "Linda, gib auf deine Gesundheit acht! Du brauchst viel Bewegung in der frischen Luft!" "Ja, Tantchen. Mach dir nur keine Sorgen um mich. Es ist schon wieder alles in Ordnung. Verzeih mir, dass ich dir gestern diese Umstände gemacht hab." "Du darfst dich nicht zu sehr anstrengen, dazu bist du zu zart gebaut. Du musst dich mehr schonen!" Tante Luise drückte Grete und Linda an sich und wehmütig blickte sie dem Auto nach, bis es endgültig aus ihren Augen verschwand.
"Ich glaube, dass sich Tante Luise sehr über unseren Besuch gefreut hat." "Richtig aufgeblüht ist sie." "Was sagst du dazu, dass sie uns ihr Haus vermachen will?" "Das ist lieb von ihr. Aber, ehrlich gesagt, würdest du hinziehen? So schön es landschaftlich ist, aber wovon sollten wir leben?" Linda richtete seit langer Zeit wieder einmal ihre Gedanken in die Zukunft. In den letzten Wochen war sie ja mehr mit der Bewältigung ihrer Vergangenheit beschäftigt gewesen. "Mir würde es bestimmt gut gefallen. Vielleicht könnte ich später sogar einmal eine eigene Schneiderwerkstätte dort aufmachen. Ich finde es nett, wenn man an einem Ort lebt, wo sich die Leute kennen und füreinander interessieren." "Findest du? Ich weiß nicht recht, ich glaube, der Dorftratsch wäre nichts für mich. Ich lebe gern anonym und hasse es, wenn jeder alles von mir weiß oder wissen möchte." "Aber Linda, findest du es nicht schön, wenn man dich auf der Straße grüßt, wenn man sich nach deinem Befinden erkundigt und Anteil an deinem Leben nimmt? Das ist beinahe so wie in einer großen Familie." "Erinnere dich doch zurück Grete wie es damals war, als wir noch Kinder waren. Wie wir von vielen Leuten schlecht behandelt wurden, nur weil wir keinen Vater hatten und Mutter mit dem Verwalter ..." "Ja, ja", fiel Grete ihr ins Wort, "doch das ist mir immer noch lieber, als in der Stadt zu leben, wo man nicht einmal seine Nachbarn kennt. Das sieht man in unserem Haus ja deutlich. Ich glaube, da könnte einer sterben, ohne dass es irgendeinem Menschen auffällt. Hätten wir in der Stadt gelebt, als unser Vater verunglückte, so wären wir womöglich in einem Fürsorgeheim gelandet. So aber konnten wir zusammenbleiben, weil uns einige Leute in unserem Dorf geholfen haben." Grete ergriff leidenschaftlich Partei für ein Leben auf dem Land. "Das mag ja alles stimmen, Grete, aber du weißt sicher genauso gut wie ich, dass nicht alle nett zu uns waren", versuchte Linda ihre Schwester einzubremsen. "Ich kann mich eigentlich nur an das Gute erinnern und weiß noch genau, welche Freude ich hatte, wenn ich mit den Kindern am Bauernhof herumtollen durfte und wie sehr ich alle Tiere in mein Herz geschlossen hatte. Es war für mich das Schönste, Tante Zenzi bei der Betreuung der Lämmer, Hühner, Ferkel und Kühe helfen zu dürfen." "Hab ich auch gern gemacht." "Obwohl sie nicht einmal verwandt mit uns waren, durften wir Tante und Onkel zu ihnen sagen. Und sie haben uns wie ihre eigenen Kinder behandelt." "Aber Grete, du wirst wohl auch wissen, wie die Dorftratschweiber unsere Mutter schlecht gemacht haben, nur weil sie in ihrer Not auf die Forderungen des Verwalters eingegangen ist."
Lindas Erinnerungen an ihre Kindheit schienen wesentlich negativer gefärbt zu sein als die ihrer Schwester. Es folgte eine kurze Pause.
"Ich weiß noch genau, wie mich die anderen Kinder in der Schule hänselten, weil ich keinen Vater mehr hatte und wie mich der Lehrer in die letzte Reihe versetzte, weil der Sohn vom Bürgermeister, dieses verwöhnte Muttersöhnchen, der sich seine Freunde mit Zuckerln kaufte, sich zu Hause beklagt hatte, dass ich nach Stall riechen würde und nur alte Kleider anhätte. Ich weiß das alles noch sehr gut und weiß auch noch genau, wie sich der Lehrer dafür bei Mutter entschuldigte und sagte, dass er es nur deswegen getan hätte, weil sich der Herr Bürgermeister bei ihm beschwert hätte." Eine dicke Unmutsfalte stand plötzlich auf Lindas Stirn. "Böse Menschen gibt es überall, Linda. Und Ungerechtigkeiten." "Siehst du", fauchte Linda, "genau das meine ich. Auf dem Land ist es sicher schön, zu leben. Aber nur, wenn du wer bist. Wie der Pfarrer, der Lehrer, der Doktor, die Geschäftsleute, der Forstmeister oder der Bürgermeister. Für diese Leute gibt es freilich nichts Besseres. Die werden geehrt, denen wird alles nachgesehen - auch Schweinereien, die sie begehen. Es werden sogar Feste abgehalten, wenn einer von denen einen runden Geburtstag feiert. Du wirst dich doch noch erinnern, dass sogar die Blasmusik ausrücken musste, als der Verwalter fünfzig wurde, obwohl er vor Selbstherrlichkeit strotzte und seine Untergebenen behandelte, als wären sie aus Dreck." "Bitte, Linda, hör auf damit! Aus dir spricht der Hass!" Die Schwestern schwiegen eine Weile. Dann meldete sich Linda wieder: "Ich bin lieber in der Stadt. Da gibt es bestimmt auch viele Schweinereien, doch man merkt nicht so viel davon, man kann sich zurückziehen, kann kommen und gehen, wie es einem beliebt und wohin man will. Und niemand lauert hinter einem Vorhang oder steckt seinen Kopf neugierig aus dem Fenster."
Grete und Linda diskutierten über das Für und Wider des Landlebens und nahmen wenig Anteil an den Schönheiten der Natur, in der sie dahinfuhren. Vorbei ging die Fahrt an einem Bach, in dessen klarem Wasser sich etliche Fische tummelten, tiefgrüne Wiesen säumten den Weg, auf denen wohlgenährte Rindviecher weideten, deren Glockengeläute allein zu verhindern schien, dass sie nicht aus purer Gemütlichkeit beim Fressen einschliefen. Dann wieder fuhren sie an bunt gefärbten Bäumen vorbei, die ihre Kronen majestätisch zum Blau des Himmels empor streckten. Doch je näher die Schwestern der Großstadt kamen, desto trüber wurde der Himmel. Das Wasser des Baches war zum Fluss angewachsen, auf dem eine Schicht aus Schmutz und Schaum dahintrieb. Die kraftstrotzenden Baumriesen waren verkrüppelten Bäumchen gewichen und statt der vorerst sich noch lieblich durch die Landschaft schlängelnden Landstraße fuhren die Schwestern jetzt auf Betonklötzen dahin. Das Verkehrsgewühl nahm von Minute zu Minute zu und die Blechlawine wälzte sich qualmend der Großstadt entgegen.
Wieder zu Hause / Lindas Gedanken kreisen
"Ach, bin ich müde." Grete lehnt sich im Stuhl zurück und gähnt herzhaft. Linda sitzt auf ihrem Bett und blättert in einigen Zeitschriften. Sie sucht den Artikel über Aids, der sie so brennend interessiert hatte, doch sie kann ihn nicht finden. "Grete, wo sind die Zeitschriften von gestern?" "Zwei hab ich Tante Luise mitgebracht - weißt du das nicht mehr?" "Ach ja, stimmt." Jetzt erinnerte sich Linda daran, dass Grete Blumen, Kaffee, eine Flasche Wein und zwei Zeitschriften zur Tante mitgenommen hatte. Zu dumm, in einer davon war bestimmt der Aids-Bericht. "Hättest du etwas Bestimmtes gesucht?" "Nein, nein. Ich hätte nur gern ein wenig darin geblättert."
Linda streckte sich auf dem Bett aus und starrte zum Plafond. So gerne sie mit Grete über ihre Ängste und Zweifel gesprochen hätte, so hielt sie doch irgendetwas davor zurück. Wahrscheinlich war es die Angst, Grete würde dafür sorgen, einen Test zu machen. Genau das war es jedoch, wovor Linda Angst hatte. Was, wenn sich der Verdacht bestätigen sollte? Linda wurde bei diesem Gedanken ganz mulmig zumute und noch etwas beunruhigte sie sehr: Wie gefährdet war Grete, wenn sie diesen Virus tatsächlich ...? Gretes Leben durfte auf keinen Fall in Gefahr kommen - oder hatte sie ihre Schwester womöglich bereits angesteckt? Verstohlen schielte Linda zu ihr hin und sie wurde etwas ruhiger, als sie in das vertraute Antlitz blickte und keinerlei Anzeichen einer Krankheit darin bemerken konnte. Gretes Gesicht war noch immer von den vergangenen Sommertagen braungebrannt, ihr dunkles Haar glänzte im leicht rötlichen Schein der Stehlampe und ihre straffen Brüste hoben und senkten sich regelmäßig beim Atmen. Noch scheint alles bei ihr in Ordnung zu sein, dachte sich Linda erleichtert. Wenn ich wirklich infiziert bin, dann muss ich diese tödliche Gefahr von ihr fernhalten und darf sie auf keinen Fall anstecke.
Linda lag noch immer wach im Bett, während Grete bereits schlief. Später als gewöhnlich waren die Schwestern zu Bett gegangen und obwohl Linda ihre Augen geöffnet hatte, richtete sich ihr Blick in ihr Inneres und ihr Geist war wach und angespannt. Irgendwie verspürte sie die Gefahr, die auf sie zukam, sie dachte daran, dass sie sich in letzter Zeit tatsächlich sehr oft sehr schlecht gefühlt hatte, und die Angst kroch plötzlich wieder in ihr hoch.
"Ich will nicht sterben!"
Verzweifelt ruft sie es ins Dunkel des Zimmers und Tränen quellen aus ihren Augen. Sie atmet schwer und vergräbt ihr Gesicht im Polster. Die Sorge, die noch kurz zuvor ihrer Schwester gegolten hatte, ist einer Sorge um ihr eigenes Leben gewichen. Linda horcht in sich hinein, sie hört ihr Herz in ihrer Brust schlagen und sie gibt ihren Beinen den Befehl, sich zu bewegen. Ja, es scheint alles noch zu funktionieren. Mit beiden Händen ergreift sie ihre Brüste und versucht festzustellen, ob diese kleiner geworden wären. Doch sie fühlen sich nach wie vor straff an. "Ich gebe nicht auf! Ich bin nicht infiziert! Die paar Symptome - lächerlich."
In diesen Minuten schöpfte Linda neuen Mut und sie drängte die Vermutung, dass sie an Aids erkrankt wäre, weit von sich. Es war ganz still im Zimmer, nur das ruhige Atmen von Grete und das Ticken der Wanduhr waren zu hören. Plötzlich lachte Linda. Es war ein Lachen mit dem sie Tod und Teufel trotzen wollte. Wie konnte sie nur so hysterisch sein und sich Sachen einreden, die es gar nicht geben konnte? Wie war sie nur auf die wahnsinnige Idee gekommen, infiziert zu sein? Daran war doch nur dieser verdammte Artikel schuld, der sie so in Panik versetzt hatte. Ein Wahnsinn, sich so fertig machen zu lassen. Das bisschen Fieber, der Nachtschweiß, die Müdigkeit, manchmal ein wenig Übelkeit und die Appetitlosigkeit. Hat das nicht jeder normale Mensch hin und wieder? Mit diesen Gedanken versuchte sich Linda zu beruhigen. Von der nahen Turmuhr schlug es zwölfmal, als Linda endlich ihre Augen schloss und einem neuen Tag entgegenschlief.
Am nächsten Morgen
"Linda - aufwachen!" Grete rüttelt die Schlafende an der Schulter. Endlich bewegt sich Linda. "Ach - nein!" Sie dreht sich auf die andere Seite und will weiterschlafen. "Linda, du musst aufstehen! Du kommst sonst zu spät ins Büro." "Blödes Büro. Warum hast du mich aufgeweckt, wo ich doch noch so gut geschlafen hab. Du bist ein Tyrann, ich will heute nicht ins Büro, ich will schlafen, schlafen, schlafen ..." Grete war schon vor einiger Zeit aufgestanden, hatte die Morgentoilette bereits hinter sich und der Frühstückskaffee duftete in der Kanne. "Mit dir ist es immer das gleiche. Am Abend bist du nicht ins Bett zu bringen und am Morgen kommst du nicht aus den Federn." "Ich komm ja schon." Linda erhebt sich langsam vom Bett. Sie gähnt, reckt und streckt sich. "Wenn du nicht wärst, käme ich täglich zu spät oder gar nicht zur Arbeit."
Gemächlich macht sich Linda auf den Weg ins Badezimmer. In dieser Nacht hatte sie besonders tief geschlafen und nur sehr widerwillig kehrte sie deshalb in die Realität des Alltags zurück. Aus dem Spiegel blickt ihr ein zerknittertes Gesicht entgegen. Müde reibt sie sich die Augen, schlüpft aus ihrem Nachthemd und stellt sich unter die Dusche. Während das Wasser über ihren Körper rinnt, erwachen nach und nach ihre Lebensgeister und sie erinnert sich wieder an gestern. An den Abschied von Tante Luise, sie denkt an Peter und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Ein netter Kerl, sieht gut aus und ist gebildet. Und dabei ist er so angenehm zurückhaltend, ja er wirkt sogar ein bisschen schüchtern. Leider wusste sie nicht einmal seine Adresse. Schade, denkt sie, ich hätte ihn gern wiedergesehen. "Linda, mach weiter! Es ist wirklich schon spät und das Frühstück steht auf dem Tisch." "Bin gleich da."
Kurze Zeit später eilte Linda durch den prasselnden Regen zur U-Bahnstation. Der Alltag hatte sie wieder. Nichts erinnerte mehr an das herrliche Herbstwetter zum Wochenende, schwer klatschten die Tropfen auf ihren Schirm und sie spürte die Nässe durch ihre Schuhe dringen. Ein kalter Wind zerzauste ihr Haar, während sie versuchte, den Wasserlachen auf dem Gehsteig auszuweichen.
Das Verkehrsgewühl war dicht wie eh und je am Morgen, Auto um Auto zischte auf der vierspurigen Fahrbahn dahin, und der Lärm der pulsierenden Stadt drang an Lindas Ohren. Dann war sie an der Stelle angelangt, von wo es mit der Rolltreppe in die unterirdischen Röhren der U-Bahn hinabging. Das grelle Licht der Neonleuchten tat ihren Augen weh und erst allmählich gewöhnte sie sich daran. Linda hatte es eilig, denn sie war wieder einmal reichlich spät dran. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen und wartete auf den Zug. Endlich dröhnte es aus dem Lautsprecher: "Achtung! Treten Sie zurück, der Zug fährt in die Station ein!" Sekunden später donnerte die Garnitur daher und blieb mit quietschenden Bremsen stehen. Die Türen öffneten sich und Linda stieg mit mehreren anderen Wartenden ein. Kaum war der letzte Fahrgast eingestiegen, schloss sich die Türe wieder ruckartig, und noch ehe Linda richtig Platz genommen hatte, brauste der Zug bereits aus der Station. Die U-Bahn ist ein Abbild unserer Zeit, dachte sich Linda, alles geht automatisch und in einem wahren Höllentempo vor sich. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und blickte gelangweilt aus dem Fenster, während der Zug dröhnend unter der Millionenstadt dahinschoss.
Das Gespräch in der U-Bahn
"... mit Verdacht auf Aids eingeliefert", hört Linda den Jüngeren der beiden sagen. Plötzlich ist Linda hellwach. Ihr gegenüber sitzen zwei Männer, die sich angeregt unterhalten. "Und dabei war er immer zum Spaßen aufgelegt." "Weißt du was Genaueres? Wie ist man draufgekommen?" Interessiert fragt dies der andere. Linda blickt weiter aus dem Fenster und tut, als ob sie das Gespräch nicht im geringsten berühren würde - dennoch horcht sie angestrengt in die Richtung der beiden Männer. "Er hat schon seit einiger Zeit geklagt, dass er immer so müde wäre und sich nicht wohl fühle." "Und du bist sicher, dass er Aids hat?" "Na klar", ereifert sich der Jüngere. "Er hat sich untersuchen lassen, verstehst du, im Krankenhaus durchchecken, weil es immer schlechter wurde. Er hat ja in letzter Zeit beinah nichts mehr gegessen, hat immer mehr abgenommen und ..." "Mensch, das ist ein Ding", unterbricht ihn der Ältere. "Und ich hab noch vorige Woche zusammen mit ihm einige Biere getrunken. Er hat zwar nicht gut ausgeschaut, doch ich hab mir nichts weiter dabei gedacht und gemeint, dass er halt wieder einmal durchgemacht hätte." "Das war ja sein Fehler", meldet sich wieder der andere und versucht dabei, seiner Stimme einen bedeutungsvollen Klang zu geben. "Er war zu oft in einschlägigen Lokalen unterwegs. Dort hat er sich wahrscheinlich angesteckt." "Wie ansteckend ist diese Seuche eigentlich? Wir waren doch öfters mit ihm zusammen ..."
Die Räder kreischten, als der Zug in die Station einfuhr, wo Linda aussteigen musste. Am liebsten wäre sie sitzen geblieben und weitergefahren, hätte Büro, Büro sein lassen und das Gespräch der beiden Männer weiter verfolgt, so sehr hatten sie die Worte der Männer gefesselt. Einen Augenblick überlegte sie, doch dann erhob sie sich und stieg aus. Linda stand wie elektrisiert auf dem Bahnsteig. Das Gespräch der beiden beschäftigte sie so sehr, dass sie kaum wahrnahm, wie sie aus diesen unterirdischen Röhren wieder nach oben gelangte. Erst als sie ein vorbeiflitzendes Auto anspritzte, riss sie das aus ihren Gedanken. Linda schimpfte dem Autofahrer nach, ihre Laune war auf dem Tiefpunkt angelangt und alle Menschen widerten sie an. Ein Wahnsinn, wie sie dahinhetzten. Wie Gejagte, die keine Zeit mehr hatten, auf irgendetwas oder auf irgendwen Rücksicht zu nehmen. Linda wurde mitgerissen von dieser Menschentraube, der Regen klatschte auf die Schirme der Dahineilenden, sie hörte sich selbst schwer atmen und erst ein Hustenanfall stoppte sie.
Warum renne ich denn so dahin, dachte sie sich, griff sich an die Brust und hustete heftig. Ist doch egal, ob ich einige Minuten früher oder später im Büro bin. Langsam ging sie weiter und ließ die Menge links und rechts an sich vorüberhetzen. Plötzlich verspürte sie einen heftigen Stoß an der Schulter, der sie beinahe vom Gehsteig auf die Fahrbahn befördert hätte. Da hatte es einer anscheinend besonders eilig. Linda schaute dem Mann zornig nach, der sich rücksichtslos nach vor drängte. Unwillkürlich dachte sie an ihren Chef. War der nicht auch so? Auch er hatte seine Ellenbogen benützt, um sich vom Lehrling zum wohlhabenden Geschäftsmann emporzuarbeiten. Linda kannte inzwischen seine Praktiken, oft genug hatte sie Briefe von ihm diktiert bekommen, in denen Geschäftspartner und Kunden unter Druck gesetzt wurden. Linda verabscheute solche Dinge zutiefst, sie hasste es, wenn jemandem Unrecht geschah und aus diesem Grund war ihr der Chef, trotz seiner imposanten äußeren Erscheinung, auch höchst unsympathisch. Im Grunde genommen verabscheute sie diesen Erfolgsmenschen sogar, der sich mit lachendem Gesicht über alles hinwegsetzte, was andere bedrückte. Gut konnte sie sich noch daran erinnern, dass er einmal zu ihr gesagt hatte: "Wissen Sie, Linda, alles auf der Welt darf passieren, doch armselig und ohne Geld darf ich niemals mehr dastehen im Leben!"
Mit diesen Gedanken stand Linda plötzlich vor der Bürotür. Sie faltete den Schirm zusammen und schüttelte das Wasser ab.
"Guten Morgen, auch schon da?" Linda hatte sich bereits an Evas schnippische Bemerkungen gewöhnt und sie regte sich darüber kaum noch auf. Dass sie wieder einmal zu spät gekommen war, wusste sie selbst genau, doch sie hatte auch den mit Abstand weitesten Weg zur Arbeit. Das Wasser tropfte von ihrem Mantel, als Linda ihn auf einen Kleiderhaken hängte. Dann schlüpfte sie aus ihren Schuhen und versuchte, ihre Füße mit einem Handtuch abzutrocknen. "Was sagst du zu diesem Wetter?" fragte Rosa Linda freundlich. Linda holte ihre Büroschuhe aus dem Spind und setzte sich an den Schreibtisch. Sie blickte kaum auf , als sie antwortete: "Ein typisches Montag-Wetter. Passt genau zu meiner Stimmung!" Die letzten Worte waren ihr eher ungewollt aus dem Mund gerutscht. "Da schau einmal an, schlecht gelaunt also", klang es vorwurfsvoll von der anderen Seite des Zimmers an ihr Ohr. Eva und Linda hatten sich von Anfang an nie besonders gemocht und dieses Verhältnis hatte sich in letzter Zeit noch verschlechtert, seit der Chef sein Interesse merkbar von Eva weg und zu Linda hin zu richten begann. Linda lag bereits eine scharfe Antwort auf den Lippen, doch sie beherrschte sich. "Du irrst, meine Liebe. Ich freue mich bereits das ganze Wochenende über, dich am Montag endlich wieder zu sehen." Das saß - dafür sorgte schon der höhnische Unterton in Lindas Stimme. Da öffnete sich die Tür zum Chefzimmer und der Boss stand im Türrahmen. "Guten Morgen, alles in Ordnung, meine Damen?" Dann blickte er zu Linda hin. Sie erwiderte kurz seinen prüfenden Blick und tat so, als ob sie weiter nichts bemerkte. Und doch spürte sie, wie er noch immer zu ihr hinschaute - länger als ihr lieb war. "Ich muss weg und komme erst gegen Abend zurück. Ich hab eine wichtige geschäftliche Erledigung zu machen. Welche von den Damen könnte am Abend etwa zwei Stunden länger bleiben, um das Protokoll dieser Geschäftsvereinbarungen niederzuschreiben?" Linda duckte sich unmerklich zusammen und es kam ihr vor wie in der Schule, wenn der Professor etwas fragte, um sich dann eine Schülerin für die Beantwortung seiner Frage auszusuchen. Auch da hatte sie stets den Kopf unmerklich gesenkt und versucht, sich kleiner zu machen. Deshalb freute sie sich, als Eva sich spontan dazu bereit erklärte. "Ich könnte heute bleiben." "Hm - danke Eva." Nachdenklich kam es über seine Lippen. Scheinbar war er nicht begeistert von dieser Möglichkeit. "Ich weiß das von Ihnen zu schätzen und ich weiß auch, dass sie sich jederzeit für unser Unternehmen einsetzen und zu eventuell anfallenden Überstunden bereit erklären, doch sollten nicht immer nur Sie diejenige sein, die länger hier bleibt. Wie sieht's bei Ihnen aus, Linda?" Er hatte sich in voller Größe vor Linda aufgebaut und schaute ihr erwartungsvoll ins Gesicht. "Ich dachte vor allem deshalb an Sie, weil Sie nun doch schon mehrmals verspätet zur Arbeit gekommen sind ..." Er schmunzelte und schien sich zu amüsieren, weil er sah, wie Linda seine Worte ganz augenscheinlich in Verlegenheit brachten. "Das soll durchaus kein Vorwurf sein. Ich kann mich erinnern, dass ich in meiner Jugend auch nicht immer der Allerpünktlichste war. Umso mehr würde ich es schätzen, wenn Sie diese Zeit irgendwie einzubringen gedächten. Heute wäre die beste Gelegenheit dazu." "Wenn Sie unbedingt meinen."
Der Chef besprach mit seinen Bürodamen noch einiges, ehe er wenig später das Büro verließ. Kaum war er weg, meldete sich Eva zu Wort. "Der scheint ja einen richtigen Narren an dir gefressen zu haben, sonst hätte er nicht darauf bestanden, dass du am Abend hier blieben sollst und nicht ich. Früher war ich noch gut genug dafür." "Ich würde gern mit dir tauschen, ich bin wirklich nicht heiß darauf. Ich wüsste Besseres als bei ihm im Büro zu sitzen und sein Diktat über mich ergehen zu lassen." "Wenns nur beim Diktat bleibt", bemerkte Eva boshaft. "Bitte hört endlich damit auf!", meldete sich Rosa zu Wort, "erzählt lieber, was ihr zum Wochenende gemacht habt. Ich mach uns inzwischen einen Kaffee. "Eine gute Idee", sagte Eva und auch Linda fand es gut, dass das Thema gewechselt wurde.
Wenn sich die drei auch nicht besonders mochten, so waren sie doch Arbeitskollegen und beim Bürotratsch vergaßen sie am ehesten hin und wieder auftretende Spannungen. So war es auch diesmal. Jetzt, wo der Chef weg war, machten sie sich einen gemütlichen Arbeitstag, tippten ein wenig, tranken zwischendurch mehrere Tassen Kaffee und berichteten sich gegenseitig vom vergangenen Wochenende. Eva wusste wie immer am meisten zu erzählen und sie schilderte ausführlich, was sie alles erlebt hatte. Wie sie sich am Samstag-Abend mit ihrem neuen Freund zuerst einen Krimi angesehen hatte und nach dem Kinobesuch mit ihm fein essen ging.
"Ich wollte nachher noch Tanzen gehen, aber er drängte schon sehr nach Hause."
Ungeniert schilderte sie den weiteren Verlauf des Abends - bis ins kleinste Detail. So war Eva eben: Manchmal streitsüchtig, dann wieder vertrauensselig, anhänglich und meist kindlich-naiv. Ihre Stimmung änderte sich mehrmals täglich, sie konnte lauthals lachen, um wenige Augenblicke später wieder in einen Weinkrampf zu verfallen und das Aufreibende an ihr war, dass sie in einem fort plapperte. Linda ging Evas Art oft auf die Nerven. Sie selbst war genau der gegensätzliche Typ und sie hätte es niemals fertiggebracht, die intimsten Sachen aus ihrem Privatleben vor ihren Kolleginnen auszubreiten. Wenn sie hin und wieder etwas sagte, dann handelte es sich mit Sicherheit um Belanglosigkeiten. Auch bei Rosa kam nichts Sensationelles ans Tageslicht, sieht man davon ab, dass sie mit Vorliebe über ihre zerstrittenen Nachbarn und über nicht Anwesende herzog und selten ein gutes Haar an ihrer Umwelt ließ.
Der Vormittag verging sehr schnell und Linda war überrascht, dass sie zu Mittag erstmals seit längerer Zeit wieder richtig hungrig war. Ihre Freude darüber währte allerdings nicht allzu lange, denn nach einigen Bissen spürte sie ein heftiges Drücken in der Magengegend, das sie mit einem Mal wieder an ihren Zustand erinnerte. Ihre Laune wurde, nachdem Evas Erzählungen sie doch einigermaßen erheitert hatten, wieder schlechter. Zur Übelkeit gesellten sich Kopfschmerzen und es gelang ihr nicht, die aufkommenden Gedanken an Aids zu verscheuchen. Vor allem das Gespräch der beiden Männer in der U-Bahn beschäftigte sie sehr und sie fasste den festen Entschluss, sich niemals untersuchen zu lassen - was immer auch kommen würde! Lieber wollte sie in Ungewissheit leben, als vielleicht mit der Untersuchung ihr Todesurteil ausgesprochen zu bekommen. Plötzlich pochte ihr Herz heftiger, ihre Hände begannen zu zittern und sie fühlte sich genauso schlecht wie in den Nächten ihrer Kindheit, wenn der Sturm ums Haus pfiff, die Fensterläden an die Mauern schlugen und sie mit Grete zitternd in ihrem Bett lag und weit und breit keine Mutter zu hören oder zu sehen war ...
"Mach's gut, Linda und denk daran, er ist gefährlich." Evas Worte rissen Linda aus ihren Gedanken und sie schaute verstört in das Gesicht ihrer Kollegin. "Servus Linda, bis morgen", verabschiedete sich auch Rosa. Linda hatte die Zeit total übersehen und stellte mit einem Blick auf die Bürouhr fest, dass es bereits 17 Uhr war. Ihre Kolleginnen waren drauf und dran, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. "Ihr habt es gut", sagte Linda zu den beiden, "ich würde auch lieber gehen, als hier hocken bleiben." "Tu doch nicht so, ich seh' dir die Freude doch an. Einmal allein mit dem Chef und dann möcht' sie lieber daheim sein. Das kannst du mir nicht erzählen." Mit diesen Worten huschte Eva zur Tür hinaus. "Mach dir nichts draus, Linda. Sie wäre halt zu gern an deiner Stelle."
Noch ehe Linda etwas erwidern konnte, war auch Rosa gegangen. Linda starrte zur Tür, hinter der ihre Kolleginnen soeben verschwunden waren und sie dachte an Evas Worte. Was die nur immer hat, ich soll aufpassen, weil er gefährlich wäre. Das ist doch zum Lachen, mir kann keiner mehr so schnell gefährlich werden. Freilich wusste sie, dass Eva ihren Chef besser kannte, wo Eva doch schon um einige Jahre länger in dieser Firma beschäftigt war. Linda hatte mit ihm bislang nur rein geschäftlich zu tun gehabt. Außer einigen Diktaten und der täglichen Bürotätigkeit gab es zwischen ihnen keinerlei Kontakt. Und doch, Linda dachte plötzlich daran, wie er sie vorige Woche zu sich ins Büro hatte kommen lassen und sie gefragt hatte, ob sie einen Freund hätte, und dass sie zum Alleinsein viel zu hübsch wäre. Da hatte sie sich irgendwie geschmeichelt gefühlt und doch - sie nahm sich vor, heute besonders kühl zu ihm zu sein. Ihre Gedanken schweiften kurz zu Georg und sie dachte daran, wie alles mit ihm begonnen hatte, wie sehr sie ihn geliebt hatte und wie sehr sie dann von ihm enttäuscht worden war.
"Mich kriegt keiner mehr irgendwohin! Schon gar nicht ins Bett ..."
Dann dieser Abend
Einige Zeit später stand der Chef bei ihr im Büro. Er war guter Laune, das Geschäft schien durchaus erfolgreich abgelaufen zu sein. Nachdem Linda alles niedergeschrieben hatte, hatte ihr Chef darauf bestanden, sie zum Abendessen einzuladen. Ihr anfängliches "nein, sie könne nicht, weil ihre Schwester zu Hause auf sie warten würde und sie außerdem nicht entsprechend gekleidet wäre", ließ er nicht gelten und sosehr sich Linda auch gegen diese Einladung gesträubt hatte, es nützte alles nichts, er ließ nicht mehr locker, bis sie endlich zustimmte. So saßen sie nun bereits seit einiger Zeit in dieser gemütlichen Nische.
Das Lokal war erstklassig und nur wenige Gäste waren außer ihnen anwesend. Die Atmosphäre wirkte angenehm beruhigend auf Linda, das Essen hatte ihr ausgezeichnet geschmeckt, der Sherry als Aperitif und die zwei Gläser Rotwein, die sie dazugetrunken hatte, verbreiteten ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit in ihr. Das Licht der Tischkerze spiegelte sich in den kunstvoll geschliffenen Gläsern und im schweren Silberbesteck. Die Teller, Töpfe und Tassen waren aus getöntem Porzellan, die Polstersessel mit Samt überzogen. Vom Plafond hing ein riesiger Luster und warf seinen Schein auf Linda und ihren Begleiter. Schwere goldfarbige Vorhänge waren am Eingang zu ihrer Nische angebracht und ließen nur einen Spalt offen. Irgendwoher drang dezente Musik an Lindas Ohr. Der Ober war soeben damit beschäftigt die Reste des vorzüglichen Mahles abzuservieren.
"Was meinen Sie, Linda, sollen wir uns noch eine Flasche Schampus zum Abschluss vergönnen?" Er lächelte ihr zu und wartete erst gar nicht ihre Antwort ab. "Ober - bringen Sie uns eine Flasche Champagner! Aber vom besten!" Wenig später brachte der Ober das Gewünschte, entkorkte die Flasche blitzschnell und nachdem der Chef sein O.k. dazu gegeben hatte wurden zwei hochstielige Gläser damit gefüllt. "Auf Ihr Wohl Linda und danke, dass sie so nett waren und mir die Niederschrift noch gemacht haben!" Vorsichtig nippte Linda an ihrem Glas, während ihr Chef kräftig zulangte und mehrmals sein Glas auf Ihr Wohl erhob.
"Sehen Sie, so war das damals. Ich hab Glück gehabt, dass die Ehe meines Chefs kinderlos geblieben ist und er mich doch anscheinend irgendwie mochte. Das war wohl letztlich der Grund, warum er mir später die Firma vermacht hat."
Linda saß zurückgelehnt da und hörte zu wie er von seiner Kindheit und Jugend erzählte. Dass er als Kind armer Leute geboren wurde und nur mit ach und krach die Grundschule geschafft hätte. Er erzählte ihr, wie er mit 14 Jahren als Hilfsarbeiter auf einem Bau schuften musste und nur durch Zufall die Lehrstelle bei seinem späteren Gönner bekommen hatte, weil dieser einen kräftigen Burschen suchte und ihn vom Bau weg in seine Firma holte. Auch sagte er Linda, dass sein Chef nicht gerade zimperlich mit ihm umgesprungen sei und er öfters Ohrfeigen von ihm bekommen hatte, wenn er nicht dessen Vorstellungen entsprochen hätte, und dass er nicht nur einmal vorhatte, abzuhauen, aber letztlich doch immer wieder zu feige dazu war.
"Und es hat sich gelohnt, dass ich geblieben bin, denn jetzt geht es mir gut, oder?" Der Mann neben Linda lachte und leerte mit einem tiefen Zug sein Glas. Er rieb sich seine klobigen Hände und die Goldkronen in seinem Mund blitzten im Licht des Lusters. "Ich hab alles Versäumte aus Kindheit und karger Jugend später ausgiebig nachgeholt und brauch' jetzt auf nichts mehr zu verzichten."
Es folgte eine kurze Pause, in der er Linda anstarrte. War es der schon reichlich genossene Alkohol oder das Bewusstsein seiner letzten Worte - jedenfalls veränderte sich sein vorher so harmlos scheinendes Wesen mit einem Schlag. Linda bemerkte die Begierde mit der er seine Blicke über ihren Körper gleiten ließ. Dann nahm er die Flasche, schenkte beide Gläser voll, schob eines davon Linda hin, ergriff selbst das andere. "Komm, Linda, wir wollen Bruderschaft trinken! Du bist genau der Typ Frau, der mich erregt."
Linda griff zögernd zum Glas, irgendwie widerstrebte ihr das ganze und doch. Wenig später klirrten die Gläser und schon spürte sie seine Lippen auf den ihren. Nach einem kurzen Kuss wollte sie sich ihm entziehen, aber es blieb beim Wollen. Er hatte ihren Kopf mit beiden Händen gefasst und presste seine Lippen viel länger, als ihr lieb war, auf ihren Mund. Keuchend schnappte er gleich darauf nach Luft. Ihre Nische lag etwas abseits, der Ober war soeben wieder gegangen und so konnte sie niemand sehen.
"Linda, du musst mich erhören! Du allein fehlst mir noch zu meinem Glück!" "Aber wir können doch nicht ..." "Was sollen wir nicht können? Alles können wir, wenn wir nur wollen! Ich bin ledig und frei und du ebenso und selbst, wenn dies nicht der Fall wäre, warum sollten wir uns nicht lieben dürfen? Hast du denn noch immer nicht bemerkt, wie verrückt ich nach dir bin?" Heftig kamen diese Worte aus seinem Mund, und erregt ergriff er Lindas Hände. "Ich könnte dich sehr verwöhnen, wenn du nur endlich ja sagen würdest."
Erst jetzt wurde Linda klar, worauf sie sich eingelassen hatte. War also doch das eingetroffen, vor dem sie Eva gewarnt hatte. Hätte sie doch nur darauf bestanden, sofort nach der Arbeit nach Hause gehen zu können. Hätte sie dafür irgendeinen Vorwand, irgendeine Ausrede hergenommen. Aber er war im Büro so zurückhaltend und harmlos gewesen und hatte damit ihre Bedenken zerstreut. Sie wäre nie und nimmer mitgegangen, wenn sie auch nur geahnt hätte, was auf sie zukommen würde. Die nette Atmosphäre, das köstliche Essen, der gute Tropfen, seine Redseligkeit und sein ungezwungenes Benehmen waren wohl die Basis für seinen hinterhältigen Plan gewesen. Er hatte dies alles genau so gewollt, hatte ihr eine Falle gestellt, die er nun zuschnappen ließ. Und sie wusste momentan kein Gegenmittel, war ratlos und fühlte sich ihm ausgeliefert. Zu sehr hatte er sie mit diesen Vorschlägen überrumpelt und sie saß da und brachte kein Wort über ihre Lippen.
Er hielt ihr Schweigen scheinbar für eine Zustimmung.
"Komm, Linda, lass uns aufbrechen! Ich kann es kaum noch erwarten, dich in meine Arme zu nehmen. Du wirst es nicht bereuen und ich werde dich sicher nicht enttäuschen." Seine Augen funkelten wie die Lichter eines Wolfes, der knapp davor stand, seine Beute zu zerfleischen. Schwer ging sein Atem und Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Linda hatte plötzlich Angst. Alles an diesem Mann signalisierte ihr Gefahr und sie erinnerte sich wieder an jenen Abend, an dem sich der Lokalbesitzer auf sie gestürzt hatte und sie wehrlos seine Attacken über sich ergehen lassen musste. Sie spürte wie damals den heißen Atem eines zu allem entschlossenen Mannes, sie sah die Gier in seinen Augen und vernahm seine fordernden Worte. Und doch: Irgendwie fühlte sie sich plötzlich sexuell erregt. Verwirrte womöglich der Alkohol ihre Sinne, weil sie ja doch schon einige Gläser geleert hatte oder war es die Nähe dieses Mannes, die das Verlangen nach einem solchen Wesen in ihr immer stärker werden ließen?
Noch während sie wie in Trance an seiner Seite das Lokal verließ, wusste sie, dass sie wahrscheinlich keine Kraft mehr für ein "nein!" aufbringen würde.
Wenig später umklammerte sie der Sitz im Wageninneren und sie spürte plötzlich ein starkes Verlangen nach so einem Kerl und erschauderte wohlig, als er seine Hand zwischen ihre Schenkel gleiten ließ...
Schon brauste er mit ihr durch die nächtlichen Straßen und es hätte ihr nichts ausgemacht, hätte er an einer dunklen Stelle angehalten und sich auf sie gestürzt. Weit zurückgelehnt saß sie in diesem herrlich weichen Sitz, hielt die Augen geschlossen und ließ seine immer intensiver werdenden Liebkosungen willig über sich ergehen. Je weiter er ihren Rock nach oben schob und je tiefer er mit seiner Hand zwischen ihre Schenkel fuhr, desto lustvoller empfand sie das ganze und sie spürte deutlich, dass es kein Zurück mehr gab ....
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Spannend wird die Sache auf alle Fälle und Linda kommt in gefährliche Turbulenzen, die sie an den Rand des Abgrunds geraten lassen...