"Du bist am Zug." "Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken ganz wo anders." "Dann wirst du die Partie aber kaum gewinnen!"
Mein Arbeitskollege Hans und ich saßen nach Mitternacht bei einer Schachpartie. Unsere zwei Pflichtrollen hatten wir fertig getastet und wir ließen die Nachtschicht wieder einmal mit einer Schachpartie ausklingen. Hans war mein Lehrmeister am Monotype-Taster gewesen und er hatte mich ein Jahr lang an dieser Spezial-Setzmaschine ausgebildet. Ich bewunderte diesen Mann, denn er vereinte in sich Eigenschaften wie Präzision, Geduld, Vernunft, Logik, Ausdauer und Gewissenhaftigkeit. In den vier Jahren, die wir im Teamwork manchmal gemeinsam in einer Schicht, dann wieder jeder zu einer anderen Zeit an der Herstellung von Büchern, Zeitschriften, Kalendern, riesigen Tabellen etc. arbeiteten, hatte mir mein Kollege nicht nur das nötige Fachwissen vermittelt, sondern ich hatte mir dabei auch einen Teil seiner vorhin genannten Eigenschaften angeeignet. Aus einem übermütigen Luftikus, bei dem vor allem alles blitzartig vor sich gehen musste, war ein Setzerkollege in mir herangewachsen, der gewissenhaft die von ihm verlangte Arbeit zu erledigen verstand. Das hatte ich Hans zu verdanken und wohl auch dem mir angeborenen Ehrgeiz, leistungsmäßig in jenen Bereichen Spitze zu sein, an denen mir etwas lag.
Mit diesem Schritt hin zu einem verlässlichen Arbeitskollegen nahm ich Abschied von meiner einstigen Flatterhaftigkeit. Hatte ich bis jetzt mein Handeln zum Großteil nach meinen Gefühlen ausgerichtet und mich nur widerwillig in eine unbedingt notwendige Lebensordnung hineinzwängen lassen, so verabschiedete ich mich von jenen Eigenschaften, die mir das Leben bis jetzt so lebenswert erscheinen ließen. Ich verlor meine einstige Unbekümmertheit und ein großes Stück meiner Freiheit ging im gleichen Maße verloren, mit dem die Ernsthaftigkeit in mir zunahm.
Irgendwann verspürte ich den Wunsch, mehr aus meinem Leben zu machen, als nur planlos in den Tag hinein zu leben und irgendwie erfasste mich wohl auch das Bedürfnis, ein Ziel anzusteuern, ohne mir jedoch über die Art dieses Zieles im klaren zu sein. Meine damalige Freundin, besser gesagt, meine Verlobte, denn wir waren bereits so gut wie verlobt, ohne dies jemals in einer Zeremonie vollzogen zu haben, mochte wohl den Ausschlag dafür gegeben haben. Wir wohnten im Haus meiner Tante, die ihre Tochter durch einen tragischen Autounfall verloren hatte.
Bei diesem schrecklichen Unfall verspürte ich zum ersten Mal in meinem Leben so etwas wie Schicksal, wie Lebensbestimmung und ein Schatten vom Dunkel, das uns Menschen beizeiten überfällt, fiel auf mich. Irgendwie fühlte ich mich bedroht, irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, dass meinem Leben Grenzen gesetzt würden und dass es nicht allein in meiner Macht lag, wie mein Leben verlaufen sollte. Meine Cousine hatte wohl ein Stück meiner Blauäugigkeit dem Leben gegenüber mit in ihr Grab genommen.
Weil auch meine Freundin von ernsthaftem Wesen war und die ihr vorschwebenden Ziele stets mit Energie verfolgte, deshalb entschloss auch ich mich, etwas vom Gaspedal meines Lebensautos zu steigen, bzw. meine Verlobte stieg behutsam auf die Bremse, weil ich bis dahin ja doch meistens mit Vollgas durch meine sorglose Welt geprescht war.
Dieses Mädchen brachte mich schließlich soweit einen Fernkurs zur Erlangung der Matura zu belegen und ich war fest entschlossen, dieses Ziel auch zu erreichen. Ein Wunder war geschehen: Ich, der stets mit großem Widerwillen am schulischen Pauken teilgenommen hatte, der Hausaufgaben entweder nicht gemacht oder erst beim Schulfahren im Zug abgeschrieben hatte, ich unterzog mich plötzlich freiwillig einer mehrjährigen Paukerei neben meiner Arbeit als Schriftsetzer. Vorbei waren damit die unzähligen Kinobesuche, vorbei das Herumlungern in Cafes mit Freunden, vorbei des Nachpfeifen hinter manchem Weiberrock. Tagsüber büffelte ich Latein, Mathematik, Englisch und Deutsch, ab dem späten Nachmittag saß ich bis weit nach Mitternacht hinter meiner Setzmaschine. Doch nach über zwei Jahren in dieser neuen Enge meines Daseins geschah etwas anderes.
"Ich werde kündigen!" Erstaunt sieht mich mein Arbeitskollege an: "Was hast du gesagt?" "Kündigen. Ich muss weg. Ich brauch eine Luftveränderung. Ich schaff's einfach nicht mehr! Die ständige Nachtschicht, das Strebern am Tag." "Halt durch, Junge! Jetzt hast du es beinahe drei Jahre durchgestanden." "Ich kann nicht mehr! Es ist sinnlos. Ich will wieder leben, ich muss wieder unter andere Menschen kommen, ich brauche ein anderes Betätigungsfeld." "Mach keinen Unsinn! Du kannst es bei uns weit bringen und arbeitest ja jetzt bereits öfters als Korrektor. Mit der Matura stehen dir auch bei uns alle Türen offen." "Ich bin müde, Hans, müde und ausgelaugt. Ich brauche wieder meine Freiheit. Mit meiner Freundin bin ich auch beinahe am Ende. Ich muss gehen ..."
Und ich ging. Ging von jener Firma, in der ich meine Jugendzeit verbracht hatte und sagte all meinen Freunden und Kollegen ade mit denen mich ein Lebensabschnitt verbunden hatte. War es bereits damals so etwas wie Bestimmung, immer wieder gehen zu müssen? Warum schmiss es mich in meinem Leben immer kurz vor dem Ziel aus der Bahn, oder wollte ich womöglich gar nie an ein endgültiges Ziel kommen - weil ich nichts mehr hasste als Eintönigkeit und Endgültigkeit?
So wie beinahe jeder Mensch hatte auch ich die Wahl. Damals, in den ersten Jahren meines Erwachsenendaseins.
Wenn ich zurückdenke, dann kommt es mir heute so vor, als wären drei Lose vor mir auf dem Tisch gelegen - ein rotes, ein grünes und ein blaues. Ich überlegte kurz und ergriff das Mittlere. War ich der Steuermann oder wurde für mich entschieden?
***
Meine Frau war ein bildhübsches Mädchen von etwa 17 Jahren, als ich auf sie aufmerksam wurde, und die Burschen des Ortes hatten wohl alle den gleichen Gedanken wie ich, wenn sie diesem Mädchen nachblickten. Dass letztlich ich derjenige sein sollte, der das, wie ich damals meinte, bessere Ende für sich hatte, das mag wohl daran gelegen haben, dass ich mit meinen 25 Jahren doch schon etwas erfahrener im Umgang mit weiblichen Wesen war, als meine Mitbewerber, relativ gut aussah und mich zudem ein gewisses Großstadt-Flair umgab, weil ich beruflich in der Stadt tätig war und nur zu den Wochenenden in mein Heimatdörfchen gefahren kam. Und das auch erst ab der Zeit, als ich anfing, mich für dieses temperamentvolle weibliche Wesen zu interessieren. Sie war die Tochter jenes Wirtes, bei dem wir Burschen viele Stunden unserer Freizeit am Stammtisch verbrachten und wo wir auch manchmal kräftig über den Durst tranken, nicht unbedingt zimmerreine Witze erzählten, Karten spielten oder uns mit allerlei dummem Gerede die Zeit totschlugen.
Als ich dieses Mädchen näher kennen lernte hatte ich mich soeben von meiner langjährigen Freundin getrennt, weil sie die Schlinge immer enger um mich gezogen hatte und ich mich für die Ehe noch nicht reif genug fühlte, und so sprang ich vom bereits anfahrenden Zug im letzten Moment wieder ab. Ich wollte nach einigen Jahren enger Zweisamkeit wieder meine Freiheit genießen und natürlich wollte ich auch wieder frei für andere weibliche Wesen sein. Die hübsche Wirtstochter hat bei diesen Überlegungen wohl bereits sehr stark mitgespielt, denn dass dieses anziehende Wesen irgendwann in meinen Armen landen würde wurde mir immer bewusster, je öfter wir uns sahen, und schon sehr bald kamen wir uns merklich näher. Der Reiz für diese Eroberung wurde bei mir noch verstärkt, weil sich alle anderen Jungs anscheinend vergeblich um ihre Gunst bemühten, obwohl sie tagtäglich wegen ihr ins Gasthaus kamen, wo die hübsche Maid ausschenkte.
Ihre Eltern waren erzkonservativ und sie wachten streng über das Tun und Lassen ihrer drei Töchter. Was in diesem Gewerbe eine Ausnahme darstellt, weil ein Dorfwirtshaus ja kein Kloster ist und die täglich darin verkehrenden Zechbrüder andere Gedanken und Worte verwenden als Betbrüder. Deshalb wurde der Apfel sehr schnell reif und schrie förmlich danach, gepflückt zu werden. Da half auch die beste Aufsicht der Mutter nicht mehr, da konnten noch so viele Verbote den Lauf der Natur nicht bremsen. Ich wusste das und beeilte mich, bevor sich womöglich in meiner Abwesenheit noch ein anderer die "süße Frucht" vom Baum holen konnte.
Ich warf alle meine Vorsätze über den Haufen. Sie war alles, was ich wollte! Mit 18 war sie schwanger, mit 19 Jahren bereits ein halbes Jahr mit mir verheiratet. Das hübscheste Mädchen im Ort war meine Frau geworden. Ich Glücklicher! Und mein Traum von der Freiheit? Der war mit diesem Tun geplatzt, noch ehe er in mir richtig Platz gefunden hatte.
Der Pfarrer kannte uns beide gut, handelte es sich doch um eine kaum tausend Seelen zählende Gemeinde, in der wir getraut wurden.
"Und nun zu dir: Willst du die hier neben dir stehende Braut zu deiner Frau machen, ihr in guten wie in schlechten Tagen treu und hilfsbereit zur Seite stehen, bis dass der Tod euch scheidet, dann sage ja!"
Mit leuchtenden Augen stand ich am Altar und laut und deutlich hörbar kam das "Ja" aus meinem Mund.
Da schwören doch tatsächlich immer wieder junge Menschen ewige gegenseitige Liebe und Treue, haben die besten Vorsätze für ihr Eheleben und glauben daran, dass es immer so sein würde und ihr Glück immerwährend wäre, ohne auch nur zu ahnen, was alles an Problemen, Störungen und Verlockungen mit den Jahren auf sie zukommt. Mein Treueschwur sollte halten, meine Frau sollte auf mich, auf meine Liebe zu ihr und auf meine Treue bauen können - davon war ich felsenfest überzeugt, als wir uns die Ringe gegenseitig an die Finger steckten.
Nie und nimmer hätte ich damals gedacht, dass es auch mich einmal mit diesem Virus erwischen könnte, der die Ehen nach und nach und immer öfter zerstört. Doch zu meiner Entschuldigung für mein sicherlich missliches Verhalten: Unsere Ehe hielt zumindest 15 Jahre gut bis sehr gut, ehe mir das Schicksal dieses Wesen in mein Leben schwemmte ...
Es soll wahrlich keine Ausrede sein - doch wenn ich heute darüber nachdenke, wie mein Dasein letztlich verlaufen ist, dann denke ich immer öfter an Bestimmung - und dass ich ganz einfach keine Chance hatte, anders zu handeln!
Losentscheid? Oder doch Bestimmung? Doch wer bestimmt, wer ist der Steuermann auf unserem Lebensschiff ...?