Keinen einzigen wirklich Alten lässt es vermutlich kalt, dieses Denken an sein Ende. Irgendwann ist es nämlich so weit, und glücklich die, die es zu einer Zeit erwischt, wo sie sich noch so gut wie keine Gedanken dazu machen mussten. Ans Sterben und daran, was danach mit ihnen geschieht.
Wir kennen alle die verschiedensten Arten zu sterben und sich von dieser Welt zu verabschieden:
Schnelle Tode durch Unfälle oder durch eine missglückte Operation, einen plötzlichen Herztod. Dann die nicht so schnellen Verabschiedungen aus dem Leben durch eine schwere Krankheit mit Todesfolgen, wie dies ein längeres Krebsleiden zur Folge hat, oder wenn ein lebenswichtiges Organ dem Besitzer nach und nach seinen Dienst verweigert. Auch den Tod durch Altersschwäche kennen wir, wenn das Leben allmählich erlischt wie ein Kaminfeuer, in das man keine Holzscheite mehr legt.
In den Pflegeheimen siechen Hunderttausende ihrem Ende entgegen, oftmals nicht einmal mehr in der Lage, daran zu denken, was danach mit ihnen geschehen wird. Und wir kennen alle die bei uns gängigsten Arten der letzten Reise auf dieser Erde, entweder im Sarg liegend und auf das Begräbnis wartend, bei dem dieser Sarg etliche Fuß zumeist für immer in der Erde verschwindet, um dort allmählich zu verfaulen. Immer öfter lassen sich jetzt Menschen verbrennen und die Asche danach in einer Urne irgendwo hinterlegen oder vielleicht sogar in alle Winde zerstreuen. Auch das habe ich schon erlebt, weil es der letzte Wunsch des oder der Toten war, auf diese Weise in den Leib der Mutter Erde aufgenommen zu werden.
Was wir jedoch nicht kennen und was dennoch jeder von uns liebend gerne wissen möchte, darüber soll die nachfolgende Story ein bisschen Auskunft geben, behandelt sie doch das "danach" und was nach unserem Abgang von der Bühne eines Menschenlebens alles mit uns geschehen könnte.
Beinahe jede Glaubensgemeinschaft und jede Kultur hegt ihre eigenen Ansichten zu diesem Ableben und Vergehen. Einige glauben an Wiedergeburt, manche an ein Erlöschen in jeder Hinsicht, wieder andere an ein Weiterleben allein der Seele. Doch all diese Meinungen sind letztlich nur auf Vermutungen aufgebaut, und niemand kann wirklich hieb und stichfest behaupten, wie die Sache tatsächlich aussieht. Obwohl es immer wieder Menschen gibt, die bereits "drüben" waren im Reich der Toten und die letztlich durch glückliche Umstände doch wieder ins Leben zurückgeholt wurden. Wobei manche dieser Zurückgeholten verkünden ließen, dass sie keinesfalls allzu glücklich über dieses Zurückholen in die Welt der Lebenden gewesen wären. So hört man jedenfalls hin und wieder. Und beinahe alle dazu Befragten hatten die gleiche Antwort auf ihren Lippen:
"Da war eine Art Tunnel, durch den ich schritt, und dann sah ich dieses Licht vor mir, ganz zart zuerst, doch mit jedem Schritt nach vorne wurde es heller."
Mehr konnten oder wollten diese wieder ins Leben zurückgeholten Menschen dazu jedoch nicht sagen. Wie sollten sie auch, war doch noch keiner am Ende des Tunnels angelangt, und jeder dieser Befragten sah das Licht nur aus der Ferne leuchten. Sollte es deshalb auf ewig ein Geheimnis bleiben, was nach dem Tod mit uns geschieht? Und noch etwas: Immer wieder vernimmt man von Geistern, die aus dem Jenseits zu diesem oder jenem sprechen, und wo diese Geister mitunter sogar üble Scherze vor allem mit ihren Nachkommen treiben. Das kennen wir alle aus der Literatur, ich denke da nur an das Stück von Oscar Wilde mit dem "ghost of Canterville" oder ähnlichen Werken, in denen Gespenster vorkommen, die speziell um die Mitternacht in Schlössern oder auf Friedhöfen ihr Unwesen treiben.
Die bei uns gängigste Ansicht zu einem Weiterleben nach dem Tod bestand lange Zeit darin, den Menschen weiszumachen, dass es Himmel und Hölle und auch eine Art Fegefeuer geben würde. Für die Guten den Himmel, die Bösen müssten in der Hölle schmoren und für all jene, die zwischen "gut" und "böse" liegen, die hätten eine Chance, ihr zum Teil sündhaftes Erdendasein durch ein nicht allzu wohltuendes Fegefeuer reinfegen zu lassen. Kürzer oder länger, je nach der Schwere ihrer Sündhaftigkeit. Und dass letztlich das "Jüngste Gericht" darüber tagen und entscheiden würde, welche der drei Einrichtungen die passende sei.
Von diesem Jüngsten Gericht handelt die folgende Geschichte.
***
"Das ist alles, was Sie zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen haben?"
"Ja, Euer Ehren! Ich weiß, dass ich viel gesündigt habe und bitte Sie dennoch, auch alle meine guten Taten nochmals auf die Waage zu legen!"
"Das geschieht bei uns automatisch. Nichts wird beschönigt, nichts geht verloren und jede, aber auch jede Ihrer Taten ist gespeichert - ob sie nun gut war oder schlecht - und einzig das entscheidet letztlich, was mit Ihnen weiter geschieht."
"Aber ich hab doch so viele gute Taten begangen - und selbst als ich meine Frau mit dieser oder jener Lady betrogen hab, selbst da dachte ich immer, dass es im Grunde genommen stets eine gute Tat war."
Der Vorsitzende im schwarzen Talar schüttelte den Kopf und blickte irgendwie erstaunt zum Angeklagten hin, an dessen einer Seite eine Frau saß. Handelte es sich womöglich um eine Art Verteidigerin?
Ich war erst kurz zuvor in diesen Saal eingelassen worden und musste mich an der Rückseite in eine Bankreihe setzen. Ähnlich Bankreihen wie sie in Kirchen vorzufinden sind. Auch der Saal hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Gotteshaus, stand der Vorsitzende doch auf einer Art Kanzel und blickte zum Mann in der ersten Reihe hin. Und wie in den meisten Kathedralen erhellten jede Menge Kerzen den Raum. Manche flackerten und manche brannten ruhig vor sich hin. Doch zum Unterschied von solchen Stätten des Glaubens, in denen es nicht selten kühl bis manchmal bereits unangenehm kalt ist, durchströmte mich hier vom ersten Augenblick an eine wohlige Wärme und das Licht, das durch die von Glasmalereien verzierten Fenster in den Raum fiel, war angenehm hell und tat meinen Augen gut. Meinen in den letzten Jahren meines Erdendasein oftmals schmerzenden Augen, wenn ich das Sonnenlicht zu grell empfand, meine Augen bei künstlichem Licht oftmals tränten und sie mir auch sonst kaum noch gute Dienste versehen hatten.
Aber jetzt - ich sah alles scharf und genau, sah den Vorsitzenden mit seinem wallenden weißen Haar und seinem markanten Gesicht deutlich vor mir. Sah wie er ein Buch zur Hand nahm und ähnlich einem Messbuch eine darin markierte Stelle aufschlug. Er schien zu lesen und sagte nach einer Weile:
"Vierzehn Mal haben Sie Ihre erste Frau betrogen und dreimal die zweite. Und Sie sind tatsächlich der Meinung, dass Sie dabei immer eine gute Tat begangen haben?"
"Das kann nicht sein! So oft, meine ich. Und überdies finde ich das Wort betrogen nicht passend. Ich hab meine Gattinnen vielleicht ein bisschen hintergangen oder musste dann und wann zu dieser oder jener Notlüge greifen, doch richtig betrogen habe ich wohl kaum jemals irgendwen in meinem Leben."
"Sie weichen meiner Frage aus. Ich wollte wissen, warum Sie der Meinung sind, dass Sie bei Ihren Ehebrüchen eventuell sogar gute Taten begangen haben."
"Sehen Sie, Euer Ehren, unsere sexuelle Situation plätscherte nach etlichen Ehejahren ja doch nur noch lau dahin und die einstige Lust, das Vergnügen und die Hochgefühle beim Sex mit meiner Frau waren nur noch in etwa so stark in mir vorhanden, vergleichbar mit einem Wasser, das einst rauschend und stürmisch im Bachbett seinem Ziel entgegensprudelte, das sich aber jetzt nur noch langsam und beinahe am Austrocknen über den Boden quält. Was ich bei meinen Seitensprüngen so gut empfand war die Tatsache, dass damit mein Bächlein wieder etwas anschwoll und dieses Anschwellen nicht nur mir, sondern auch meiner Gattin stets wieder neue Freuden brachte, weil ich ja nun auch mit ihr wieder mehr Lust in dieser Angelegenheit empfand. Das machten vielleicht diese neuen Gedanken aus, die mir dabei durchs Gehirn tanzten."
Der Vorsitzende schwieg und sein Blick richtete sich auf den Mann vor sich. Ein gütiger Blick, wie mir schien. Eigentlich erwartete ich jetzt ein Gegenargument von seiner Seite. Doch was geschah? Der Vorsitzende schien kurz nachzudenken, ehe er sagte:
"So sehen Sie das also?"
Dann richtete er das Wort an die neben dem Angeklagten befindliche Frau:
"Und Sie, was sagen Sie als Frau dazu?"
Die Lady schien überrascht zu sein, dass Sie dazu Ihre Meinung abgeben sollte. Als seine Verteidigerin wollte sie natürlich keine negative Färbung in die Angelegenheit bringen, wo sie doch bemerkte, dass der Vorsitzende anscheinend keine allzu negative Ansicht zu diesen Vergehen zu haben schien. Wenngleich - als Frau - und sie atmete kräftig durch ...
"Ich bitte um Ihre Meinung!", tönte es von der Kanzel.
"Vielleicht war es tatsächlich so wie das mein Mandant dargestellt hat. Vielleicht betrachtete er diese Vergehen als gute Taten, in der Meinung, nicht nur sich, sondern auch den betroffenen Frauen damit eine Art Freude zu machen. Wenngleich ...", und wieder zog sie die Luft tief in sich, "wenngleich ich hier meinem Mandanten gedanklich nicht ganz folgen kann, was seine Gattin anbelangt. Doch wenn diese Seitensprünge den sexuellen ehelichen Begehrlichkeiten tatsächlich zu mehr Farbe verholfen haben, dann könnte auch ich mir vorstellen, dass mein Mandant hier zumindest nicht gänzlich verwerflich gehandelt hat."
Der Vorsitzende blickte zu den beiden hin, überlegte kurz und schlug erneut eine Stelle in seinem Buch auf.
"Das werden wir gleich feststellen", und er lächelte beinahe unmerklich. Es folgte eine kurze Pause, während der sich der Vorsitzende über das Buch beugte, las und blätterte, ehe er nach einiger Zeit sagte:
"Na ja, als beständigen Lügner kann ich Sie nicht bezeichnen und, was die Sache zu Ihren Gunsten wendet, Lügen können manchmal sogar hilfreich sein, wogegen die nackte Wahrheit hin und wieder schrecklichen Schaden anrichtet! Mit beiden Dingen sollte man feinfühlig umgehen, und Sie scheinen das irgendwie geschafft zu haben, ohne sich über die Bedeutung vielleicht selbst gänzlich im klaren zu sein. In Ihrem Buch des Lebens scheinen jedenfalls keine allzu großen Vergehen in dieser Hinsicht auf."
***
Längst war die Verhandlung vorbei, ich war ja nur in dieser letzten Phase als Zuhörer mit von der Partie. Einer auch für mich interessanten Phase, hatte doch auch ich den einen oder anderen Ehebruch begangen. Ich überdachte meine Situation und war nicht so sicher, ob ich damit auch immer gute Taten vollbracht hatte. Zu oft musste ich dabei meine Frau ein bisschen belügen, und zu sehr hatte sie dennoch immer an meiner Treue gezweifelt und vielleicht unter ihrer Eifersucht gelitten. Irgendwie fühlte ich mich schuldig, obwohl - mir persönlich und meinem Ego hatten diese Taten immer gut getan und bestimmt auch meinen Gespielinnen der Lust, wenn ich das so respektlos hier sagen darf. Die waren nur immer enttäuscht, wenn die Sache geendet hatte, weil ich meine Ehe nicht gefährden wollte. Nie und nimmer! Das waren mir solche Seitensprünge doch wieder nicht wert und eigentlich hatte ich immer streng darauf geachtet, dass aus keinem meiner erotischen Ausrutscher jemals eine ernstere Sache wurde.
Bis dann eines Tages ..., und ich seufzte. Da hatte ich mich doch tatsächlich mit diesem Gefühl infiziert wie ein vormals Gesunder sich eines Tages mit einem todbringenden Virus infiziert. Ich hab zwar überlebt, doch meine Ehe ...
Warum zum Teufel hatte mir das Schicksal diese junge Geliebte über den Weg laufen lassen? Doch dann glitt ein Lächeln über mein Gesicht und ich verspürte mit einem Mal dieses Sprudeln in mir, das mich auch damals immer so erfreute und erregte: Anstatt irgendwo zu versiegen, hatte ich das Glück, einen Wasserfall hinunterstürzen zu können ...
Noch während ich an diese Dinge dachte wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, denn der Vorsitzende und seine zwei Schöffen, die ich erst jetzt so richtig bemerkte, weil sie immer nur still dagesessen hatten, zogen sich zurück zur Urteilsfindung. Ach ja, eines habe ich noch vergessen: Links vom Angeklagten saß, etwas entfernt auf einem gesonderten Stuhl, ein Mann, eine Art Staatsanwalt, der hatte in seinem Schlussplädoyer doch eine ganz andere Meinung zu dem Fall vertreten. Er sprach von schwerem Betrug und davon, dass außereheliche sexuelle Gelüste und Vergehen immer nachhaltiger die Ehen zerstören, und dass die Täter, sowohl weiblich als auch männlich, hart dafür bestraft gehörten. Streng klang seine Stimme, irgendwie blechern und auch sein Gesicht war kantig und kaum durchblutet, eher grau und starr, und seine Augen hatten einen stechenden Blick an sich und mich schauderte beim Gedanken, dass dieser Mann womöglich auch bei mir die Anklage durchführen würde.
Noch während ich mich mit diesen Gedanken beschäftigte, wurde ich aufgefordert, den Saal zu verlassen, durfte doch bei der Urteilsverkündung kein Fremder anwesend sein. Ich nahm im Vorraum Platz und harrte der Dinge.
Nach einiger Zeit ging die Tür auf und der Mann von vorhin erschien. Neben ihm ging seine Verteidigerin und beide schienen nicht unzufrieden mit dem zu sein, was sie vom Vorsitzenden letztlich erfahren hatten. Ich vernahm im Vorbeigehen der beiden etwas von:
"... zu den Nadelbäumen abkommandiert ..."
und fragte den Gerichtsdiener, der sich vor kurzem mit einer Wurstsemmel und einer Flasche Bier zu mir gesetzt hatte, weil er anscheinend eine Pause machen konnte, was das zu bedeuten hätte. Er schaute mich an, machte einen Bissen an seiner Semmel, kaute heftig und stülpte einen Schluck in seine Kehle nach. Bevor er zu sprechen begann ...
***
"Und Sie sind sicher, dass Sie sich nicht irren?"
"Ganz sicher!"
"Das ist ja ein Ding! An so etwas hätte ich niemals im Leben gedacht", und mein Mund wird wohl noch ein wenig offen gewesen sein vor Staunen.
"Ja, ja, wenn das die Menschen wüssten, dann würden sie wohl ein bisschen besser auf ihr Leben achten und darauf, was sie alles tun und lassen."
Der Gerichtsdiener versuchte seinem Gesicht einen bedeutenden Ausdruck zu verleihen, kratzte sich am Kopf, klopfte mir auf die Schulter und wünschte mir viel Glück für die Verhandlung.
"Ich muss jetzt wieder an die Arbeit."
Er stand auf und ging zur Tür, hinter der er verschwand. Ich blickte ihm nach und wusste nicht recht, was ich von all dem halten sollte, was er mir erzählt hatte. Doch warum sollte er etwas behaupten, was nicht so war, wo er doch schon zig Jahre hier verbrachte und sozusagen aus dem Hinterhalt die Urteile mitverfolgt hatte. Manchmal durfte er sogar in den Saal, um zuzuhören. Er war ja so etwas wie eine ständige Einrichtung bei diesem Gericht und deshalb störte es den Vorsitzenden nicht, wenn der Gerichtsdiener gelegentlich bei der Urteilsverkündung anwesend war. Irgendwo hinten im Saal sitzend und unscheinbar wie der alte Kasten, der im Eck stand und worin er einige persönliche Utensilien aufbewahrte - seinen Mantel oder seine Kappe, die Winterstiefel.
Er hatte schon viel erlebt bei diesen Urteilsverkündigungen: Weinen und lachen, jammern und flehen, sich freuen und sogar Freudensprünge hatte er schon miterlebt. Aber die gab es eher selten, viel öfter schlichen die Angeklagten mit hängenden Köpfen aus dem Saal. Auch einst bedeutende Staatsmänner hatte er schon um Gnade flehen gehört und auch Betbrüder, bei denen er angenommen hatte, dass sie zumindest in die Reihe der Vögel aufgenommen und nicht zu den Stechmücken abkommandiert würden. Ein ganz arger Typ wurde einmal zu den Klapperschlangen beordert, Meuchelmörder wurden für gewöhnlich zu schleimigen Würmern verdonnert. Aber er hatte auch Nonnen erlebt, die ab nun ein Schmetterling-Dasein führen durften und die ob dieser Nachricht freudestrahlend aus dem Saal gekommen waren. Auch in Gräser oder Blumen wurden immer wieder welche verwandelt. Manche in wunderbar blühende Gewächse, dann gab es wieder welche, die mussten ihr zukünftiges Dasein als unscheinbare Stauden verbringen, die kaum eine Chance hatten, ungefressen davonzukommen, ebenso wie Disteln, die ja Eseln besonders gut schmeckten. Doch wenn sie Glück hatten und ihre Samen auf fruchtbaren Boden fielen, dann würden sie auch nach dem Gefressen-Werden noch weiterleben können.
Noch während ich an diese Worte des Gerichtsdieners dachte, öffnete sich die Tür und ich wurde in den Saal beordert. Wo würde ich landen? Bei den Tieren oder bei den Pflanzen, wurde ich verurteilt zum Gefressen-Werden oder konnte ich mich auf ein Kolibri-Dasein freuen, oder zumindest auf das eines Käfers? Oder war der Vorsitzende der Meinung, dass ich bis ans Ende aller Zeiten mein Dasein bei den Schlangen fristen müsste? Nein, da kamen wohl doch andere dafür in Frage. Bei den Fischen würde es mir wesentlich besser gefallen, ich müsste ja kein Hai werden, mir würde eine dieser vielfältigen bunten Arten sehr gefallen, die sich für gewöhnlich um Korallen scharen.
Mein Herz pochte um einiges schneller, als mir der Vorsitzende mit einem Handzeichen aufforderte, Platz zu nehmen. Was mir auffiel - für mich gab es anscheinend keinen Verteidiger, einzig der Staatsanwalt war anwesend. Zum Glück jedoch ein anderer als der von vorhin. Der Vorsitzende hatte wiederum ein großes Buch vor sich liegen; und die Verhandlung begann.
***
"Wir machen eine kurze Pause, Sie können sich ein bisschen erholen und im Büffet stärken, ganz, wie es Ihnen beliebt!"
Der Vorsitzende erhebt sich, sagt ein paar kaum vernehmbare Worte zu seinen beiden Schöffen und verlässt den Saal durch eine Hintertüre. Einiges war anders als bei der Verhandlung zuvor. Nicht nur, dass ich keinen Verteidiger zur Seite gestellt bekam, der Vorsitzende war zwar der Gleiche, doch er saß mir direkt gegenüber an einem Tisch bei den Schöffen, während er bei der Verhandlung von vorhin sich auf der Kanzel befunden hatte. Ich dachte noch an die vielen Fragen und an meine Antworten bezüglich der Vorkommnisse in meiner Kindheit und Jugendzeit und es tat mir gut, jetzt eine Pause einlegen zu können, bevor Sommer, Herbst und Winter meines Lebens behandelt wurden. Ich stand auf, ging zur Tür und weiter in Richtung Büffet, das in einem Nebenraum untergebracht war. Doch ich war noch nicht ganz an der Türe angekommen, da kam mir der Gerichtsdiener entgegen.
"Wie läufts?"
Er blickt mich neugierig an. Ich bleibe stehen, denke kurz nach und antworte:
"Ich war ein sehr lebhaftes Kind und daraus entstanden natürlich etliche brenzlige Situationen, vor allem, was den Umgang mit den Lehrkräften, aber auch mein Verhalten gegenüber meinen Eltern und zu anderen Personen meiner unmittelbaren Umgebung betrifft. Doch der Vorsitzende hatte anscheinend Verständnis und musste öfters sogar über meine Streiche lächeln."
"Erzählen Sie mir ein bisschen!"
Der Gerichtsdiener schien mich irgendwie zu mögen, zeigt zu einer Sitzbank im Eck und fordert mich auf, mit ihm dorthin zu gehen.
"Ich habe aber nur ein kleine Pause", antworte ich, "und muss in einer halben Stunde wieder im Saal sein".
"Ich weiß", sagt der Gerichtsdiener, "ich will Ihnen nur kurz ein paar Worte dazu sagen. Bei der Kindheit und Jugend drückt der Vorsitzende immer die Augen ein wenig zu. Da wird das Leben ja vielfach von anderen bestimmt, ohne viele Möglichkeiten an Eigenständigkeit zu haben. Die meisten Menschen sind in dieser Phase ihres Daseins ja Instrumente in der Hand der anderen. Aber jetzt dürfte es spannend werden. Überlegen Sie sich gut, was Sie zu all dem sagen, was jetzt auf Sie zukommt! Und noch etwas: Bleiben Sie bei der Wahrheit, Ausreden und Schönfärben bringen nichts. Das mag der Chef überhaupt nicht!"
Ich bin froh, dass mir der Mann ein paar Tipps gibt und will wissen, wie es weitergehen würde.
"Kommt ganz darauf an, wie viele Schwerpunkte aufs Tapet gebracht werden. Schwerpunkte, die darüber entscheiden, wo Sie letztlich landen werden. Bei den Raubtieren oder bei den Beutestücken, den Pflanzen oder im Wasser bei den Fischen. Auch zu Steinen wurden schon etliche verwandelt. Vor allem diejenigen, die es allzu bunt mit den Mitmenschen getrieben haben, die sind sozusagen zu ewiger Starrheit verdammt worden. Bis sie zerfallen am Ende allen irdischen Seins oder zu Erde oder Staub werden.
"Um Himmels Willen! Das gibt es wirklich?"
"Ja, ja ..."
Der Gerichtsdiener legt eine kurze Pause ein und blickt mich nachdenklich an.
"Aber bei Ihnen habe ich ein gutes Gefühl. Ich hab schon einen Blick dafür bekommen in all den Jahren, was am Ende zu erwarten ist. Da habe ich sozusagen einen sechsten Sinn dafür. Und wenn Sie es nicht allzu heftig mit Lügen, Betrügen und einem negativen Verhalten Ihren Mitmenschen gegenüber und auch gegenüber der Natur, den Tieren, Pflanzen und allem, was die Erde so an sich hat, getrieben haben, dann können Sie zumindest hoffen, nicht zum Ungeziefer oder zu kurzlebigen Beutetieren abkommandiert zu werden. Wenn Sie Ihr Leben vor allem in der Endphase demutsvoll und reumütig gelebt haben, dann tritt vielleicht auch bei Ihnen der Fall ein, dass Sie der Vorsitzende selbst entscheiden lässt, wo Sie letztlich landen wollen. Und manchmal verteilt er auch Lose. Ein rotes, ein blaues und ein grünes. Vor allem bei Menschen, die schicksalhaft gelebt haben und denen er nun die Chance gibt, selbst über ihr weiteres Dasein entscheiden zu können. Zwei davon sind gut, eines bringt Sie eher in eine bedenkliche Zukunft. Auch das gibt es immer wieder. Doch jetzt will ich Sie nicht mehr länger aufhalten, stärken Sie sich und denken Sie daran: Keine Lügen, keine Ausflüchte, kein Bagatellisieren Ihrer Vergehen. Zeigen Sie sich einsichtig und schuldbewusst! Vergessen Sie aber nicht, auch Ihre guten Taten richtig ins Licht zu stellen - ohne Übertreibungen und ohne Selbstbeweihräucherung. Denn Eigenlob hasst der Vorsitzende und auch die Selbstgefälligkeit und die Ichsucht! Da hab ich bereits Dramen erlebt, wo manche protzig in den Saal stapften, und nach Stunden wie geprügelte Hunde herausschlichen ..."
***
"Sie haben also die Menschen gehasst und auch sich selbst und Ihr Leben nicht sehr lebenswert empfunden? Warum?"
Es war zum ersten Mal, dass ein Schöffe sich in die Verhandlung einmischte. Die zwei Männer saßen ansonsten nur still da und hörten aufmerksam zu. Doch jetzt schien zumindest der Eine besonders hellhörig zu werden.
"Ich hasste nur jene, die immer wieder versucht haben, anderen Lebewesen Schaden zuzufügen. Ich sage bewusst Lebewesen und nicht Menschen. Denn für mich haben die Pflanzen und Tiere den selben Stellenwert wie die Menschen auf diesem Planeten und deshalb musste ich sehr viele meiner Mitmenschen hassen, ob sie nun direkt in meiner Nähe lebten oder ob ich nur von ihrem Verhalten vernommen hatte. Manchmal schien es mir sogar, als müsste ich die ganze Menschheit hassen. Mit geringen Ausnahmen.
"Und sich selbst auch, wie Sie sagten?"
"So ist es! Vor allem, wenn mir wieder einmal ganz schrecklich bewusst wurde, welch armseliger Wurm ich doch wäre. Unzulänglich und fehlerhaft und ohne die geringste Möglichkeit, mein Leben bewusst hin zum Besseren zu gestalten!"
Jetzt meldete sich der Vorsitzende zu Wort und mit seiner sonoren Stimme sagte er:
"Sie sind doch im letzten Drittel Ihres Lebens zu vielen neuen Ansichten und Erkenntnissen gelangt, wie Sie selbst sagten, und es ist Ihnen gelungen, Ihr Dasein und Ihre Daseinsberechtigung einigermaßen richtig und optimistisch einzuschätzen. Auch Ihr Verhalten kann ich durchaus auf die rechte Waagschale legen und Sie haben sich trotz Ihrer Unzulänglichkeit in vielen Dingen bemüht, Ihrem Dasein doch noch den richtigen Anstrich zu verpassen, bevor Sie sich sozusagen zu uns verabschieden mussten. Warum also diese Verbitterung?"
"Am Ende habe ich zwar auch noch gehasst, doch vielfach verstanden. Dass es das Böse ebenso geben muss wie das Gute, wenn ich das so vereinfacht ausdrücken darf. Aber ich hasste dennoch all das meiner Meinung nach Verwerfliche an den Menschen und die Selbstsucht und Großspurigkeit vor allem jener, die auf dieser Welt zu bestimmen hatten. Ehe mir bewusst wurde, dass es womöglich das Los der Menschen war, ihren Untergang selbst herbeizuführen, und dass die Natur letztlich mithilft, diesen Untergang zu beschleunigen. Mich und mein Leben habe ich vor allem deshalb oftmals auch in dieser letzten Phase noch gehasst, weil ich meine Fehlerhaftigkeit und das Nachlassen meiner ohnehin kaum vorhandenen Kräfte so hasste - vor allem das Altern und alles, was damit verbunden war."
Der Vorsitzende nickte. Dann sagte er etwas, was mich tief beeindruckte:
"Wissen Sie, wir haben den Menschen ein gewisses Maß an Macht mitgegeben auf ihrem Weg. Den Guten weniger und den Schlechten mehr. Das mag Sie jetzt verwundern und doch haben wir das ganz bewusst so gehalten, um zu sehen, wie sich das Leben auf der Erde damit entwickelt und ob das Gute dennoch ein Chance hätte, zu bestehen und letztlich zu überleben - oder ob die Menschheit den Weg der Zerstörung und Selbstvernichtung auf die Spitze treiben wird. Doch zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen sagen, dass wir alle zur Rechenschaft ziehen werden und dass wir nicht vorhaben, diesen Planeten gänzlich dem Bösen zu überlassen!"
Ich war erleichtert, doch noch ehe ich über seine Worte weiter nachdenken konnte, stellte mir der Vorsitzende bereits die nächste Frage:
"Warum haben Sie damals so gehandelt, als Sie Ihre Familie schmählich im Stich ließen, wie die Anklage das formuliert und dafür einen großen Teil Ihrer guten Taten gegen diese Verwerflichkeit sozusagen einfordert?"
Ich wusste, dass dieser Punkt noch aufs Tapet kommen würde, und ich dachte an die Worte des Gerichtsdieners bezüglich Ausreden, Ehrlichkeit usw. Aber ich hatte so und so nicht vorgehabt, mich hier in ein besseres Licht zu stellen, als das der Fall war. Und doch unterschieden sich meine Gedanken dazu in vieler Hinsicht von jenen meiner Bekannten, Freunde, Verwandten. Jahrelang hatte ich in diesem Jahrzehnt des Grauens über diesen Schicksalsschlag nachgedacht, mit dem ich die Phase meines Lebens gerne bezeichnete, in dem letztlich alles an und in mir zerbrach, und mich die Schuldgefühle vor allem meinen Kindern gegenüber beinahe in den Wahnsinn und in den Suizid getrieben hätten. Bei all dem Nachdenken, dem Grübeln und dem Gebrauch meines nun wieder einigermaßen klar arbeitenden Gehirns kam ich letztlich zu dem Schluss, dass ich keine Chance hatte, anders zu handeln. Mein PC hatte ein "Virus" abbekommen, lief von da an in all seinen Programmen anders und lenkte mich auf einen Weg, der ganz einfach so gewollt zu sein schien.
"Sie bleiben bei Ihrer Ansicht, dass Sie im Grunde genommen nicht dafür verantwortlich gemacht werden können?"
Der Vorsitzende fragt mich das mit ernster Miene.
"Jawohl, das ist exakt meine Meinung dazu! Mein Verstand spielte verrückt und dieser Virus 'Liebe' hatte meine Gefühle derart in Wallung gebracht, dass kein vernünftiges Handeln von meiner Seite mehr möglich war. Es war so ähnlich wie wenn ein vormals ruhig dahinfließender Bach durch heftige Regenfälle sich zu einem reißenden Etwas verwandelt und unlenkbar und zerstörerisch alles mit sich reißt, was sich ihm in den Weg stellt. Bis er am Ende seine Gewalt verliert und das übers Ufer getretene Wasser wieder nach und nach in der Erde versiegt."
***
Es dauerte noch einige Zeit, bis es zur Urteilsverkündung kam.
Freudensprünge machte ich beim Spruch des "Jüngsten Gerichts" keine, aber ich war dennoch einigermaßen zufrieden. Es gab auch keine Lose, und ich konnte mir mein zukünftiges Dasein nicht aussuchen.
Aber bei den Meisen würde ich mich ganz bestimmt einigermaßen wohl fühlen. Liebte ich doch seit jeher diese kleinen Piepmätze - und ich dachte auch an meine süße kleine Freundin von damals, und wie gut sie immer zu Vögeln war ...