Soeben hatte ihn seine Tochter besucht. Mit einer Riesenladung Obst, verschiedenen Teesorten, frischem Gebäck, Hustenbonbons und Säften stand sie plötzlich vor der Tür. Er war bewegt, seine Tochter besuchte ihren kranken Vater und sie plauderten ein bisschen. Er erzählte ihr von seinem Ausschlag und dass es ihn jetzt ja auch noch mit einer argen Verkühlung, sozusagen als Draufgabe, erwischt hätte. Sein Husten würde bei einigen Nachbarn vielleicht sogar die Vermutung ausgelöst haben, dass er sich womöglich einen Hund angeschafft hätte, so sehr "bellte" er durch die Gegend. Auslöser des Wunders, dass sich seine Tochter plötzlich so etwas wie Sorgen um ihn machte, war seine alte Mutter. Sie hatte ihn vor zwei Tagen angerufen und er hatte ihr berichtet, dass es ihm nicht allzu gut gehe. Jetzt rief sie täglich schon zeitig am Morgen und auch wieder am Abend an. Sie hatte anscheinend die Mädels alarmiert. Denn - auch seine zweite Tochter hatte sich schon zweimal gemeldet und besorgt gefragt, wie es ihm gehe, und ob er wohl Medikamente hätte usw. Er hat sie alle beruhigt, er wäre soweit in Ordnung, hatte er gesagt.
Und doch spürte er ganz genau, dass er bereits seit Tagen am Abgrund wandelte.
Das Wetter in ihm hatte von bewölkt umgeschlagen auf trüb-kalt, er spürte den Tiefdruck in sich, spürte diese Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit und wusste, dass er wohl so gut wie keine Chance hatte, aus seinem Lebenssumpf zu entkommen, in den er seit einiger Zeit geschlittert war. Diese Leere, diese Hoffnungslosigkeit und diese Sehnsucht zu gehen - für immer ...
Seit zwei Tagen ging es ihm so, wie es einem Autofahrer ergehen mochte, der seine Rostkiste am Parkplatz vor dem Haus stehen hat und in die er sich mit dem Vorsatz setzt, auf und davon zu fahren. Er setzt sich in die alte Karre und betätigt den Starter. Nichts! Ganz gleich stand es um ihn: Auch seine Batterie war leer, sein mieser körperlicher Zustand hatte die letzten einigermaßen funktionsfähigen Zellen zur Strecke gebracht. Doch jetzt, nachdem seine Tochter hier war, ging es ihm tatsächlich wieder etwas besser. Vielleicht fehlten ihm die Streicheleinheiten für seine Seele, vielleicht ging es ihm wie einer absterbenden Pflanze, die schon seit über einem Jahr kein Sonnenlicht mehr gesehen hatte und die aus diesem Grund Blatt für Blatt verlor und jetzt immer schneller vor sich hinwelkte. Gestern war es exakt ein Jahr, dass sie ihre Schuhe aus dem Vorraum geholt hatte. Dann hatte sie sich zu ihm ans Sofa gesetzt, die Schuhe angezogen, war aufgestanden - und kurz danach hatte er die Tür ins Schloss fallen gehört ...
Seit dieser Zeit schlug das Unglück knüppeldick auf ihn ein:
Kein Job, kein Gefühl des Gebrauchtwerdens, Kontoüberziehungen, dass er sich beinahe nicht mehr zu meinem Geldinstitut hinwagte und täglich bereit war, zu vernehmen, dass es jetzt eben nicht mehr ginge, ihm weiter Geld vorzustrecken. Er war am Ende. Gestern blieb er den halben Tag im Pyjama, er hatte ganz einfach keine Lust mehr, aufzustehen und sich zu waschen. Wozu auch? Er fühlte sich wie ein kranker Höhlenbär, der merkt wie allmählich das Schmelzwasser ins Innere seiner Höhle sickert, vermischt mit Lehm und Schmutz und der weiß, dass er eigentlich aufstehen und an den Höhleneingang gehen müsste. Dass es an der Zeit wäre, nach Futter zu suchen, weil er den Winter über schwach geworden war, und der das dennoch nicht macht, weil er ganz einfach nicht kann. Er liegt da, spürt das Wasser und den Schlamm, empfindet das alles als sehr unangenehm, sieht irgendwo vor sich schwach den Lichtschein, will aufstehen und bringt es dennoch nicht fertig.
Nach vielen trüben Gedanken schleppte er sich doch irgendwann wieder ins Bad, sah in den Spiegel und erschrak. Ein alter Mann schaute ihm entgegen - eingefallenes Gesicht von tiefen Kerben durchzogen und dazu die trüben Augen und die häßlichen Flecken am Hals und an den Wangen. Er wusch sich kalt und fühlte sich danach ein bisschen besser, stellte Teewasser zu und steckte einen Bissen trockenes Brot in seinen Mund. Dann kehrte er zurück zu seiner Liegestätte, drehte den Fernseher an und starrte lustlos in die Röhre, doch seine Gedanken waren bei ihr ...
Es waren keine schönen Gedanken wie früher, als er noch gehofft hatte, dass sie zurück kommen könnte. Seine Vernunft hatte das ja schon lange Zeit akzeptiert, doch jetzt hatte anscheinend auch seine Seele die innere Ampel auf "rot" geschaltet und damit stürzte er hinunter in dieses dunkle Loch der Depression und die Liebe zu ihr schlug um in Hass, und er wünschte sich, dass es ihr ganz dreckig gehen sollte in ihrer neuen Beziehung.
Damit hatte er wohl endgültig begonnen, sie aus sich zu verbannen, weil sie bis jetzt ja doch noch immer irgendwie in ihm vorhanden war wie eine Blume kurz vor dem Verblühen. Jetzt hatte er resigniert, und wie ein riesiger Stein drückte dieses Gefühl auf seine ohnehin hängenden Schultern.
Jetzt war diese morsche Hängebrücke mit der er sich doch noch irgendwie mit ihr verbunden gefühlt hatte in die Tiefe gestürzt und er merkte deutlich, dass all sein Hoffen umsonst gewesen war. Er fühlte sich lebendig begraben - wie sich Menschen fühlen, die nach einem Erdbeben halbtot unter den Trümmern liegen.
Warum hatte seine Vernunft nicht Einhalt geboten, als sich dieses Gefühl an ihn heranmachte?
Hatte der Teufel selbst seine Hand im Spiel, als er ihn durch dieses Tal der Gefühle wandeln ließ? Mit diesem Singen und Jauchzen vorerst und dann mit dieser Tragödie, die sein einst glückliches Familienleben von diesem Erdrutsch vor die Hunde gehen ließ.
***
Damals hatte dieses übermächtige Gefühl in ihm gesiegt und der Vernunft keine Chance gelassen! Und jetzt? Wie würde dieser Kampf ausgehen ...?