Der Wind trieb die ersten Tropfen vor sich her, die Männer griffen zu ihren Hüten und zogen sie sich tiefer an den Kopf und so mancher Regenschirm wurde von den anwesenden Frauen, die sich vor der Leichenhalle versammelt hatten aufgespannt, während der Pfarrer zu dem im Sarg Liegenden sprach, obwohl natürlich auch die Menschen seinen Worten lauschten, sich die Witwe wiederholt die Nase putzte und sich die Tränen vom Gesicht wischte.
Ein Leben war zu Ende gegangen, ein Leben zwar nicht unbedingt erster Klasse, doch ganz bestimmt ein zufriedenstellendes Leben, vielleicht sogar ein relativ geglücktes Leben. Mit durchaus Sonnenstunden und zumeist stillem In-sich-Ruhen. Zwar ohne die vielleicht ganz großen Höhen, aber dafür sozusagen als Ausgleich auch durch keine allzu heftigen Tiefen getrübt. Ein Leben zweiter Klasse, wie das wohl von den meisten in einem westlichen Wohlstandsstaat befindlichen Menschen gelebt wird. Vor Jahren stand der Mann, von dem die Geschichte handelt, beinahe am selben Fleck und auch da spielte die Musik Trauermärsche, auch da gab es Ansprachen, auch da segnete der Pfarrer den Sarg und auch da rann die eine oder andere Träne über diese oder jene Backe und so manches Schnäuzen war zu vernehmen. Doch die Ansprachen dauerten länger und die Redner waren prominenter - der im Sarg Ruhende war ja auch in seinem Wesen ein gänzlich anderer als der Tote hier und jetzt. Beide waren etwa zu vergleichen mit zwei Gewässern: da der ruhig dahinplätschernde Bach und dort der rauschende Fluss.
Der Mann stand da und ließ seine Gedanken kreisen. Ja, so ähnlich kam ihm der Vergleich vor. Friedlich, still und klar das eine Leben, rauschend und drängend das andere Gewässer. Wie stand es um ihn selbst? Mit welcher Art von Gewässer konnte er sich vergleichen? Doch nicht etwa mit einer Regenpfütze, in die mancher Straßenköter hineinpinkelte? Nein, so schlecht stand es doch nicht um ihn, auch wenn er sich keinesfalls zu Menschen erster oder zweiter Klasse zählte. Dritte Klasse, das war exakt die Stufe, in die er sich selbst einordnen würde, und er dachte an eine Fahrt vor Jahren im Zug durch Spanien. In einem "City-Liner" war er ein Stück durch einen Teil von Frankreich gereist und stand am frühen Morgen am Bahnsteig. Wegen einer Verspätung hatte er seinen Anschluss verpasst.
Es war kalt und regnerisch gewesen wie heute beim Begräbnis und er hatte die Wahl, vier Stunden zu warten oder in einem Regionalzug weiterzufahren. Er entschied sich für die ihm besser scheinende Variante, schließlich würde ihn auch dieser Zug an sein Ziel bringen und er konnte sofort weiterfahren. Doch dieser Zug war anders. Nicht die Holzbänke und das Dahinrumpeln der Waggons führten ihm den Unterschied deutlich zum "City-Liner" von vorhin vor Augen. Es waren vor allem die Mitreisenden, die sich von denen im Zug erster Klasse unterschieden: Männer mit schwarzen Haaren, unrasiert und alles andere als gut gekleidet. Manche schienen zu schlafen, wieder andere lachten und die Worte sprudelten über ihre Lippen. Einige rauchten oder nahmen einen Schluck aus irgendwelchen Flaschen zu sich. Er spürte ganz deutlich diese wunderbare Art von Lebensfreude in diesem Waggon, ganz anders als vorhin im Waggon erster Klasse. In diesem "First-Class-Waggon" saßen Menschen mit starren Gesichtszügen und nach unten gezogenen Mundwinkeln. Gut gekleidete Menschen mit kalten, stechenden Augen und kaum ein Wort war zu vernehmen gewesen.
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Hatte ihn das Schicksal selbst in einen Lebenszug dritter Klasse gesetzt? War ein Leben "dritter Klasse" womöglich sogar lebenswerter und freudvoller als eines mit Arroganz, Herzlosigkeit und von Wohlstand gepflastert?
War sein Leben in einfacher Bescheidenheit sogar so etwas wie ein Geschenk des Himmels ...?