Eine Werkstätte für Behinderte. In ihr Marisa, die zweite Tochter eines Ehepaars, das in einer wunderschönen ländlichen Gegend lebt. Der Mann ein Banker. Keiner, der selbst Unmengen an Geld besaß, obwohl er mit seiner Familie durchaus sein Auslangen finden konnte. Er war Angestellter und Chef einer kleinen Filiale mit Geldangelegenheiten. Ein Mensch, pflichtbewusst, zielstrebig, humorvoll und mit einem Charakter ausgestattet, den man als ernsthaft und liebenswert bezeichnen kann. Seine Gattin war eine künstlerisch begabte Person, die das Schöne nicht nur an den Menschen liebte. Auch war sie eher als gläubig und mit beiden Beinen fest im Leben stehend zu bezeichnen. Dies musste sie auch sein, denn das Schicksal hatte ihr ein besonderes Los zugedacht: Zwei Kinder wurden ihr und natürlich auch ihrem Gatten geschenkt. Zwei Töchter. Die erste Tochter von wunderschönem Wuchs und ausgestattet mit besten Gaben wie Intelligenz, wachem Geist, feinem Fühlen, dem Streben nach mehr an Wissen und Erfahren - was schließlich in einem Studium für Medizin und dem abschließendem Doktorat in kurzer Studienzeit endete. Die erste Tochter besuchte noch die Schule, da bekamen die beiden eine weitere Tochter geschenkt: Ein Geschöpf, anders, als die vielen Menschen, die mit festen Schritten durch dieses liebliche Gebirgstal gingen.
War den beiden diese zweite Tochter womöglich vom Schicksal ganz bewusst in die Wiege gelegt worden, um mit ihrer Hilfe die Welt mit anderen Augen erleben zu dürfen? Natürlich war zuerst der Schock groß und auch der Zweifel an der Gerechtigkeit der Schöpfung ihnen gegenüber polterte in ihren Köpfen umher. Warum hatte sie das Schicksal so hart bestraft, und warum waren gerade sie dazu auserkoren, diesen "Kelch" auf sich nehmen zu müssen?
Manchmal schien es ihnen, als würde sich die Sonne bewusst hinter den Wolken verstecken. An Tagen, an denen sie nahe am Verzweifeln waren, wenn sie miterleben mussten, wie schlecht es ihrer Tochter zu gehen schien - mit oftmaligen Aufenthalten in Krankenanstalten und dem Durchwachen mancher Nacht an der Seite ihres behinderten Kindes. Eine Kindheit mit Sorgen und Bangen vor allem, wenn epileptische Anfälle und überschäumende Gefühlsausbrüche bei der Kleinen sowohl bei ihr selbst wie auch bei den Eltern und auch bei der Schwester für innere Aufgewühltheit und ängstliches Herzklopfen sorgten.
Doch irgendwann hatten sie sich mit diesem Dasein abgefunden und irgendwie entstand in ihnen vielleicht sogar ein Gefühl, etwas Besonderes mit ihrer Tochter in ihr Dasein bekommen zu haben. Und - auch die Freuden gab es, wenn Fortschritte zu bemerken waren, wenn ein gewisses Maß an Lebensfreude beim Töchterchen zutage trat wie dies Schönwetterwolken am Sommerhimmel zuwege bringen. Welch wunderbares Geschöpf war sie doch und so ganz anders als alle ihre Mitmenschen und manchmal schien es, der Himmel selbst hätte dieses Menschenkind genau so gestaltet, um auch damit das Wunder der Schöpfung zu demonstrieren und die damit befassten Menschen zu mehr Nachdenklichkeit und Demut dem Leben gegenüber anzuregen.
Eine alte Frau besuchte die kleine Marisa eines Tages in ihrer Behinderten-Werkstätte. Marisa war inzwischen in einem Alter von 16 Jahren angelangt und sie werkte täglich mit mehreren ebenfalls Behinderten an dieser Ausbildungsstätte. Mit Töpfern, Malen, Basteln, mit Singen und Beten. Mit Lachen und Weinen - jedenfalls immer mit tiefen Gefühlen behaftet. Ganz anders als dies sehr viele erfolgsorientierte Menschen tun, die zumeist bestens gebaut und gestylt auf einer Welle von Ehrgeiz und Machtstreben ihre Mundwinkel nach unten ziehen und bei denen Arroganz und Selbstherrlichkeit sehr oft ihren Alltag prägt. Wo die Jagd nach oberflächlichen Vergnügungen zu treuen Begleitern ihres vom Wohlstand verwahrlosten Lebens geworden sind.
Marisa und auch die Alte waren anders. Die Alte stammte aus einer mütterlicherseits gutbürgerlichen Familie. Ihre Großeltern waren Gutsbesitzer, die durch die beiden Weltkriege all ihr Vermögen verloren hatten. Ihr Vater war kk. Offizier im ersten Weltkrieg gewesen, danach verwaltete er eine Mühle. Sie war die erstgeborene Tochter, besuchte die Mittelschule und erledigte ihre schulischen Pflichten und Aufgaben stets mit vorzüglichen Leistungen. Danach kamen die Kriegswirren und irgendwann verschlug es sie in dieses kleine Gebirgsdorf als Sekretärin zu einem fürstlichen Holzverarbeitungsbetrieb, in welchem sie ihren Mann kennen gelernt hatte. Zwei Söhne wurden ihr geboren und sie wusste mittlerweile die Gnade eines einfachen und bescheidenen Daseins zu würdigen. Weltliches Vermögen war ihr verwehrt geblieben, doch ihr stets reger Geist und das Streben nach Menschlichkeit hatten sie manche Mühe vergessen lassen. Sie war zu einem Teil dieser wunderschönen Naturlandschaft geworden und ihre oftmals wackeligen Beine trugen sie einigermaßen geglückt durch ihr Leben. Irgendwie strahlte ihr Gesicht Freude und Zuversicht aus. Vor allem dann, wenn sie selbst Freude bereiten konnte. Alten, Gebrechlichen und Kranken widmete sie einen Teil ihrer Zeit, die ihr ja zur Genüge zur Verfügung stand und die sie in relativ gutem gesundheitlichem Zustand und ohne wesentliche Arzt-Besuche auch jetzt im hohen Alter noch für etliche Hobbies nützte. Vor allem das Handarbeiten und Stricken aller möglichen Dinge freuten sie sehr. Auch Marisa lag ihr am Herzen, sie kannte die Familie gut und besuchte Marisa wieder einmal in ihrer Behinderten-Werkstatt. Marisa hatte bereits beide Omas verloren und so war die Alte irgendwie Oma-Ersatz für sie.
"Hallo Marisa. Wie geht es dir?" "Danke Olga-Oma. Ich hab soeben meine Vase fertig getöpfert. Gefällt sie dir?" "Sehr schön. Du hast das Künstlerische wohl von deiner Mama vererbt bekommen." "Das weiß ich nicht. Aber der Opa macht ja auch immer schöne Sachen." "Ja, dein Opa, der ist ein Künstler. Der schnitzt und malt, bastelt und werkt noch immer so fleißig. Der ist ja auch beinahe so alt wie ich." "Wie alt bist du eigentlich, Olga-Oma?" "Bald werde ich den 90-er auf dem Buckel haben." "Und wie alt ist meine Mama?" "Die ist noch jung. Ein bisschen über 50 vielleicht. Ganz genau weiß ich das auch nicht." Die Alte griff in ihre Handtasche und reichte Marisa eine Tafel Schokolade, wusste sie doch, dass Marisa gerne ein wenig naschte. "Fein, Olga-Oma! Danke. Die mag ich gerne." Marisa strahlte übers ganze Gesicht.
Die Werkstätte war mit einigen Burschen und Mädchen besetzt. Einige ältere Behinderte werkten an verschiedenen Plätzen. Es war ruhig und angenehm warm im Raum und irgendwie strahlte alles eine gewisse Ruhe und Behaglichkeit aus. Auch die Werkstättenleiterin war ein Stück dieser Ruhe und erst jetzt ging sie hin zur alten Frau, um sie zu begrüßen. Die beiden kannten sich ja schon relativ gut, wo doch die Alte zumindest ein-, zweimal monatlich zu Marisa kam, um sie zu besuchen.
"Heute kommt die Mama mich abholen. Heute haben wir schon zu Mittag aus. Und die Mama hat gesagt, dass wir heute zum See fahren." "Schön. Da möchte ich auch gerne wieder einmal hin." "Fahr mit, Olga-Oma. Die Mama hat genug Platz für uns beide." Die Alte schaute auf die Uhr, die über der Eingangstüre hing und sah, dass nur noch zwanzig Minuten bis zur Mittagszeit waren. Vielleicht sollte sie das Angebot von Marisa wirklich annehmen und mitfahren. Es wartete ja niemand auf sie. Und ein Stück Kuchen hatte sie ja bereits in der Konditorei vernascht, wo sie die Schokolade für Marisa besorgt hatte. "Ich fahr mit." "Fein! Da kannst du die vielen Enten mit uns füttern. Und zwei Schwäne sind auch immer dort. Und jetzt haben sie vielleicht auch alle Junge, hat die Mama gemeint." "Das wäre schön!" "Die Mama bringt auch altes Brot mit. Das fressen sie so gerne."
Marisa war zwar geistig nicht ganz auf dem Stand anderer Jugendlicher im gleichen Alter, aber sie hatte gelernt mit dem Wichtigsten für ihr Dasein einigermaßen zurecht zu kommen. Zart und klein war ihr Körper und ihre zarten Finger zeugten von der Sensibilität ihres Wesens. Marisa konnte lesen und schreiben, doch bei ihr waren auch diese beiden Eigenschaften von besonderer Güte. Sie las langsam und bedächtig und jedes Wort wurde von ihr förmlich auf einen Präsentierteller gelegt und wenn sie etwas aufschrieb, dann malte sie mit Hingabe Buchstaben für Buchstaben aufs Papier. Weit weg von dem, was Erfolgstypen heute machen, die zumeist so schreiben, wie sie sind: oberflächlich und rastlos. Marisa konnte herzlich lachen, wenn ihr etwas gut gefiel, und oft war sie von besonderem Liebreiz und anschmiegsam wie ein junges Kätzchen. Doch Marisa hatte auch einen heftigen Trotzkopf, wenn in ihrem Gehirn andere Dinge vorgingen, die nicht mit den Anforderungen ihrer Umwelt an sie übereinstimmten.
Die Anfälle waren in den letzten Jahren merklich schwächer geworden und zur Behandlung ins Krankenhaus musste sie ihre Mama nur noch ein-, zweimal im Monat bringen, wenn sich ihr Gemütszustand verschlechterte und sie manchmal aus dem inneren Gleichgewicht brachte. Da konnte es vorkommen, dass Marisa tobte und ihr Geist verrückt spielte. Doch an Tagen wie heute war sie lieb und brav und ihr Gesicht strahlte in guten Phasen immer etwas Feierliches aus. Sie war ein besonderer "Stern" am unendlichen Firmament der Schöpfung - wie viele dieser von der Natur so ganz anders inszenierten Menschenkinder mit Behinderung.
*** Vielleicht ist Marisa tatsächlich ein besonderes Geschenk des Himmels