Den Mann, von dem die nachfolgende Story
berichtet, den hatte das Leben bis in die Mitte seines Daseins richtiggehend
verwöhnt, doch jetzt, im letzten Drittel seines Lebens, dämmerte es ihm immer
heftiger durch den Kopf: Hatte das Schicksal womöglich seine Lebenswaage wieder
ins rechte Lot gebracht, und forderte eine höhere Macht jetzt den Tribut für
die langjährige Bevorzugung gegenüber seinen Mitmenschen? In seiner Kindheit
hatte er sich so gut wie nie Gedanken über seinen körperlichen oder geistig-seelischen
Zustand gemacht, der ihn in letzter Zeit so schmerzlich beschäftigte. Obwohl er
in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, sprühte er förmlich vor Lebensfreude, und
manchmal schien es ihm, als ob er von der Muse selbst geküsst worden sei. Irgendwie
war er anders als seine unmittelbaren Zeitgenossen: Lebhafter, verwegener, er
lachte lauter, sprang hurtiger des Weges oder brauste mit seinem alten, selbst
zusammengebastelten Drahtesel so manche Schotterstraße talwärts, und seine
Gefühle schienen tiefer in ihm zu wogen, als dies bei anderen Kindern der Fall
war, und manchmal schwappten sie über wie das Meer, wenn es seine Wellen nach
einer sturmumtosten Nacht ans Ufer branden lässt.
Schon als Kind und natürlich
auch in seiner Jugendzeit, war er dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan, er
verliebte sich oft, liebte stark und leidenschaftlich. Aber nicht nur die
Gefühle der Liebe trieben in ihm stets ihr Unwesen, nicht selten regierte ihn
auch der Zorn über dieses und jenes, wenn ihm oder ihm nahestehenden Menschen
ein Unrecht geschah oder ihm etwas zu sehr über die Leber gelaufen war und,
einmal in Rage gekommen, ging man ihm besser aus dem Weg. Dieses Branden in ihm
ließ ihn auch als Erwachsener manchmal ängstlich in sich horchen, raubte es ihm
doch mitunter seine innere Ruhe und trieb ihn hin zu Abgründen, wie dies
Blätter tun, wenn sie im Herbst ihr schützendes Geäst verlassen und vom Wind
durch die Luft gewirbelt werden, ehe sie irgendwo am Boden verfaulen oder in
Mistkübeln ihre letzte Ruhestätte finden.
Und doch, das Leben hatte ihn
richtiggehend verwöhnt mit einem wachen Geist, gesunden Gliedmaßen und auch mit
einem Aussehen, das sich durchaus sehen lassen konnte. Dazu kamen eine hübsche
Gattin, liebliche Kinder und diese oder jene Freuden, von denen andere Menschen
oftmals nur träumen können.
Doch irgendwann veränderte sich dieses Bild -
wie der Himmel, wenn er sein Aussehen verändert und das Blau allmählich
übergeht in ein Grau und später zu einem tiefen Schwarz wird. Eine junge
Geliebte hatte ihm das Schicksal in sein Leben gespült und versorgte ihn mit
einem Überschwang an Gefühlen und natürlich auch mit wunderbaren sinnlichen
Freuden. Doch damit begann die große Wende in seinem Leben: Seine Ehe ging in
Brüche und die Trümmer dieses Einsturzes lagen vor ihm, wie wenn ein Erdbeben
gewütet hätte.
Auch die sinnlichen Freuden versiegten nach und nach, wie dies
ein Wasserlauf im Spätsommer macht, wenn er keinen Nachschub bekommt. Was ihm
am meisten zu schaffen machte - sein einst so wunderbares Lebensgefühl
verschwand, wie die letzten weißen Nashörner in Afrika, denen Wilderer den
Garaus gemacht hatten.
Dafür legte ihm das Schicksal etwas gänzlich Neues vor
seine nun kärglich gewordene Unterkunft: einen riesigen Berg voll Depressionen,
die ihn immer heftiger umschwirrten. Wie Stechmücken, wenn sie sich
ein Opfer ausgesucht haben. und nicht mehr wegzubekommen, wie Metastasen, wenn sie
im Körper eines Todgeweihten wuchern.
***
Musste er womöglich dafür büßen, dass ihn
einst die Götter liebten ...?