Laut ratterte ich über das Kopfsteinpflaster und es fiel mir schwer mich einigermaßen gerade auf meinem Fahrrad zu halten, aber ich fuhr. Zwar langsam und ohne Luft im vorderen Reifen, doch ich musste unbedingt und so schnell es ging weiter! Ein Wahnsinn, das würde schlimme Folgen haben, das spürte ich irgendwie, obwohl es in meinem Kopf dröhnte und ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Von Minute zu Minute wurde es dunkler um mich, schemenhaft flitzten die Autos an mir vorbei, und immer öfter hatten sie bereits die Lichter angedreht. Ich musste heim ins Heim, schnell heim. Schwer trat ich in die Pedale und irgendwie hab ich's schließlich geschafft, doch noch nach Hause zu kommen.
"Hallo, aufwachen! Wach auf!"
Von weit weg höre ich eine vertraute Stimme an mein Ohr dringen.
"Was ist los mit dir? Du siehst ja schrecklich aus!"
Müde schlage ich meine Augen auf und sehe das Gesicht jenes Mannes vor mir, der mir schon aus manch bedrohlicher Situation geholfen hatte.
"Tut mir leid", leise kommen diese Worte aus meinem Mund.
"Was ist passiert? Wo kommst du her?"
Nach und nach erinnerte ich mich wieder. Von der Firma aus hatten wir im Liebenauer Stadion um 16 Uhr Fußball gegen eine andere Firmenmannschaft gespielt. Da war noch alles o.k. Schlimm war es danach geworden, als wir mit den Gegnern im Gastgarten eines Wirtshauses saßen und mir die Kollegen ein Bier fürs gute Spielen bezahlten, hatte ich doch ein Tor zu unserem Sieg beigesteuert.
Ich war zwar mit meinen vierzehn Jahren einigermaßen kräftig gebaut, schnell und ausdauernd, doch im Umgang mit Alkohol hatte ich so gut wie keine Erfahrung und weil ich mich beim Match richtig ins Zeug gelegt hatte und zudem noch wenig an diesem Tag gegessen hatte, deshalb wirkte der Alkohol noch stärker und ich war nach dem ersten Bier bereits einigermaßen betrunken.
"Eins geht schon noch Junge!"
Ich, der Benjamin der Mannschaft, war nach dem zweiten Bier bereits stockbesoffen und meine Mannschaftskollegen lachten sich schief. Da lachte auch ich noch mit, weil ich seit jeher zu Späßen aufgelegt war. Das Lachen sollte mir allerdings schon sehr bald vergehen.
Um 19 Uhr hätte ich im Lehrlingsheim sein sollen, da halfen mir meine Fußballkollegen soeben auf mein Fahrrad, weil ich beim ersten Versuch, allein aufzusteigen, wieder auf der anderen Seite heruntergekippt bin. Auf ein wunderschönes Dreigangrad, das mir meine Eltern vor kurzem gekauft hatten, vergleichbar etwa heute im Wert eines Mountainbikes der gehobenen Klasse. Ich rollte vom Gasthaus weg, überquerte kurz danach einen Bahnübergang und fuhr die Straße abwärts. An der kommenden Straßenkreuzung wollte ich bremsen, stieg auf den Rücktritt, doch mein neues Gangrad hatte für mich noch völlig ungewohnte Felgenbremsen und so rollte ich geradeaus über die Straße, stürzte über eine Böschung mitten in einen Zaun, der einer Reihe von Schrebergartenhütten vorgespannt war.
Da lag ich nun und merkte nicht einmal, dass ich Hemd und Hose am morschen Zaun zerrissen hatte und dass die Luft aus meinem Vorderreifen entwichen war. Plötzlich schüttelte mich jemand an der Schulter. Ein Autofahrer hatte angehalten und kümmerte sich um mich. Als er sah, dass ich betrunken war, und weil ich mich aufrappelte und: "alles o.k." murmelte, setzte er sich wieder in sein Auto und fuhr weiter. Ich nahm mein Rad und schaffte es irgendwie die Böschung hinaufzukommen. Auf der Straße angekommen, schob ich das Fahrrad zuerst ein Stück am Straßenrand dahin, versuchte dann, aufzusteigen - vergeblich. Nach einigen Versuchen gelang es mir doch irgendwie, mich aufs Rad zu schwingen und weiterzufahren.
Um halb zehn Uhr fand mich mein Erzieher schlafend vor der Tür des Fahrradkellers. Zerkratzt, das Gewand zerrissen, schmutzig und mit einigen Beulen versehen lag ich schlafend vor der Eingangstür. Der Alkohol und die große Anstrengung hatten mich endgültig geschafft. Und dennoch sah ich noch irgendwie besser aus als mein Fahrrad, die Abfahrt zum Radkeller hatte ihm den Rest gegeben - da war ich in die Mauer geknallt. Das Vorderrad verbogen, das Licht baumelte in Scherben von der Lenkstange, der Lack zerkratzt, weil ich noch einige Stürze auf meiner Fahrt ins Lehrlingsheim über mich ergehen lassen musste. Ab und zu habe ich danach mein Rad geschoben, irgendwann bin ich immer wieder ein Stück gefahren. So genau kann ich mich nicht mehr erinnern.
Nur meinem Erzieher hatte ich es zu verdanken, dass die Angelegenheit relativ glimpflich für mich ausgegangen ist. Wenn der Direktor, zu dessen Lieblingen ich ohnehin nie gehört hatte, von der Angelegenheit Wind bekommen hätte, so wäre ich sicher aus dem Heim gesegelt.
***
"Jetzt bist du dran! Ich stech dich ab, du Schwein!"
Der Gang war nur spärlich beleuchtet, in dem mir ein untersetzter Typ mit einem blitzenden Messer in der Hand gegenüberstand. Ich war mit meinen 16 Jahren eher klein gewachsen, doch wieselflink und vom Sport gestählt, und manchmal habe ich auch ordentlich hingelangt. Wie diesmal - stellvertretend für meinen Freund Gustav. Das hatte mich in diese nicht ganz ungefährliche Situation gebracht, denn der Typ im schwarzen Ledergewand schien ernst machen zu wollen.
"Jetzt bekommst du deine Abreibung!"
Hasserfüllt verzog er sein Gesicht. Er hatte es anscheinend nicht verkraftet, dass ein relativ schmächtiges Bürschchen wie ich es war, ihn vor den Augen seiner Spezeln ohrfeigte, weil er mit drei Begleitern meinem Freund Gustav die Nase blutig geschlagen hatte. Da war ich eingeschritten, hatte mir den Größten der vier ausgesucht und blitzschnell zugeschlagen. Zwei weiteren Akteuren versetzte ich jeweils einen kräftigen Tritt, so dass die vier schnell reißaus genommen hatten. Für mich war die Sache erledigt gewesen, und ich legte meinem Freund die Hand auf die Schulter und sagte:
"Siehst du, Gustav, so macht man das. Dem Anführer musst du sofort eine reinhauen, dann haben auch die anderen die Hose voll!"
Gustav war mir dankbar, dass ich ihm geholfen hatte. Im Lehrlingsheim mit über 200 Insassen gab es ab und zu Stunk. Vor allem mit den von auswärts kommenden Berufsschülern kamen wir Fixinsassen manchmal übers Kreuz. Die waren nur während ihrer siebenwöchigen Berufsschulzeit im Heim und wollten nicht einsehen, dass wir, die ständigen Insassen, eben gewisse Vorrechte für uns beanspruchten. Beim Tischfußball, am Billardtisch, bei der Sitzordnung im Fernsehraum, beim Einlass und dem Anstellen zum Essen im Speisesaal etc. Es gab eben eine Rangordnung, und an die hatten sich alle zu halten.
Der Typ mit dem Messer in der Hand war einer dieser 7-Wochen-Schüler und erst seit kurzem im Heim. Er wusste wohl nicht, dass er sich mit mir nicht gerade einen angenehmen Gegner zum Abstechen ausgesucht hatte. Ich stand zwei, drei Schritte vor diesem Rocker und alle Sinne in mir hatten sich geschärft. So standen wir uns einige Augenblicke gegenüber. Der Typ hatte das Messer erhoben und schien durch mein furchtloses Dastehen irgendwie irritiert zu sein. Er zögerte einen Augenblick und senkte die Hand mit dem Messer. Das war das Signal für mich zum Angriff. Ich sprang vor, versetzte ihm einen kräftigen Tritt in die Genitalien und wuchtete dem Zusammengekauerten die Faust an den Kopf. Wie vom Blitz getroffen stürzte der verhinderte Messerstecher zu Boden.
Groß war das Geschrei des Direktors, als er mich wenig später in seiner Kanzlei zu dem Vorfall verhörte, mich einen Kriminellen nannte, der noch im Zuchthaus landen würde und kein gutes Haar an mir ließ. Ich war ihm ja schon immer ein Dorn im Auge gewesen, war ich doch der, der die anderen Heiminsassen gegen ihn aufhetzte, weil ich nicht einsehen konnte und wollte, warum der sonntägliche Kirchgang in der hauseigenen Kapelle zur absoluten Pflicht gemacht wurde, nur weil das Heim von Patres geführt wurde, von denen einige sehr nett, der Direktor meines Erachtens jedoch exakt das Gegenteil davon war. Er ließ das Eingangstor pünktlich um 19 Uhr schließen und jeder zu spät kommende Heiminsasse musste Strafdienste versehen, bekam Fernsehverbot und wurde bei mehrmaligen Vergehen gegen die Heimordnung gnadenlos gefeuert. Dieser Direktor bestand auch darauf, dass jeder Lehrling das ihm vorgesetzte Essen restlos aufaß und er holte sich immer wieder Jungs in sein Büro, um sie über die anderen auszuhorchen. Ich protestierte lautstark gegen die von diesem Mann frisch installierte Abhöranlage in den Zimmern und ermunterte so manchen Heiminsassen, sich doch nicht alle Schikanen von diesem Mann gefallen zu lassen.
Einen für mich nicht sehr günstigen Auftritt hatte ich mit diesem Mann bereits hinter mir, als ich eines Abends meine Decke im Schlafsaal so präparierte, dass es in der Dunkelheit aussah, als würde ich im Bett liegen, heimlich durchs Fenster ausstieg und erst um ca.2 Uhr früh wieder ins Heim zurückkam. Der Grund hieß Elfi, eine dunkelhaarige 18-Jährige, vollbusig und sexy. Ich hatte sie bei einem 14-tägigen Italienaufenthalt mit einer Reisegesellschaft kennen gelernt und dieses Mädchen hatte mich "Greenhorn" damals in diesen Stunden, an denen ihre Eltern sich am Strand in der Sonne räkelten, regelrecht zur Liebe verführt. Einfach herrlich, dieses Beben in mir und diese Lust in meinen Adern, als die letzten Hüllen fielen. Und jetzt, drei Wochen später, rief sie mich an, dass ihre Eltern für zwei Tage verreist wären. Diese Gelegenheit konnten wir uns nicht entgehen lassen.
Ich blieb die halbe Nacht bei ihr, bevor ich mich ins Lehrlingsheim zurückschlich und mich durchs von mir beim Aussteigen im dunklen Gang nur angelehnte Fenster schwang. Doch ich war noch nicht einmal richtig am Boden gelandet, als mich bereits eine Faust im Nacken packte. Der Direktor hatte doch tatsächlich auf mich gewartet. Einer meiner "Freunde" musste ihm wohl einen Wink gegeben haben. Hätte meine Mutter nicht um Gnade bei ihm gefleht, so wäre ich wohl bereits damals aus dem Heim gesegelt.
Irgendwann war die Sache vorbei mit dem Heim. Richtig daheim gefühlt hatte ich mich da wohl nie. Zu sehr vermisste ich den Wald, den rauschenden Bach, den um unser altes Holzhaus wehenden Wind und auch meine Freunde die Katzen, die Ziegen, die grunzenden Ferkel, den Hahn mit seinen gackernden Hühnern und die blühenden Wiesen mit den Schmetterlingen im Sommer oder im Winter die Eisblumen an den Fenstern.
Am meisten vermisste ich jedoch meine Freiheit in vielen Dingen. Die hatte ich wohl für immer verloren. Was ich nicht verloren hatte, das war diese Sehnsucht in mir, mein Leben nicht nur lau an mir vorüberplätschern zu lassen und meine Lust nach Abenteuern war von Geburt an in mich gebrannt wie das die Brandzeichen bei einer Rinderherde in Texas mit sich bringen: lebenslänglich und unauslöschlich.
Und genau so verlief schließlich ein guter Teil meines Lebens. Irgendwann war das Feuer allerdings einigermaßen heruntergebrannt und ab der Mitte meines Lebens verspürte ich deshalb auch sehr oft den Wunsch in mir, genauso ruhig und sicher durch mein Leben wandeln zu können wie Mönche dies für gewöhnlich in Tibetischen Klöstern tun. Ruhig murmeln ihre Lippen Gebete und ihre Seelen sind so klar wie der sternenübersäte Nachthimmel über den Achttausendern des Himalaja.
Doch meine Sehnsucht blieb unerfüllt. Aus einem Stück Quecksilber wird wohl niemals ein Bergkristall werden ...