Es war einmal ein wunderhübsches Mädchen, das wohnte in einem wunderschönen Haus in einer wunderbaren Gegend. Margaritchen war lieblich anzusehen, und das Blond ihrer Locken hing an ihrem Kopf wie die süßesten Trauben an einem Rebstock. Margaritchen war ein fröhliches Kind, und wenn sie lachte, dann klang dieses Lachen so hell wie die Glocken vom nahe gelegenen Kirchturm. Aus ihren großen, dunklen Augen blickte Margaritchen neugierig in die Welt, und wenn sie einmal traurig war, dann kollerten dicke Tränen über Margaritchens Wangen. Aber Margaritchen war nicht oft traurig. Sie tollte mit ihrer Schwester herum, sie stapfte mit ihren zarten Beinchen durch das Bächlein, das an ihrem Haus vorbeifloss, sie streichelte ihren Tigerkater, der sich gern an unser Margaritchen schmiegte und an ihrer Seite wohlig schnurrte, und sie lief fröhlich hinter ihrem Hasen her, der im Zick-Zack über die Wiese hoppelte. Margaritchen sah in ihrem Kleid aus wie ein bunter Schmetterling, und wie ein solcher flatterte sie stets durch ihr Leben und erfreute sich an ihrem Dasein.
In dem Bächlein hinter Margatichens Heimathaus floss das Wasser tagaus, tagein munter dahin und auch die Zeit verfloss, und schon sehr bald war aus unserem Margaritchen ein wunderhübsches Fräulein geworden. Wie lieblich war sie anzusehen, war sie doch erblüht wie ein Schneeglöckchen in den ersten Sonnenstrahlen des jungen Frühlings, ihre Beine waren wohlgeformt, ihre Hände wunderschön, ihre Lippen geschwungen und samtigweich. Margaritchen wiegte sich in ihren Hüften wie eine junge Birke im Sommerwind, und sie wusste natürlich, dass sie wunderschön war, und es freute sie ganz besonders, wenn ihr die Burschen aus dem Dorf bewundernd nachblickten, und so dauerte es nicht allzu lange und unser Margaritchen verliebte sich in einen dieser Jünglinge.
Dick trug Margaritchen in nächster Zeit Make-up auf ihrem so fein geschnittenen Gesicht auf, rot färbte sie ihre Lippen, so dass diese leuchteten wie frisch geerntete Kirschen, und manchmal meinte Margaritchens Mutter sogar, dass sich ihr Töchterchen wie ein Indianer auf dem Kriegspfad benahm: Sie war angemalt wie einer dieser Krieger, sie war kühn und stolz wie ein solcher, und weil sich unser Margaritchen schon seit frühester Kindheit immer all das zu nehmen verstand, nach dem ihr kleines Herz begehrte, so landete der angehimmelte Knabe schon sehr bald in ihrem Wigwam. Margaritchens Vater sah das gar nicht gern, liebte er doch sein Margaritchen sehr, und welcher Vater kann schon zusehen, wenn sich seine Tochter plötzlich anderen Männern zuwendet. Doch er war ein guter Mann, und tapfer humpelte er auf einem Bein durch sein Leben, das andere hatte er bei einem Unfall verloren. Damals hatte Margaritchen bitterlich geweint, aber jetzt war sie wieder glücklich und froh und genoss ihr junges Leben, biss in die saftigsten Äpfel, zwängte sich in die engsten Jeans, blickte oft und gerne in den Spiegel und war mit sich und der großen, weiten Welt zufrieden.
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Die Jahre zogen ins Land und aus unserem Margaritchen wurde eine wunderschöne junge Margarita. Täglich fuhr sie mit ihrem Fahrrad zur Arbeit, täglich wusch sie feinen Damen die Haare, trug Farbe auf und wickelte Lockenwickler auf die verschiedensten Köpfe. So lange, bis ihr diese Färberei eines Tages zu bunt wurde und sie reißaus nahm. Weit weg von ihrem kleinen Dorf knetete sie in einer großen Stadt die Muskeln wildfremder Männer, manchmal tat sie das mit Freude, doch hin und wieder machte ihr dieses Kneten weniger Spaß. Doch irgendwie musste sie ja zu Geld kommen, wollte sie sich doch ein niedliches, kleines Auto kaufen, um frei und unabhängig zu sein und, wann immer sie Lust dazu hatte, damit durch die Landschaft kurven zu können. Und weil unser Margaritchen auch stets ihre gefassten Vorsätze in die Tat umsetzte, so sah man sie schon sehr bald mit so einem Gefährt durch die Gegend brausen.
Margaritchen war schon immer sehr großzügig gewesen, und so geizte sie auch jetzt nicht mit ihrer Schönheit, hatte sie doch die Natur nicht nur mit einem wunderhübschen Gesichtchen, sondern auch mit einer außergewöhnlich guten Figur ausgestattet. Am liebsten trug sie enge Pullis und schicke Jeans. Erhobenen Hauptes schritt sie durch ihr junges Leben, naschte gerne an diesem oder jenem guten Stück und ließ sich, wenn sie guter Dinge war, oder wenn der Mond in einer lauen Sommernacht goldig-rot hinter den Bergen emporstieg, auch hin und wieder selbst vernaschen. Kein noch so wohlerzogener junger Mann konnte ihren Reizen widerstehen, denn sie war schön wie Dornröschen, doch wach küssen brauchte sie kein Prinz, weil sie noch niemals in einen derart tiefen Schlaf versunken war. Ganz im Gegenteil: So manche Nacht tanzte sie durch, lachte und tanzte, tanzte und lachte und die Männerwelt lag ihr zu Füßen. Doch keiner dieser Männer konnte ihr kleines Herz jemals ganz für sich gewinnen, ganz wollte sich unser Margaritchen nämlich noch nicht verschenken. Sie liebte ihre Freiheit, sie liebte das Leben und sie liebte auch sich selbst sehr.
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Eines Tages entführte sie das Schicksal in eine wunderschöne Gegend, und sie lernte jenen Mann kennen, dem es bei ihrem Anblick so ging, wie dem Prinzen beim Anblick des Dornröschens. Er konnte beim besten Willen seinen Blick nicht mehr von ihr wenden und war verzaubert von ihrer Schönheit. Margaritchen und der neu in ihr Leben getretene Prinz fanden sich sympathisch, und eines Tages flirteten sie bereits ein bisschen miteinander, ohne sich dabei viel zu denken. So, wie das eben alle jungen Mädchen und jungen Männer tun. Das wäre weiter nicht schlimm gewesen, doch bei unserem Prinzen handelte es sich um keinen echten Prinzen und auch um keinen Jüngling im Alter unseres Margaritchens und, man muss es wohl sagen, der Prinz hätte gut und gern der Vater unseres Margaritchens sein können. Der Prinz sah einigermaßen gut aus, der Prinz war romantisch veranlagt, und die meisten seiner Mitmenschen hielten ihn für humorvoll und mit guten Manieren ausgestattet. Doch unser Prinz war verheiratet und nicht nur das, er hatte zudem eine Familie mit niedlichen Kindern, die er sehr liebte, und nichts lag ihm mehr am Herzen als das Wohl seiner Familie. Weil unser Prinz das noch nicht einmal 20-jährige Margaritchen äußerst sympathisch und anziehend fand, deshalb pflückte er ihr manchmal auf dem Weg zur Arbeit eine besonders hübsch blühende Blume von den Wiesen, und unser Margaritchen schenkte ihm dafür jedes Mal ein besonders hübsches Lächeln und bedankte sich artig für das Blümlein. Als unser Prinz dem Margaritchen wieder einmal eine Blume überreichte, sagte er zu ihr, dass sie selbst eine wunderschönee Blume sei, an deren Duft er sich tagtäglich von neuem erfreue.
Unser Prinz liebte natürlich seine Frau und seine Kinder. Sehr sogar, doch das Margaritchen war in sein Leben getreten wie ein das manchmal die Morgensonne macht, wenn sie mit ihren Strahlen unser Leben erfreut, und weder der Prinz, noch das Margaritchen ahnten, dass das Schicksal anderes mit ihnen vor hatte, als sich nur lieb anzulächeln und sich gegenseitig am Anblick des anderen zu erfreuen. Irgendetwas im Leben des Prinzen hatte sich durch das Margaritchen verändert. Er sah dieses Leuchten in ihren Augen, wenn sie ihm zulächelte, und er spürte, wie sein Herz bei jeder dieser Begegnungen mit dem Margaritchen anfing, schneller zu pochen. Er war beunruhigt, denn er kannte diese Art von Gefühlen nur zu gut. Vor vielen, vielen Jahren hatte ihm schließlich so ein Gefühl ja seine Frau und seine Kinder beschert. Deshalb wollte er sich in Acht nehmen und seinen Gefühlen rechtzeitig Einhalt gebieten.
Doch weil dieses Märchen ja ein Märchen von der Liebe ist, und weil Menschen ihren Gefühlen kaum jemals Einhalt gebieten können, wenn sie davon infiziert sind, so geschah auch hier dieses Wunder. Das Wunder mit der Liebe, und der Samen, den womöglich eine Fee in die Herzen der beiden gestreut hatte, der ging jetzt auf und in ihren Herzen fing es an zu grünen und zu blühen, und unser Prinz meinte manchmal, er würde himmlische Chöre vernehmen, so sehr klangen wundersame Melodien des Glücks durch seine Seele. Weil aber niemand von ihrem Glück wissen durfte, so schlugen die Herzen der beiden heimlich füreinander, und unser Margaritchen und der Prinz waren ab dieser Zeit wie verzaubert, sie sahen die Welt, in der sie lebten, nicht mehr, und es schien fast so, als wären sie in einen tiefen Liebesschlaf gefallen ...
Der Zauber der Liebe hatte wohl ihr Dasein mit einem Schlag verändert und, was das Schöne, aber auch das Schreckliche daran war - weder das Margaritchen noch der Prinz konnten etwas gegen dieses übermächtige Gefühl in ihren Herzen tun, und es zog sie zusammen, wie das ansonsten nur zwischen zwei Magneten der Fall ist. Heftig entbrannte die Liebe in ihren Herzen, und an manchen Tagen fühlte sich unser Prinz wie im Paradies, wenn er sein Margaritchen für einige Stunden heimlich entführte und glückselig in ihren Armen lag. Auch das Margaritchen genoss diese Ritte durch die Landschaft der unendlichen Liebe sehr - vorbei an riesigen Bäumen oder entlang tiefblauer Seen und manchmal sogar im Galopp über die lieblichsten Sommerwiesen.
Als sich das Heiß ihres ersten Liebessommers zu Ende neigte, erwachten die beiden aus ihrem Schlaf, und mit Schrecken erkannten sie, wie die Ehe unseres Prinzen in einem fürchterlichen Beben zusammenzustürzen drohte. Mit Scherben, wohin der Blick sich auch wendete. Für unser Margaritchen folgte eine schlimme Zeit, weil sie sich unsterblich in den Prinzen verliebt hatte und nicht mehr aus noch ein wusste, und auch der Prinz war verzweifelt, wollte er doch weder seine Familie noch sein Margaritchen verlieren. In vielen schlaflosen Nächten zerbrach er sich seinen Kopf, um einen Ausweg aus der Misere zu finden. Er sah seine weinenden Kinder und nahm sich vor, seiner Familie zuliebe auf sein Margaritchen zu verzichten. Er befahl seinem Herzen, nicht mehr für dieses Mädchen zu schlagen, damit der Schaden, den die beiden mittlerweile bereits angerichtet hatten, nicht noch größer würde. Doch es half alles nichts! Sein Herz gehorchte nicht, und auch sein Verstand schien unter einem riesengroßen Stein vergraben zu sein. Viele Freunde und Bekannten versuchten, dem Prinzen zu helfen, diesen Verstand wieder freizubekommen - vergebens! Die Liebe zum Margaritchen war stärker, und es schien fast so, als wären die beiden von einer geheimnisvollen Krankheit befallen worden, der sie hoffnungslos ausgeliefert waren.
Oft und oft hatten das Margaritchen und der Prinz bereits versucht, dieser Krankheit zu entkommen, oft und oft saßen sie weinend zusammen und nahmen sich vor, die Gefühle füreinander aus ihren Herzen zu vertreiben. Tagelang gingen sie wie Fremde aneinander vorbei, ohne sich auch nur anzublicken, tagelang sprachen sie kein Wort miteinander und der Schmerz bohrte sich tief in ihre Herzen. Tief und heftig und ihre Herzen brannten wie ein riesiges Buschfeuer, das niemand zu löschen imstande war. Da halfen keine Beschimpfungen von Seiten der Ehefrau, da halfen keine Vorhaltungen von Verwandten und Bekannten, da halfen keine Drohbriefe vom Rechtsanwalt. Da half kein Flehen, da half kein Bitten, und als die Qualen beinahe unerträglich geworden waren, konnten sie nicht mehr anders - sie mussten sich ganz einfach wieder lieben!
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Doch wie ging dieses Märchen von der Liebe schließlich weiter?
Die Tage, Wochen und Monate zogen ins Land, und unser Margaritchen war schwer erkrankt: Ihr Herz, das einst voll von Liebe war, stach und schmerzte sie immer öfter, dunkle Schatten hatten sich unter ihren einst so hübschen Augen breitgemacht, ein schweres Magenleiden peinigte sie, und auch ihre Nerven waren mittlerweile total zerrüttet. Die täglichen Beschimpfungen, die Drohbriefe, die zerstochenen Autoreifen. Margaritchen war am Ende. Eines Tages teilte sie ihrem Prinzen mit, dass sie ihn nun endgültig verlassen müsste, und sie griff zu einem letzten Ausweg: Sie unterzeichnete einen Vertrag, der sie weit weg in ein fremdes Land bringen sollte, und bei Nacht und Nebel fuhr sie der Prinz mit seinem Auto hin zum Flughafen. Diesen letzten Dienst wollte er ihr noch erweisen. Mit leeren Augen stand er wenig später an der Aussichtswarte des Flughafens, der Regen rann über sein Gesicht und verwischte seine Tränen, als der Jet in den Wolken verschwand. In ihm sein Margaritchen, das er nun wohl niemals mehr wiedersehen würde.
Die Ehe unseres Prinzen war trotz alledem nicht mehr zu retten, zu viel Porzellan war bereits zerschlagen worden. Margaritchen war über den "großen Teich" geflogen, und der Prinz lebte seit dieser Zeit einsam und verlassen in Margaritchens einstiger Wohnung. Er hatte alles verloren: seine Frau, seine Kinder, seine Freunde. Einige Bekannte spuckten sogar vor ihm aus, wenn sie ihm begegneten, wussten sie doch nichts von dieser schrecklichen "Krankheit", die beide befallen hatte, und dachten sie doch, dass er einzig und allein wegen eines erotischen Abenteuers mit einer jungen Geliebten seine Familie verlassen hatte. Und es gab kein Margaritchen mehr, das ihn trösten konnte - weit weg in einem fremden Land schlug ihr krankes Herz.
Aber, wie es nun einmal so ist in Märchen, die zumeist mit einem "Happy End" versehen sind: Drei Monate waren noch nicht einmal vergangen, da stand unser Prinz wieder am Flughafen und sein Herz pochte heftig, als sein Margaritchen in der Tür der Empfangshalle auftauchte. Seine Hände zitterten und die Rosen für sein Margaritchen fielen beinahe zu Boden, als sie sich entgegenliefen und einander schon sehr bald ganz fest in den Armen lagen. Täglich hatten sie miteinander telefoniert, täglich hatte unser Margaritchen heiße Tränen vergossen, und täglich war ihr Heimweh noch stärker und noch unerträglicher geworden. Bis die Liebe schließlich siegte, unser Margaritchen ihre Koffer packte, dem fremden Land adieu sagte und Richtung Heimat flog. Verliebt und glücklich genoss der Prinz die nächsten Jahre das Leben an der Seite seiner wunderschönen Prinzessin.
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Die Jahre zogen ins Land, und mit den Jahren war der alternde Prinz doch einigermaßen weit weg zu einer Erscheinung eines echten "Märchenprinzen" geworden, hatte er doch bereits mehr als fünf Jahrzehnte auf seinem Prinzenbuckel zu tragen gehabt. Doch sein Herz schlug nach wie vor für sein hübsches und junges Margaritchen. Und doch - das einst riesengroße Gefühl für sein Margaritchen hatte mit den Jahren vor allem deshalb ein bisschen gelitten, weil es ihm irgendwann gelungen war, seinen Verstand wieder unter dem Stein hervorzuzerren, der ihm vor Augen führte, wie es tatsächlich um ihn stand. Und das Margaritchen? Kämpfte sie womöglich auch mit ihren Gefühlen? Sollte sie beim alten Prinzen bleiben, der sich noch immer nicht scheiden lassen wollte - oder sollte auch sie ihrem Verstand gehorchen und sich einem erfolgreicheren Prinzen zuwenden? Wunderschön war sie ja noch immer, und die Männer lagen ihr nach wie vor zu Füßen ...
Wie endete dieses Liebes-Märchen?
"Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie wohl noch heute", so enden die meisten Märchen. Ja, ja, die beiden leben auch heute noch. Doch eines Tages oder, besser gesagt, im verflixten siebenten Jahr ihres Zusammenseins zogen tatsächlich Gewitterwolken an ihrem Liebeshimmel auf, und als unser Prinz eines Abends müde von der Arbeit nach Hause kam, da setzte sie sich neben ihn, reichte ihm die Schlüssel zur Wohnung und sagte: "Entschuldige, wenn ich für immer von dir gehen muss - ich hab einen neuen Prinzen gefunden!"