Als Erzieher hatte ich die ersten Schwierigkeiten überwunden, und es ging mir wie einem Autofahrer: Mit jeder "Fahrstunde" steuerte ich meinen Wagen besser durch die Gegend. Ich war sicherer geworden in meinem Auftreten und routinierter, was den Umgang mit meinen mir Anvertrauten betraf. Ich fühlte mich nach gut einem Jahr bereits stark genug, um meinem Chef nicht nur bei unseren Besprechungen zuzuhören sondern ihm hin und wieder auch kontra zu geben.
Meine Gruppe bestand aus zehn Burschen im Alter von 14 bis etwa 18 Jahren. Durchwegs Burschen mit einem durchwachsenen bis traumatischen Kindheitsalltag - was vor allem die Zeit vor ihrer Eingliederung ins SOS Kinderdorf betraf. Erst heute ist mir bewusst, was es heißt, derart belastet ins Leben geschickt, oder besser gesagt, gestoßen zu werden.
Der Vater unbekannt, die Mutter womöglich eine, die an der Flasche hängt. Oder beide Eltern verunglückt und das Kleinkind in Kinderheimen herumgereicht oder den Eltern von der Fürsorge entzogen, weil die Familiensituation keine gedeihliche Entwicklung zuließ und das Kind täglich mehr Hiebe als Liebe von seinen Erzeugern abbekam. Jugendliche, die schon als Babys keine geordnete Lebenssituation vorfanden oder andererseits welche, die in ihrer Kleinkindzeit bereits in den verschiedensten Kinderkrippen herumgereicht wurden und eigentlich niemals das Gefühl von Nestwärme verspüren konnten. Um nur einige Beispiele anzuführen.
Wie soll sich so ein Mensch günstig entwickeln können? Dazu kamen in den meisten Fällen entsprechende Erbanlagen. Wen wundert es da, dass manch einer stotterte oder ein Alkoholproblem hatte, weil in dieser schwierigen Zeit des Erwachsen-Werdens all die unguten Erlebnisse, die so mancher in seiner frühesten Kindheit miterleben musste, in ihm zu gären begannen und sich ein Ventil zum Ausbrechen suchten.
Ich betreute diese Burschen, besuchte die Lehrherren in den Firmen und versuchte eventuell aufgetretene Schwierigkeiten an den Lehrstellen mit Gesprächen bei den Chefs möglichst wegzuplanieren. Ich war verantwortlich für Kleidung und Aussehen, natürlich auch für ein halbwegs akzeptables Verhalten nicht nur bei Tisch und im Umgang mit den anderen im Haus wohnenden Jugendlichen. Ungefähr vierzig an der Zahl.
Das ergab genug Konfliktstoff, und wir Erzieher hatten alle Hände voll zu tun, um einen möglichst gangbaren Weg des Zusammenlebens für uns alle zu ermöglichen. Wenn ich heute in ganz normale Familien schaue und manchmal miterlebe, welche Schwierigkeiten da und dort in dieser Altersstufe auftreten, so grenzt es für mich beinahe an ein Wunder, wie wenig echte Probleme es eigentlich bei uns im SOS-Kinderdorf Jugendhaus gab. Ein Garant dafür war ganz bestimmt unser Leiter, kam er doch selbst aus einer nicht allzu rosigen Familiensituation und verfügte deshalb neben seiner langjährigen Berufserfahrung auch über jenes Maß an Fingerspitzengefühl, um eventuell auftretende Schwierigkeiten frühzeitig zu erkennen und geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Schwierigkeiten gab es nicht nur mit den Burschen, Schwierigkeiten gab es auch mit uns Erziehern. Vor allem wenn wir Maßnahmen setzten, die wenig erfolgversprechend waren. Da musste er ganz einfach eingreifen und seine Hand schützend über die heranreifenden Insassen des Jugendhauses halten. Wie ein Vater, weise und verständnisvoll.
Ich verstand damals noch nicht, warum diese Burschen ganz einfach nicht so sein konnten, wie ich mir das immer wünschte. Ihre schwierige Lebenssituation, in die sie oftmals hineingeboren wurden, forderte eben ihren Tribut. Ich forderte zu viel für mich Selbstverständliches von ihnen, was ihr Verhalten betraf und ihre Arbeitsmoral. Ich konnte nicht verstehen, dass der eine oder andere manchmal ganz einfach nicht die Kraft aufbrachte, in die Firma zu gehen, um sich dort den vielfältigen Schwierigkeiten zu stellen oder sich von diesem oder jenem Erwachsenen niedermachen zu lassen. Das bringt nicht einmal jeder "normal" Heranwachsende zustande.
Ich war in meinem Erzieher-Dasein noch viel zu unerfahren und forderte ein gutes Funktionieren in jeder Hinsicht. Bekamen die Jungs doch ein wunderbares Essen, dazu Bekleidung und Taschengeld. Wir organisierten Ausflüge zum Schifahren an den Wochenenden, fuhren zum Reiten oder machten die eine oder andere Bergwanderung. Wir planten und organisierten Urlaubswochen, fuhren Campen ans Meer. Wir spielten Fußball auf unserem eigenen Fußballplatz gegen andere Jugendmannschaften, die wir dazu einluden. Wir veranstalteten Feste und Feiern im Jahresablauf und versuchten, die Geburtstage unserer Jugendlichen gebührlich zu begehen. Wir schmückten zu Weihnachten einen riesigen Baum in unserer Halle und die Burschen versuchten mit eigenen Instrumenten oder diversen Songs Stimmung ins Haus zu bringen. Musik-Anlagen gab es in jedem Gruppenraum ebenso wie Fernseher und in jeder Ecke des Hauses standen Kisten mit Blumen und Gewächsen.
Alles in allem handelte es sich um ein wunderschönes Jugendhaus mit nett eingerichteten Zimmern für die Jugendlichen, geschmackvoll gestalteten Gruppenräumen, einer riesigen Eingangshalle, Fotolabor, Turnsaal. Dazu einer gediegenen Küche mit einem wunderschönen Speisesaal. Außerdem mit durchaus nettem Personal. Da war doch meines Erachtens für alles bestens gesorgt und das wären doch die besten Voraussetzungen für ein gedeihliches Heranwachsen.
Ein in Geborgenheit, Liebe und mit einer gehörigen Portion Urvertrauen Heranwachsender kann wahrscheinlich niemals verstehen durch welch dunkle Täler ein Mensch schreiten muss, sofern er von frühester Kindheit an genau mit dem Gegenteil behaftet ist. Es ist vielleicht so ähnlich wie bei einer Expedition in die Polargebiete. So etwas kann man im Fernsehen mitverfolgen, wenn die Expeditionsteilnehmer mit rotgeränderten Augen den Schneestürmen trotzen, das Eis an den Bärten der Männer hängt und ihnen ihre Arme und Beine brennen vor Kälte und Schmerz, und sie des nachts in den mitgebrachten Zelten liegen und sich die Gliedmaßen reiben, damit sie nicht absterben, während der Wind am Zelt reißt und es wegzublasen droht.
Doch nur der weiß wirklich um die Gefühle dieser Menschen, der alles am eigenen Leib verspürt hat. Ich hatte zwar in meiner Erzieher-Ausbildung von schwierigen Seelen-Zuständen vernommen, doch ich war ganz einfach noch niemals selbst in eine solche Situation geraten. Mir war es in meinem Leben immer viel zu gut gegangen, als dass ich auch nur annähernd eine Ahnung von beständiger seelischer Not hätte haben können, wie das meine Jungs ganz bestimmt manchmal schmerzlich in sich verspürt haben werden. Ich mochte sie alle, doch ob ich sie auch jemals verstanden hab? Eher nicht.
Heute weiß ich besser Bescheid, ich hab ja mittlerweile selbst einige Täler des Grams durchwandert, und ich muss hier und heute Abbitte leisten für so manchen erzieherischen Lapsus, der mir trotz bester Vorsätze ganz bestimmt immer wieder einmal passierte. Und ich gehe hier ganz bewusst soweit, all die uns Anvertrauten zu bewundern, wie sie dennoch einen halbwegs gangbaren Weg durch ihr Dasein fanden, auch wenn der eine oder andere irgendwann in seinem Leben Schiffbruch erlitten haben wird.
Schiffbrüchige gibt es in unserer Wohlstandsgesellschaft ja Tausende, und die größte Insel würde wohl zu klein sein, um alle diese im Leben Gescheiterten aufnehmen zu können. Doch es gibt auch die andere Seite, wo Menschen mit widrigsten Umständen fertig werden und am Ende auf ein einigermaßen gelungenes Dasein zurückblicken können.
Manchmal kann ich nicht anders und mich beschäftigt diese Frage: Ist unser Leben auf Zufälle aufgebaut oder liegt es allein in unserer Hand, wie wir unser Dasein gestalten? Doch je öfter und länger ich darüber nachdenke desto mehr kommt bei mir die Vermutung hoch, dass nicht wir allein unser Lebensschiff steuern, sondern dass uns unser Schicksal bereits mit in die Wiege gelegt wird. Noch etwas: Manche Menschen taumeln von einer Glücksträhne in die andere - das sind womöglich "Sonntagskinder". Bei anderen sieht man Scherben, so weit das Auge reicht. Das ist das Bedauerliche an der Sache!
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In all diesen Fällen dürfte es sich womöglich - wie bei manchen immer wieder reparaturanfälligen Autos - um echte "Montagskinder" handeln.
Was mich besonders freut: Wenn ich auch heute noch nach vielen Jahren ab und zu etwas von meinen mir ehemals Anvertrauten höre. Wenn zum Beispiel der Edi mir einen lieben Weihnachtsgruß per e-mail schickt und die besten Wünsche dazu. Er ist einer von denen, die es wunderbar geschafft haben. Wie auch der Raimund, der Martin, der Klaus ...