Entspannt saß ich im Bus und genoss das Brummen des Motors, das beim Berganfahren an mein Ohr drang. Vor zwei Stunden hatten meine Schritte noch im Schnee geknarrt, doch jetzt um die Mittagsstunde empfand ich die Temperatur beinahe schon als angenehm.
Als der Bus bei der Bergstation angelangt war und wir Schifahrer ausstiegen, kam ich mir vor wie in einer Märchenwelt: Berge von Schnee türmten sich rund um den Parkplatz und die Schneekristalle auf den Bäumen glitzerten im Sonnenlicht. Beeilte ich mich ansonsten immer beim Anziehen meiner Schi, um möglichst als einer der ersten vom Bus weg auf die Piste zu kommen, weil ich damit weitgehend freie Fahrt nach unten hatte, so ließ ich mir diesmal bewusst Zeit. Ich stieg in die Schi, fuhr einige Meter zum Pistenrand und beobachtete die Bergdohlen, wie sie sich vom Wind durch die Luft treiben ließen, und ich verspürte so etwas wie Sehnsucht in mir, auch einmal so dahinschweben zu können. Das war natürlich Wunschdenken, fliegen würde ich niemals können, doch ich hatte etwas ähnlich Aufregendes vor. Ich wollte die Gunst der Stunde nützen und mit meinen neuen Rennschiern zu Tal rasen.
Die mit mir Angekommenen waren bereits aus meinen Augen verschwunden, während ich am Pistenrand wartete, wollte ich doch ganz sicher sein, dass die Strecke für mein Vorhaben auch wirklich frei wäre.
Nach ungefähr zehn Minuten machte ich mich für die Abfahrt bereit. Teilstücke war ich schon immer ohne zu Schwingen durchgebraust, aber die ganze Strecke in der Hocke durchzufahren, das hatte ich noch nie gewagt. Aus dem Tal drang das Läuten der Mittagsglocken an mein Ohr, ich war bester Laune und fühlte mich prächtig. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass schon sehr bald die kleinste dieser Glocken für mich hätte läuten können.
Wenn die Pistenverhältnisse schlecht waren und sich viele Schifahrer auf den Hängen tummelten, dann fuhr ich kontrolliert und vorsichtig - schnell fuhr ich nur dann, wenn es die Umstände zuließen und ich keine anderen Schifahrer gefährden konnte. Heute musste ich besonders aufpassen, hatte ich doch nagelneue Rennschi an den Beinen. Die wollte ich testen, und damit würde ich wohl um einiges schneller unterwegs sein, als mit meinen normalen Schiern.
Jetzt war die Strecke bestimmt schon frei, die nächsten Schifahrer brachte der Bus erst in einer halben Stunde zur Bergstation herauf. Ich überprüfte die Bindung, rückte die Brille zurecht und stieß mich kraftvoll ab. Das erste Stück war nicht allzu steil und ich genoss es, in der Hocke dahinzuflitzen. Wie auf einer Wolke schwebte ich über den Schneeteppich, kein Mensch war weit und breit zu sehen. Wenig später folgte ein kurzer Steilhang und ich fuhr schnell genug, um über das anschließende Flachstück mühelos hinwegzugleiten. Die Schi liefen gut und ich konzentrierte mich bereits auf den nächsten Streckenabschnitt - einen langen, steilen Hang.
"Nur jetzt keinen Fehler!", hämmerte ich mir ein, während ich den Hang hinabbrauste.
Die Fahrt wurde rasanter und ich spürte mein Herz bis zum Hals klopfen.
"Das geht nicht gut, du wirst zu schnell! Leg einen Schwung ein!", schrie mir mein Verstand zu, doch eine andere Stimme rief: "Du wolltest heute im Schuss durchfahren - also fahr durch! Oder bist du etwa zu feige?"
Während diese inneren Stimmen um meine Gunst kämpften trieb mich die Schwerkraft den Hang hinunter und ich richtete mich aus meiner Hocke etwas auf. Der Fahrtwind pfiff in meinen Ohren und Angstschauer jagten über meinen Rücken, als ich im steilsten Teil der Piste dahinschoss. Ein Sturz bei diesem Tempo und ich würde wohl im Krankenhaus landen. Jetzt noch das kurze Flachstück und dann der Sprung über die Kante. Mit einem Affenzahn raste ich auf die Kante zu, hob ab und - mein Herz blieb vor Schreck beinahe stehen.
Zwanzig, dreißig Meter flog ich durch die Luft. Haarscharf vorbei an einem Pistengerät, das genau an dieser unübersichtlichen Stelle nach oben fuhr. Zitternd stand ich wenig später am Pistenrand. Ein Meter weiter links und ich wäre wohl am Pistengerät zerschellt ...
***
Glück, Zufall, Schicksal? - Wer weiß das schon genau