"Eine gute Idee. Dieses Prachtwetter sollten wir nützen. Wohin willst du gehen?"
Der Alois zeigt mit der Hand zum wenige hundert Meter vor uns aufragenden Bergriesen und sagt: "Was hältst du vom Nord-Ost-Grat? Das wäre doch was für uns."
Ich sehe das Kreuz auf dem Gipfel und antwortete: "Wenn du meinst."
Womit die Sache beschlossen war. Meine Frau hatte zwar Bedenken und meinte wir sollten lieber auf dem Normalweg hinaufsteigen, doch mein Schwiegervater als Chef der örtlichen Bergrettung zerstreute ihre Bedenken und sagte, dass die Nord-Ost-Route nicht allzu schwierig wäre. Wir müssten uns nur genau an die Markierung halten, dann gäbe es sicher keine Probleme. Er bat mich noch ein Stück Drahtseil zum Gipfelkreuz mitzunehmen, weil ein Seil durchgerostet wäre und wir das neue Stück anbringen sollten.
Im Morgengrauen waren wir am vereinbarten Treffpunkt und nach einer kurzen Begrüßung machten wir uns an den Aufstieg. Zuerst führte der Pfad durch einen Wald und außer unseren Atemzügen war nichts zu hören. Nach etwa einer Stunde waren wir am Fuß des Berges angelangt. Wir überquerten eine Geröllhalde und hatten schon bald den Einstieg in unsere Route gefunden. Jetzt wurde der Pfad steiler und manchmal mussten wir bereits unsere Hände zu Hilfe nehmen. Grau-weiße Nebelschwaden erhoben sich rings um uns und eine dichte Nebelschicht verdeckte die Sonne.
"Das wird ein Supertag, da drüben wird's schon blau", sagt der Alois erfreut.
Wir machen kurz Rast, stärken uns mit einigen Bissen und trinken einige Schluck Tee. Mein Blick gleitet am Fuß des Berges entlang, der von einem Latschenband gesäumt wird. Dann schaue ich nach oben und sehe die aufragende Wand, an deren Unterseite wir uns befinden. Plötzlich spüre ich die ersten Zweifel in mir aufkommen, ob ich es auch schaffen würde, da hinaufzukommen, wo ich doch alles andere als ein Extrembergsteiger bin - bei meinen Bergtouren habe ich kaum jemals den Normalweg verlassen.
"Was meinst, wird's schwer werden?"
"Glaub ich nicht", sagt mein Freund und zerstreut mit seinem Optimismus meine Bedenken.
"Gehst du voraus?"
"Gern", sagt er und übernimmt die Führung.
Nach einigen Minuten, in denen unser Weg steil nach oben führt, bricht die Sonne durch die Nebeldecke und erwärmt den Tag. Wir sind guter Dinge und kommen zügig voran.
"Aufpassen! Steinschlag!", ruft der vor mir kraxelnde Lois und wir drücken uns so nah als möglich an den Fels. Pfeifend sausen einige Steine an uns vorbei in die Tiefe. Mein Puls schnellt in die Höhe, als ich den nach unten stürzenden Steinbrocken nachblicke.
"Wenn dich so einer trifft, bist weg", rufe ich ihm zu.
"Die Gams, die Luder", sagt er und blickt nach oben. Dann deutet er mir, weiterzukommen.
Mein Freund hält sich an die Markierung und steigt mit sicheren Tritten dahin. An manchen Stellen müssen wir bereits richtig klettern. Nur mühsam kann ich seinem Tempo folgen, ich atme schwer und der Schweiß tropft von meiner Stirn. Dennoch genieße ich jeden Schritt in der von der Sonne beschienenen Wand. Diese Freude vergeht mir jedoch, als wir die Süd-Route verlassen und der Steig um den Grat herum in den Schatten führt.
Er: "Schau, hier im Schatten liegt schon Schnee."
Gleich danach sehe auch ich die weißen Flecken, die vereinzelt das Gestein bedecken.
"Schaut nicht gut aus" und Sorgenfalten treten auf meine Stirn.
"Das bisserl Schnee darf uns nichts ausmachen, wir haben ja gute Schuhe an", sagt Alois und weiter: "Rutschig wird's werden, wir müssen halt gut aufpassen!"
Genossen wir bis jetzt die Strahlen der Oktobersonne, so wird es nun mit einem Mal dunkler, kühler und durch die Schneeflecken glatter, gefährlicher. Einige Male finden meine Füße nur noch spärlich Halt und die Angst kriecht spürbar in mir hoch. Sogar mein sonst so zuversichtlicher Bergkamerad flucht bereits mehrmals, wenn er nach der Markierung sucht und in der immer steiler werdenden Wand kaum noch vorankommt.
Etwas später: "Verdammter Mist, ich find keine Markierung mehr. Der Schnee verdeckt alles."
Alois hängt über mir in der Wand und sucht vergeblich nach den blau-weißen Streifen.
"Es kann nur da hinaufgehen. Am besten, wir halten uns links zum Grat hin."
Ich sage nichts und verlasse mich voll auf ihn. Er wird es schon schaffen, denke ich mir. Ich kenne ihn von zahlreichen Schirennen, die wir gemeinsam gefahren sind. Ein echter Siegfahrer. Das wäre das erste Mal, dass der Alois nicht mehr weiter wüsste. Und er findet weiter - anscheinend jedoch nicht mehr auf der richtigen Route, denn etwa fünfzig Meter weiter oben ist es plötzlich so weit und er sagt: "Wir haben uns verstiegen. Schau, da oben wird's schon fast überhängend, da kommen wir nicht mehr weiter!"
Ich stehe auf einem Felsvorsprung und blase den Hauch des Atems in meine bereits starren Finger. Hatte ich bis jetzt gehofft, dass wir doch noch durch die Wand zum Gipfel kommen könnten, so verlässt mich nun schlagartig der Mut. Ich schaue die Felswand hinunter und fühle instinktiv, dass es für mich kein Zurück geben wird! Den Tod vor Augen, verfluche ich den Moment, in dem ich mich leichtfertig für diese Tour entschieden habe. Wie mit einer riesigen Faust packt mich die Angst. Das ist also das Ende!? Nie mehr würde ich sie sehen und meine Töchter müssten jetzt wohl ohne Vater aufwachsen.
"Wir müssen zurück!"
Die Stimme meines Freundes klingt energisch, als er mich aus meinen Gedanken reißt.
"Ich kann nicht! Beim ersten Schritt hinunter bin ich weg! Ich spür's ganz deutlich!"
Angstzustände kannte ich ja bereits aus verschiedenen Situationen meines bisherigen Lebens, doch die Angst, die mich jetzt erfasste, lähmte mich total, ich zitterte am ganzen Körper, meine Knie wurden weich und meine Zähne klapperten.
Der Alois klettert die paar Meter zu mir herab, und als er neben mir in der Wand Halt findet, sagt er: "Wir schaffen's! Reiß dich zusammen! Es gibt kein Aufgeben! Komm, ich häng dich am Seil an."
Er bindet mir das mitgenommene Drahtseil um mein Rucksackgestell und behält das andere Ende in seiner Hand. Damit kommt ein Teil meiner Sicherheit in mich zurück ...
***
Wie wir es schließlich doch noch geschafft haben, die schneebedeckte Wand wieder hinunterzuklettern, das ist mir noch heute ein Rätsel. Immer wieder sind wir ausgerutscht an der glatten Felswand, doch irgendwie gelang es uns, wieder ein paar Meter hinunter zu rutschen und einen Halt zu finden. Am Seil vom Alois glitt ich beinahe schon in Trance die Wand hinunter.
Erschöpft, mit teilweise zerfetzten Hosen und blutigen Händen standen wir nach diesem Horrorabstieg, für den wir Stunden gebraucht hatten und bei dem uns der Tod auf Schritt und Tritt begleitet hatte, wieder am Beginn des Klettersteiges. Dann setzten wir uns auf einen Felsblock und die Nachmittags-Sonne erwärmte mich irgendwie. Ruhig klopfte mein Herz und eine tiefe Dankbarkeit durchzog mich.
Mein Blick glitt über das kantige Gesicht meines Freundes und ein schwaches Lächeln zog über mein Gesicht. Ich blickte hinauf zum Blau des Himmels und ich sah die Bergdohlen wie sie beinahe schwerelos dahinsegelten.
***
Wir hatten uns verstiegen, so wie man sich manchmal im Leben "versteigt" und sein Leben aufs Spiel setzt.
Unsere Lebensuhr? Die war anscheinend noch nicht an dem Punkt angelangt, wo sich die Zeiger nicht mehr weiterdrehen ...